Lyrik aus Sápmi
Diesen Lyrikband umweht ein Hauch des Exotischen und Sonderbaren, der sich manifestiert im halbfesten Einband aus ungefärbter Pappe mit bronzenem Prägedruck, dem nordisch-mythischen Titel Erbmütter – Welttöchter und den wie aus großer Ferne fremd herüberklingenden Namen der Autorinnen Rauni Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio-Arianaick. Weder Buchumschlag noch Innentitel verraten, was den Leser erwartet, erst ganz hinten, versteckt im Impressum auf der letzen Seite, findet sich der entscheidende Hinweis. Lyrik aus Sápmi [1] wird präsentiert. Aber selbst wenn diese Information nicht vorliegen sollte, erscheinen bereits beim Lesen der ersten Zeilen des Gedichtbandes unvermittelt Bilder von kargen Landschaften, von Rentieren, von Eis und Schnee vor dem geistigen Auge.
Sie gingen beide Seite an Seite
Mutter und Tochter
gegen den Wind der die Weiden bog
Schnee und Kleidersäume aufstob
Beißender Wind ritzte die Brüste
Kein Gedanke mehr an den Sommer an die Vögel
Plötzlich hockten sie sich hin
gebaren Mädchen mit offenen Mündern
bedeckten sie mit Schnee
damit sie nicht froren
Sie legten sich beide daneben
und stimmten einen Sommerpsalm an
Nach der ersten Strophe
erschien mit dem Wind Mutters Mutter
legte sich zwischen die Neugeborenen
und sang mit
Knapp und verdichtet wie es nur Lyrik vermag, findet sich in diesen Zeilen von Rauni Magga Lukkari sowohl der Schlüssel zu den vorliegenden zwei Gedichtzyklen als auch zu Traditionslinien der noch jungen Literatur Sápmis [2]. Mündlich überlieferte Gesänge und Erzählungen des indigenen Volks, das überwiegend im Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und auf der russischen Halbinsel Kola siedelt, werden erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch schriftlich fixiert. Eine eigenständige literarische Kultur entwickelt sich in großer Breite erst seit den 1970er Jahren, als die Sámi mehr politische, ökonomische und kulturelle Selbstständigkeit erringen konnten.
Es sind die Stimmen von Frauen, die die sámische Prosa und Lyrik über mehrere Generationen hinweg ausgeformt und entscheidend geprägt haben. Die Großmütter etablierten die Muttersprache als Wurzel einer selbstbewussten Identität, die Mütter thematisierten die sich wandelnden Familien- und Rollenbilder und etablierten Sujets wie Weiblichkeit und Geburt. Die Töchter weiteten das Spektrum, zogen in die Welt und loten im Schreiben die eigene ethnische Herkunft tief aus [3]. All das zu wissen, hilft bei der Lektüre der Gedichte, ist aber keinesfalls zwingend vorausgesetzt.
In Erbmütter verdichtet Rauni Magga Lukkari (geboren 1943) ein (ihr?) Leben in Familie und Natur zu einem poetischen Zyklus, in dem die Themen Heimat, Liebe, Geburt und Tod verquickt werden mit Reflexionen zur eigenen Position und Rolle als Frau. Der Spagat zwischen Tradition und Moderne zieht sich wie ein roter Faden durch die Gedichte, wobei sie sich den Spannungen und Konflikten, die er erzeugt, nicht ohnmächtig beugt oder ergibt, sondern sie als zu meisternde Herausforderung betrachtet. Spannend ist dabei, wie sich ein Prozess der Emanzipation erst zaghaft andeutet, dann verfestigt und schlussendlich mit den Kräften und Gesetzen der Natur versöhnt wird. Die Natur kennt keine Unterdrückung, keine willkürlichen Verwerfungen zwischen den Geschlechtern.
Auch Aus der Welt nach Hause von Inger-Mari Aikio-Arianaick (geboren 1961) spielt mit weiblicher Rollenfindung und Emanzipation, weitet aber den Horizont, indem sie zusätzlich den Aufbruch in die Welt und die Auseinandersetzung mit der eigenen und der fremden Kultur behandelt (ein konstituierender Topos sámischer Literatur). Das lyrische Ich (Aikio-Arianaick?) erzählt von der Liebe zu ihrem Ehemann aus Mauritius, ihrem Leben auf der karibischen Insel, ihrer Sehnsucht nach der nordeuropäischen Heimat, der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes und seinen zwei ersten Lebensjahren. Je mehr das Kind heranwächst, erst in ihrem Körper als Fötus, dann außerhalb als brüllender und fordernder Säugling, desto stärker wird sich die Erzählerin ihrer eigenen Kraft bewusst und der sich daraus erwachsenden, sich stärkenden Identität.
