Giuliano Musio: Scheinwerfen

IMG_8607Die fatale Macht der Erinnerung
Die Weingarts haben eine sehr spezielle Gabe: Wenn sie jemanden berühren, können sie seine verdrängten Erinnerungen sehen. Jeder aus der Familie, der seine Initiation hatte, spürt dadurch jene Erlebnisse auf, an die die Menschen selbst nicht mehr herankommen. Die Brüder Julius und Toni haben dieses Talent von ihrem Vater geerbt, ihre Mutter hat daraus ein florierendes Geschäft gemacht: Die Kunden geben sich die Klinke in die Hand, um mithilfe der Weingarts verlorene Schlüssel, den Namen eines Vergewaltigers oder ein Gefühl aus der Kindheit wiederzufinden. Cousine Sonja, die zugleich die Freundin von Julius ist, arbeitet ebenfalls in diesem eigenartigen Familienbetrieb mit, und auch Halbbruder Res, von dessen Existenz niemand wusste, beherrscht das Scheinwerfen. Doch während die Klienten von dieser Weingart’schen Gabe profitieren, wird das Scheinwerfen für Toni, Julius, Sonja und Res zum Fluch – für jeden von ihnen aus einem anderen Grund …

Was für ein Debüt! Was für eine Story! Was für ein Vergnügen! Der Schweizer Autor Giuliano Musio erzählt in Scheinwerfen eine abstruse, spannende und gefühlvolle Geschichte, die völlig unglaubwürdig ist und dabei doch absolut realistisch erscheint. Schon in der Luftschacht-Vorschau hab ich große Lust auf dieses Buch mit der originellen Story bekommen: Ich war neugierig auf diese Romanfiguren, die eintauchen können in die Erinnerungen fremder Menschen. Und als ich angefangen habe, Scheinwerfen zu lesen, blieb mir erst mal die Spucke weg: Ich war sofort am Haken von Giuliano Musio aufgespießt und wollte dieses Buch auf der Stelle verschlingen.

Vier Menschen stehen in diesem Buch im Mittelpunkt und tragen ihre jeweilige Perspektive zur Geschichte bei: Julius, Sonja, Res und Toni. Einer von ihnen liebt den falschen Mann. Einer kann überhaupt nicht scheinwerfen, sondern tut nur so. Und alle verbindet nicht nur dasselbe Erbmaterial, sondern auch ein schreckliches Geschehnis in der Vergangenheit, an das sie sich selbst nicht mehr erinnern können. Behutsam löst Giuliano Musio Schicht um Schicht das Vergessen und hantiert dabei gekonnt mit den Fäden eines fesselnden Verwirrspiels: Was ist damals wirklich passiert? Wer sagt die Wahrheit? Und was weiß ein jeder wirklich über die Menschen, die er liebt? Am Ende knallt es für alle Figuren noch einmal so richtig, was mich sehr überrascht hat. Lange hab ich kein Buch mit einer derartigen Sogwirkung gelesen – und will es euch deshalb dringend empfehlen.

Giuliano Musio: Scheinwerfen. Luftschacht Verlag 2015, 404 Seiten, 25,20 Euro. Hier findet ihr die Website des Autors.

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