Jakob Nolte: ALFF

»In Beetaville? Hier sollte niemandes Platz sein.«

nolte alffDieses Buch ist für Nerds. Für solche, die den abseitigen Dingen zugeneigt sind, weil das Gewöhnliche und Naheliegende sie bisweilen langweilt. Jakob Nolte, Autor von Comics, Prosa und Theaterstücken, ist so einer. Beim Lesefest Open Books während der Frankfurter Buchmesse hat er seinen Roman ALFF vorgestellt, gemeinsam mit Juan S. Guse, dessen Debüt Lärm und Wälder dieses Jahr bei S. Fischer erschienen ist. Die beiden Autoren sind jung – der eine 1988, der andere 1989 geboren – und wirken noch jünger, sie sind ein bisschen eigen, vor allem aber sind sie umtriebig und belesen und haben einen wachen Verstand, das merkt man sofort, sie teilen denselben Humor und denselben Sinn für kuriose Geschichten. Die Clemens J. Setzes der nächsten Generation vielleicht.

So vielschichtig, reich an Verweisen und irrwitzig, wenn auch keineswegs so ausufernd wie dessen Werke ist denn auch Noltes Romandebüt ALFF, das zuerst digital bei Fiktion erschienen ist und in diesem Herbst als Printbuch bei Matthes & Seitz Berlin. ALFF ist vieles: Highschool-Drama und Coming-of-Age-Geschichte, Mystery-Thriller und Detektivroman – ein wilder Genremix also und gleichzeitig eine Parodie auf all das. Dagegen scheint die Ausstattung des Buches auffallend zurückgenommen, fast schon klassisch, doch im Detail ist auch sie mehrfach gebrochen: Das Vorsatzpapier ist vorne blau und hinten grün, die Fadenheftung rot, das Lesebändchen gelb, und auf dem grauen Leinen sind dezent die Schemen eines Schülers abgebildet. Oder die eines Geistes.

Im Jahr 1994 geschehen bizarre Morde in der nordostamerikanischen Kleinstadt Beetaville, Schüler der High & Low Highschool werden erschlagen und dann sorgfältig in Maschendrahtzäune eingenäht, der Täter ist bald als »Vollstricker« bekannt. Während das FBI einen Agenten namens Donna Jones mitsamt Sondereinsatzkommando nach Beetaville schickt, ermittelt das Mädchen Meggy, Karikaturistin bei der Schülerzeitung, auf eigene Faust. Nennenswerte Fortschritte machen beide nicht, aber darum geht es in diesem Roman ohnehin nur am Rande, und es überrascht wenig, dass der Mörder am Ende quasi aus dem Nichts kommt. Vielmehr geht es darum, was die Vorfälle in den Figuren anrichten, um ihre Hysterie, ihre Trauer, ihre Einsamkeit.

Meggy ist eine Außenseiterin, hat kaum Freunde und ein schwieriges Verhältnis zur Mutter, so schwierig, dass im Verlauf der Geschichte eine der beiden von der anderen im Keller eingesperrt wird. Joseph, dessen Schwester Chesley dem Vollstricker zum Opfer gefallen ist, gründet mit seinem Freund Lenny die Band La Deutsche Vita und kommt zu maßlosem Reichtum, doch die Wunde reißt immer weiter auf: »Er hat das Gefühl, ein Leben zu leben, so wie Aluminiumfolie.« Und während der Lehrer Jeff Cello lange Zeit als Hauptverdächtiger gilt, selbst nach seinem Selbstmord noch, schreibt seine Frau Holly ihren ersten Roman, Vielleicht, in dem jeder Satz mit ebendiesem Wort beginnt und der mit der Aussage endet: »vielleicht ist es wahr, vielleicht werden wir ewig leben.«

Texas ist No Country for Old Men, Beetaville ist kein Ort für irgendjemanden. Ihr Platz sei hier, meint Meggy, als ein Freund ihr vorschlägt, einfach abzuhauen und alles hinter sich zu lassen: »In Beetaville? Hier sollte niemandes Platz sein«, entgegnet er. Wer hier aufwächst, hat keine Illusionen und keine Zukunft, und wer herkommt, verliert sie, sackt allmählich in sich zusammen. Ein derart erbärmliches Bild gibt FBI-Agent Donna Jones nach ein paar Jahren ab, dass sein Sohn Miles ihn kaum wiedererkennt: »Was er aber nicht ahnt, ist, dass diese Stadt in diesem Moment dabei ist, dasselbe mit ihm zu tun, ihm genauso alles Frische und Lebendige aus dem Körper zu wirtschaften. Ihn seiner Symmetrie zu berauben.« Überhaupt ist die zweite Hälfte des Romans deutlich ernster, nahezu beklemmend.

– Sie sahen alle so fertig aus, und vielleicht wären ihre Leben besser, wenn ein anderer, an meiner statt, in die Stadt gekommen wäre. Vielleicht hätte jemand den Fall lösen können, bevor das Mädchen starb.
Unbewusst hat Donna die Tischdecke in seine Faust geklammert, die sich nun zusammenzieht, der Griff so stark, dass er seine eigene kleine, rasch anwachsende Schwerkraft besitzt. Seine Faust so verkrampft, dass sie ein Schwarzes Loch wird und alles in sich hineinzieht. Langsam. Den Kaffeelöffel, den Salzstreuer, die Tasse, die Untertasse. Donnas Teller ist komplett, die Tischdecke selbst nun auch, verschwunden, die Ketchupflasche, die Fensterscheibe biegt sich nach innen, beginnt nachzugeben, zersplittert und wird in seine Faust gesogen, genauso die Theke, Bobby, der Grill, weitere Gäste, alles verschwindet in Donnas Faust. Miles versucht zu fliehen, hält sich am Türrahmen fest, das halbe Diner weggerissen, Donna weint und die Tränen des Vaters und die Augen des Vaters implodieren, sein Gesicht, sein Schädel, seine Eingeweide schlängeln sich aus dem Torso in seine Faust. Miles brüllt ihn an, fleht ihn an, es zu stoppen, doch es gibt seinen Vater nicht mehr. An den Rändern des Schwarzen Lochs bricht das Bild der Stadt optisch. Miles verliert den Halt, es gibt keinen Halt mehr. Schließlich ist alles verschwunden.

In den Teilen »Opek Kamera« und »Brokkoli Zwei«, benannt nach Hollys zweitem Roman, erzählt Nolte mit mehr Ruhe, epischer, die Schnitte sind nicht so hart wie noch zu Beginn, das Geschehen ein kleines bisschen weniger abenteuerlich. Auf den ersten Blick ist vor allem das Groteske bemerkenswert, das Setting, die Charaktere und das Handlungsgerüst; doch das Changieren zwischen den Tönen zeugt auch von großem erzählerischem Können und Formbewusstsein. Nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf stilistischer Ebene verblüfft ALFF immer wieder, da sind Sätze wie: »Des Novembers Gedärm ist kalt« oder »Kinder, totgereift zu Erwachsenen«. Jakob Nolte – das ist ein Name, den man sich merken sollte, so gescheit, scharfsinnig und komisch ist dieses Werk.

Jakob Nolte: ALFFMatthes & Seitz 2015, 277 Seiten, 18,00 €.

Die Rezension ist zuerst auf SchöneSeiten erschienen.

2 Kommentare zu „Jakob Nolte: ALFF

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