Sarah Schmidt: Eine Tonne für Frau Scholz – die Hotlist 2014

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Seit Anfang September stehen die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen aus diesem Jahr fest. Was sich hinter der Hotlist verbirgt, hat uns kürzlich Axel von Ernst, einer der Initiatoren, in einem Interview erzählt. Da die „Hotlist 2014“ auch in diesem Jahr eine interessante Auswahl an schönen Büchern vereint, möchten wir erstmalig alle Bücher auf unserem Blog vorstellen. Daher findet ihr ab heute in unregelmäßigen Abständen Rezensionen zu den ausgezeichneten Werken. Den Anfang macht die Klappentexterin mit dem Buch Eine Tonne für Frau Scholz von Sarah Schmidt. Nun wünschen wir euch viel Spaß beim Entdecken der wunderbaren „Hotlist 2014“-Schätze!

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Eine schiefe Möhre, die trotzdem schmeckt.

sarah_schmidt_eine_tonne_für_frau_scholz2Jetzt werden die Tage wieder kürzer und die Gesichter der Menschen länger. Aber ich habe ein wunderbares Gegenmittel gefunden. Welch Wunder – es ist ein Buch! Und zwar eines von der Sorte, bei dem man den Ärger um sich herum vergisst, ihn einfach weglacht. Und das, obwohl es in der Geschichte mächtig rumort. Nur auf den ersten Blick ein Paradox, denn der feinen Feder Sarah Schmidts ist es zu verdanken, dass Eine Tonne für Frau Scholz eine fantastische Wunderwaffe gegen jeden Trübsinn gleichkommt.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Nina Krone. Sie ist eine in die Jahre gekommene Kreuzberger Revoluzzerin, die in den Achtzigern Häuser besetzt hat, gegen Thatcher und Kohl und für Punkrock war. Diese Widerstandsgruppe glaubt nicht an die Rentenversicherung und ist davon überzeugt, „dass in den kommenden Jahren alles zusammenbrechen wird.“ All das frustriert Nina und macht sie wütend, weil „sie so klein geworden sind“. Jetzt lebt sie mit Fritz in einem Haus, in dem die Zeit still zu stehen scheint, das heruntergekommen ist und in dem die Bewohner immer noch mit Kohle heizen. „Das Haus steht wie ein mürbe gewordener Fels zwischen anderen mit frisch gestrichenen Fassaden und ausgebauten Dachgeschoss-Eigentumswohnungen.“ So ist ihr Wohnreich auch eine Sehenswürdigkeit für Touristen und gleichermaßen anziehend für Reporter dieser Welt: „Die Journalisten bestaunen uns, als wären wir vorm Aussterben bedrohte Tiere.“ Schon auf der ersten Seite grinse ich und ahne bereits, dass dies ein bemerkenswertes Buch ist. Ein Gefühl, das sich von Seite zu Seite verfestigt: Dieser Roman bellt nicht in lauten Töne, sondern ist wunderbar einfach und leicht erzählt. Mit viel Wortwitz und schönen Pointen, er begeistert mit klugen Sätzen, die jede Schwere wie einen Ballon gen Himmel steigen lässt.

Im Mittelpunkt steht die Familie Krone. Nun, ganz so unkompliziert ist es auf dem zweiten Blick wiederum doch nicht. Ich muss mich korrigieren – hier hängen kleine Konflikte in der Luft, wie lästige Wollmäuse fliegen sie urplötzlich ins Blickfeld. Nina Krone ist Mitte Vierzig und gerade ein bisschen unruhig. Was noch charmant ausgedrückt ist. Sie erinnert vielmehr an eine meckernde Ziege. Nina selbst sagt, sie vermisse das Nörgeln in ihrer Familie. Seit ihre Mutter verstorben ist und die Kinder aus dem Haus sind, ist es ihr zu still geworden. Also schimpft sie lieber mit sich selbst und „ärgert sich über das Verhalten von anderen“. Das Kreuzberger Haus bietet ihr tausend Gelegenheiten, um innerlich nach Lust und Laune zu keifen. Wie Miss Marple belauscht sie an der Wohnungstür die belanglosen Unterhaltungen der älteren Bewohner, die sie alle unsinnig findet und am liebsten kommentieren möchte. Dafür fehlt ihr allerdings der Mumm. Also lauscht sie still weiter und hat eines Tages die zündende Idee, wie sie ihrem Ärger Luft machen kann. Sie beschließt der alten, frustrierten Frau Scholz dabei zu helfen, die Kohlen aus dem Keller zu holen. Gesagt, getan. Doch statt Freundlichkeit erntet Nina von Frau Scholz nur barsche Gegenworte. Nina kümmert das wenig – sie hält an ihrem Projekt fest wie an einem schweren Kohleeimer. Das macht sie nicht aus lauter Menschenliebe, sondern aus egoistischen Gründen: Die Nachbarschaftshilfe verschafft ihrem Seelenfrieden eine große Portion Balsam und sie glaubt, auf diese Weise ein besserer Mensch zu werden.