Ihre suggestive Kraft verdanken die Texte neben ihren inhaltlichen auch äußeren, formalen Komponenten. Ohne Interpunktion und in knapper, von starken Bildern gekennzeichneter Sprache kommen die einzelnen Gedichte daher. Sie lassen sich sowohl als kleine Einzelteile konsumieren, in ihrer verdichteten Bildlichkeit den japanischen Haiku vergleichbar, als auch hintereinander gelesen als lyrische Prosa auffassen, als fortlaufend erzählender Text. In beiden Fällen ist der Leser extrem gefordert, die knappen Informationen zu ergänzen und aufzufüllen. Die Lyrik von Lukkari und Aikio-Arianaick wurzelt in der Tradition der Joiks, den traditionellen schamanischen Gesängen und Erzählungen der Sámi. Statt einer umständlichen Beschreibung dieser ebenso befremdlichen wie faszinierenden Gesänge, hier ein Video von Marit Kristine Hætta Sara, der Siegerin des Sami Grand Prix 2012, gewissermaßen dem ESC der Sámi:
Auch in der Folk- und Popmusik Nordskandinaviens haben Joiks Einzug gefunden. Eine der bekanntesten Musikerinnen Sápmis ist Mari Boine, sie hat als eine der ersten ganz bewusst auf die musikalischen Traditionen ihrer Vorfahren zurückgegriffen. Viele sind hier gefolgt. Weil es passt, noch ein Video: Für Mu Ustit Eŋgeliid Sogalaš (My Friend of Angel Tribe) hat Mari Boime ein Gedicht von Rauni Magga Lukkari vertont.
Von der Musik [4] zurück zu dem (bis in kleinste buchgestalterische Details wundervoll ausgestatteten) Lyrikband aus dem Eichenspinner Verlag. Als Mitteleuropäer, zugegeben einer mit einer hohen Affinität zum Norden des Kontinents [5], erfahre ich hier viel über sámische Kultur und sámisches Selbstbewusstsein, aber ebenso viel, wenn nicht noch mehr, als Mann über Frauen. Erbmütter – Welttöchter ist ergo eine doppelt gewinnbringende Lektüre.
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[1] Der exonyme Begriff Lappland gilt als politisch unkorrekt. Das wird jedem Reisenden, der Nordeuropa jenseits des Polarkreises besucht, unmissverständlich nähergebracht. Solide Informationen zum Volk der Sámi und ihrem Kulturkreis finden sich u.a. im Wiki der Uni Wien.
[2] Diese Erkenntnis fällt freilich nicht vom Himmel, sondern ist erst dem knappen, aber erhellenden Nachwort der Übersetzerin Christine Schlosser und der Herausgeberin Johanna Domokos zu verdanken.
[3] Entscheidend dabei: Mussten die Großmütter noch auf das Recht einer muttersprachlichen Erziehung und Schulbildung verzichten, so erkämpften das die Mütter nach und nach. Die Töchter genossen bereits nahezu selbstverständlich eine Schul- und Hochschulbildung in sámischer Sprache. Sie sind im Gegensatz zur ihren Mütter- und Großmüttergenerationen fest im Sámischen verwurzelt. Sehr ausführlich in: Harald Gaski, „Song, Poetry and Images in Writing: Sami Literature“. In: Nordlit, Nr.22, 2011 (PDF).
[4] Mehr dazu bei: Harald Gaski, „Yoik – Sámi Music In Global Worls Music“ (PDF).
[5] Ein persönliches Wort sei hier gestattet: Auf mehreren Reisen mit Hurtigruten (stilecht auf der MS Lofoten, Baujahr 1964) bin ich ansatzlos dem Zauber des hohen Nordens erlegen. Dazu gehörte auch die erste Begegnung mit der Kultur der Sámi, dem (völlig unvorbereiteten) Lauschen echter Joiks und ihrer modernen Adaption durch Mari Boine. Das war der ausschlaggebende Grund, mich für die Besprechung von Erbmütter – Welttöchter als einem der prämierten Titel der Hotlist 2015 zu bewerben.
Rauni Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio-Arianaick: Erbmütter – Welttöchter. Samische Gedichte. Herausgegeben von Johanna Domokos, übersetzt von Christine Schlosser. Eichenspinner Verlag 2015, 212 Seiten, 16,80 €.
Herzlichen Dank an Jochen von lustauflesen.de für diesen Gastbeitrag! Morgen stellen wir euch den Eichenspinner Verlag vor, in dem der Gedichtband Erbmütter – Welttöchter erschienen ist.