„Wo meine Brüder hingehen, gehe ich auch hin“
Vor dem Sturm der amerikanischen Autorin Jesmyn Ward, die aus Mississippi stammt, ist ein unfassbar gutes Buch. Langsam, ganz langsam baut sich eine düstere, unabwendbare Bedrohung auf – und obwohl sich alles um vermeintliche Alltagsprobleme dreht, um eine unerwiderte Liebe, Hunger, die Alkoholsucht des Vaters, ist bald schon spürbar, dass es in Wahrheit um Leben und Tod geht. Ihr Haus bietet Esch und ihrer Familie keinen Schutz, doch es gibt nichts, wohin sie gehen könnten. Jesmyn Ward hat einen kraftvollen, intensiven, sehr eindringlichen Roman geschrieben, der mich mit seinem Strudel erfasst, mitreißt, hinabzieht. Ich-Erzählerin Esch ist stark, mutig, abgebrüht, schwarz – und bis an die Schmerzensgrenze verliebt. Die Einsamkeit frisst an ihrer Elefantenhaut, und dass Manny nur Sex mit ihr will und ansonsten nicht einmal ihren Blick erwidert, ist unerträglich. Mein Herz fliegt ihr zu, dieser kleinen, zähen Heldin, die wie alle anderen in der Familie genau weiß, dass sie nur überleben kann, wenn alle zusammenhalten.
Die Geschwisterbande sind wichtig und unerschütterlich in diesem grandiosen Buch über Verlust, Angst, Armut und die Hilflosigkeit des Menschen angesichts von Naturkatastrophen. Sprachlich gesehen hat Jesmyn Ward eine wahre Meisterleistung zu Papier gebracht, hat ihre Sätze poliert, sodass sie in der sengenden Mississippi-Sonne glänzen und funkeln wie Miniaturschätze. Wunderbar, klug, traurig, spannend, schmerzhaft und poetisch – Vor dem Sturm solltet ihr unbedingt gelesen haben.
Jesmyn Ward: Vor dem Sturm. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker. Antje Kunstmann Verlag 2013, 320 Seiten, 21,90 Euro. Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.