So entwickelt sich im Laufe der Zeit zwischen den beiden Frauen eine hinreißend-komische Beziehung. Frau Scholz lässt Nina nicht vor der Tür stehen und lädt ihre persönliche Kohlenträgerin zum gemeinsamen Kaffee- und Schnapstrinken ein. Die Dialoge zwischen den Frauen strotzen vor Feuer und Schärfe, als wenn beide Chili gefuttert hätten. Hier treffen nicht nur zwei verschiedene Generationen, sondern zwei Welten aufeinander, die sich anziehen und gleichzeitig abstoßen. Zwei Menschen, die sich erst nicht viel zu sagen haben. Doch nach zahlreichen geleerten Schnapsflaschen öffnen sie ihre Fenster und lassen die andere hineinschauen, aber nur kurz, wie die Sonne, die an einem wolkenreichen Tag durchblinzelt und flüchtig ins Zimmer der Seele lacht.

Auf der anderen Seite klafft in Ninas Familienleben eine offene Wunde. Nachdem ihr Sohn Rafi berichtet hat, dass er mit seinem neuen Freund ein Kind zusammen mit einem lesbischen Paar haben will, explodiert Nina. Denn ist da ist auch noch ihre beruflich hoch engagierte Tochter Ella, die sich von der Filmindustrie mit Haut und Haaren vereinnahmen lässt. Einerseits bewundert Nina ihre Tochter, die trotz aller Ausbeutung weiter ihre Ziele verfolgt. Andererseits ist sie entsetzt über diese ausbeuterische Arbeitswelt. Und in alldem schlittert Nina durch ihre eigene Sinnkrise, verkriecht sich eines Tages im Bett, weil sie keine Lust mehr auf ihren Job hat. Sogar eine Panikattacke ereilt sie.

Sarah Schmidt erzählt von einer unzufriedenen Frau – und das auf höchst tragikomische Weise. An einer Stelle spricht sie vom „Wohlstandsproblem einer Frau mittleren Alters“. Nina spürt in sich diesen bösen, dunklen Klumpen, der sich ausweiten möchte, und ist überdies zornig. So richtig fies zornig, dass es mich fast umhaut, als ich lese: „Ich starrte voller Hass in die Gesichter und hätte gerne einen von ihnen verprügelt, ihm einfach so, ohne einen Grund zu nennen.“ Trotz solch aggressiver Gefühle mag ich diese eigenwillige Frau. Sie ist wie eine schiefe Möhre, die sich nur schwer zurechtschneiden, aber trotzdem gut essen lässt. Ich kann einfach nicht aufhören, ihr zu folgen. Schätze ich doch den grandiosen Humor, der dem Frust einen Tritt gegen das Schienbein verpasst. Die Autorin ist nah an den Menschen mit ihren Gedanken, den Fallstricken des Lebens, den Wünschen und den Konflikten. So wirft mir das Buch ein Grinsen ins Gesicht und zieht bisweilen tiefe Seufzer aus meinem Hals. Im Gros überwiegt – trotz aller Dramatik – ein überaus beglückendes Lesegefühl. Die Autorin zeigt, dass man mit ganz einfachen, leicht erzählten Geschichten großartige Literatur schaffen kann. Daher zählt der Roman in diesem Jahr zu den besten zehn Büchern aus unabhängigen Verlagen und steht verdienterweise auf der Hotlist 2014. Wie eine schiefe Möhre auf der Speisekarte.

Sarah Schmidt: Eine Tonne für Frau Scholz. Verbrecher Verlag 2014, 217 Seiten, 19,00 €. Ihr könnt das Buch jetzt sofort und portofrei bei ocelot.de bestellen. Oder das eBook für 12,99 € bei ocelot.de downloaden.

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