„Eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ – so spezifizierte Goethe einst die Gattung Novelle. Und mit eben dieser Ungehörigkeit haben wir es bei Rodrigo Rey Rosa zu tun. Skandalös und einzigartig zugleich ist seine Geschichte. Der Erzähler, ein bekannter, guatemaltekische Schriftsteller begleitet seinen Vater zu einer Reitveranstaltung, die zu Ehren Don Guido Carrións Geburtstag organisiert wird. Nur Männer sind erwünscht und damit meint die von Machos geprägte Gesellschaft die wahren Männer! Männer mit Waffen unterm Arm, Cowboyhut auf dem Kopf, Interesse am Pferd, Geld und Freunde am Alkohol. Der eingeladene Autor, ein sehr genauer Beobachter, lässt die Gästeschar – zugleich Spiegelbild der Gesellschaft – an sich vorübergehen:
„Die Stallmeister trugen alle dasselbe, eine schlechte Imitation der Festtagskleidung andalusischer Bauern mit Hut aus Córdoba, Stiefeln aus Jerez und so weiter – veredelt mit der einen oder anderen bei uns üblichen Verzierung wie den traditionellen geflochtenen Bändern oder den Quasten aus Todos Santos. Die kleinen Pseudoandalusier wirkten wie von der Maya abstammende Bauern und sahen neben hohen feurigen Rössern noch kleiner aus. […] Das war also die Basis der Pyramide, sagte ich mir.
Im Laufe der Veranstaltung kommt es plötzlich zu einem Tumult. Waffen und Muskelkraft der unzähligen Bodyguards sind sofort einsatzbereit, um Schlimmeres zu verhindern. ES brennt! Der hochdotierte Zuchthengst Duro II kommt dabei ums Leben. Eine aufgelöste Reiterin sucht in Folge dessen das Weite und der Stallbursche wird festgenommen. Soweit der Einstieg. Alles scheint klar. Der Hengst wird (zu) schnell vergraben und die Gäste können nach einiger Vernehmungen wieder gehen.
Doch noch am selben Tag wird der Bestseller-Autor von einem Anwalt angesprochen. Dieser lässt erkennen, dass mehr hinter den Ereignissen steckt und verspricht eine großartige Story rund um Don Guido Carrión und seinen Clan. Nur einen Tag später fahren die beiden zurück zum Anwesen, um mit der deutschen Reiterin Barbara zu sprechen. Im Laufe des Aufenthalts auf der Ranch entwickeln sich die Geschehnisse plötzlich sehr rasant und auf groteske Weise. Es erscheint der Enkel Don Guido Carrións, der sowohl die beiden Gäste als auch seinen Vater und Großvater in große Verlegenheit bringt. Einen Skandal, einen Tod und eine Flucht später resümiert der Erzähler:
„Um die Mittagszeit kam ich mit dem Autobus in der Hauptstadt an. (Ich glaube, ich war zum ersten Mal glücklich, hier zu sein, oder zumindest zum ersten Mal seit meiner Kindheit.) Müde und schmutzig, aber froh, dachte ich. Beim Obelisken nahm ich das Taxi, das mich zum Apartmenthaus brachte, in dem ich lebe.“
Auf 115 Seiten entwickelt Rodrigo Rey Rosa eine rasante Geschichte, für die andere Schriftsteller mehrere hundert Seiten benötigt hätten. Die Komplexität und Dichte der Novelle sind atemberaubend und so unerhört die Geschehnisse auch klingen mögen, so sind sie am Ende doch glaubhaft. Seine Charaktere sind nur skizziert, entbehren Tiefe und Entwicklung. Schemenhaft Figuren, die aber die Fantasie des Lesers wecken und Gedanken fliegen lassen. Seine Sprache ist einfach aber direkt und so ist „Stallungen“ eine spannende, anspruchsvolle Unterhaltung, die einen flüchtigen aber intensiven Blick in die lateinamerikanische Gesellschaft zulässt und dem Leser kurzweilig dem Atem nimmt.
Rodrigo Rey Rosa: Stallungen. Aus dem guatemaltekischen Spanischen von Elisabeth López-Semeleder. Septime Verlag 2014, 114 Seiten, 16,40 €.
Ich wusste gar nicht, dass seine Literatur schon ins Deutsche übersetzt wurde. Im Spanischstudium haben wir in einem Seminar mal seine Kurzgeschichten gelesen, die ich großartig fand. Danke für die Erinnerung, ich werde die Geschichten mal wieder rauskramen!
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