In der Erzählung „Sommerfrische auf der Bank“ verwirklicht er sich diesen Traum nach dem Trällern einer Nachtigall und der nächtlichen Kühle eines Parks. Findet er das erfrischende Glück des Schlafens unter dem glitzernden Sternenhimmel? Hat er denn auch bedacht, dass die Großstadt niemals ruht, auch nachts nicht?
Leicht hat er es wirklich nicht, doch irgendwie sieht Marcovaldo immer einen winzigen Funken Licht, selbst in den tragischen Momenten des Lebens. In der Geschichte „Die gute Luft“ empfiehlt der Arzt einen Ausflug mit den vier Kindern in frische und gesunde Höhenluft: Er stand zwischen den Betten in der Kellerwohnung, in der die Familie hauste, und drückte das Stethoskop auf den Rücken der kleinen Teresa, zwischen die Schulterblätter, die so zart waren, wie die Flügel eines ungefiederten Vögelchens. Zwei Betten waren es und vier Kinder, alle krank; mit brennenden Wangen und fiebrig glänzenden Augen lagen sie am Kopf- und am Fußende der Betten (S. 69). Also steigt Marcovaldo an einem Samstagnachmittag mit seinen vier Kindern in die Straßenbahn und fährt in die anliegenden Hügel der Stadt. Fast angekommen auf dem Gipfel der Anhöhe, fällt der Geruch des Schimmels und der feuchten Wände von ihm ab, genießt er den Ausblick, erfreut er sich am Herumtollen seiner Kinder, die ihm auch gleich weniger krank erscheinen. Glücklich beobachtet er die kleinen Schwalben und schaut hinab auf das Flimmern und Glitzern der Großstadt. Hier – in der frischen guten Höhenluft.
Und was macht Marcovaldo, wenn er selbst krank und vom Rheuma geplagt ist? Wenn sein Kassenarzt ihm warme Sandpackungen empfiehlt? Er sucht das Flussufer nach nassem breiig-schlammigem Sand ab. Nicht ohne seine vier Kinder, die natürlich sofort baden gehen wollen. Doch Marcovaldo hat einen Plan, bei dessen Ausführung die Kinder erst helfen müssen. Und so legt er sich in einen Lastkahn und lässt sich von ihnen mit Sand bedecken. Betäubt von der Sonne und vom leisen Schaukeln des Kahns döst er vor sich hin und bemerkt nicht, wie sich die Schnur des Kahns leise vom Ufer löst. Ich habe herzlich gelacht beim Lesen der Geschichte „Ein Samstag voll Sonne, Sand und Schlummer“! Und bedaure, dass niemand in meiner Nähe ist. Diese kleinen literarischen Perlen sollte man laut vorlesen! Man sollte sich gemeinsam erfreuen, sollte gemeinsam die Daumen drücken, dass weder die giftigen Pilze noch das verseuchte Kaninchen diesen einzigartigen Helden aus der Bahn werfen.
So reiht sich eine Geschichte an die nächste in diesem liebevoll und umweltschonend gestalten Buch. Die in Berlin lebende Künstlerin Doro Petersen hat exklusiv für die Edition Büchergilde die Geschichten Marcovaldos mit viel Liebe illustriert. In jeder Collage spürt man, dass sie sich mit dem Leben Calvinos und der Idee seiner Geschichten beschäftigt hat. Den Kontrast zwischen Natur und Großstadt hat sie dabei ebenso treffend eingefangen wie die Fähigkeiten Marcovaldos, mit viel Phantasie seinen traurigen Alltag zu verschönen.
Calvino, der große italienische Geschichtenerzähler ist im Oktober 1923 in Kuba geboren. Er hat ein reiches Werk hinterlassen, das in alle Weltsprachen übersetzt wurde. Gestorben ist er heute vor dreißig Jahren. Am 19. September 1985 in Siena.
Eine schöne Buchhandlung in Mainz, die Partnerin der Büchergilde Gutenberg ist, hat Vera vom Blog Bücherliebhaberin entdeckt. Ich bin sicher, Calvinos Marcovaldo hat dort einen Ehrenplatz.
Italo Calvino. Marcovaldo oder Die vier Jahreszeiten in der Stadt. Mit Bildern von Doro Petersen. Aus dem Italienischen von Nino Erné, Caesar Rymarowicz und Heinz Riedt. Edition Büchergilde. Frankfurt am Main 2015. 191 Seiten. 25,- €