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Amsél: Wiedersehen in Tanger

„Es heißt, Tanger sei wie ein Spiegel: Wer sich darin erblickt und nicht aushält, was er sieht, muss unverzüglich abreisen. Wer es aber schafft zu ertragen, was der Spiegel ihm zeigt, der muss immer wieder zurückkehren, den lässt die Stadt nicht mehr los.“

Ein Gastbeitrag von Timo Brandt

Ganz in der Nähe der Straße von Gibraltar, den Säulen des Herkules, liegt die Stadt Tanger – ein mystischer Ort (an dem es, wie an so vielen mystischen Orten, vor profanen Dingen nur so wimmelt – vielleicht fallen sie einem aber auch nur besonders ins Auge). Beiden Seiten wird in diesem Buch Rechnung getragen: dem Profanen in den Beschreibungen der Landschaft und den meisten Geschehnissen, das Mystische liegt tief in den Figuren und findet zwischen ihnen statt, bevölkert ihre Geschichten, ihre Ansichten. Egal wie gewöhnlich (und darin schön wie schrecklich) die Welt draußen ist – die Figuren schöpfen die Mysterien aus sich selbst, aus ihren Empfindungen, Gedanken, Eindrücken.

Alles beginnt mit einem Kongress, bei dem es um Gegenmaßnahmen für die Desertifikation, die Ausbreitung der Wüsten, geht. Verschiedene Expert*innen aus allen möglichen Ländern kommen zusammen und Tanger ist für einige von ihnen bald nicht mehr bloß die angenehme, interessante Kulisse ihrer Tagung, sondern ein erwählter Sehnsuchtsort. Die Ornithologin Chaya und die Botanikerin Thelma freunden sich an und irgendwo im Hintergrund ist da auch noch Tarik, ein Marokkaner, der die meiste Zeit über seinen Büchern totschlägt, auf der Suche nach der Weisheit, dem Ding, was die Welt im Innersten zusammenhält oder ständig auseinanderbrechen lässt. Über lange Zeit sind ihre Sympathien fragil, fast ungewiss. Doch etwas führt sie immer wieder zusammen.

Der Roman erstreckt sich über fünf Teile und lässt sich viel Zeit für die Entwicklung seiner Figuren, hält den Leser mit allerhand Kolorit und Nebenhandlungen bei der Stange. Man merkt, dass die Autorin sich, wo es nur geht, der landschaftlichen Schönheit zuwendet, dem Atmosphärischen. Oft haben ihre Beschreibungen zunächst etwas Schlichtes, dann bekommen sie allmählich etwas Beschwörendes. Diese Beschwörungen sind selten überschwänglich, schwärmerisch, allerdings dann und wann sehr malerisch; positiv formuliert: dieses Buch bietet genug Stellen, um darin aufzugehen und zu versinken. Wer nüchterne Lektüren schätzt, der landet hier im falschen Buch.

Die Geschichte, mit all ihrer Ruhe, ihren Facetten und Entwicklungen, ist kreuz und quer, aber dennoch gut aufgebaut und gewinnt ihre Dramatik aus einzelnen kleinen Momenten, ohne auf einen größeren Spannungsbogen angewiesen zu sein (der sich trotzdem gegen Ende hin herauskristallisiert). Etwas unangenehm aufgefallen sind mir die eingestreuten Kommentare zum Denken und Fühlen der Figuren, wodurch sich keine völlig natürliche Beziehung zu ihnen entwickeln kann. Man fühlt sich als Leser*in immer ein bisschen außenvorgelassen, ein bisschen entrückt. Das mag auch daran liegen, dass die drei main characters sehr viel offen aussprechen (und wenn sie es nicht tun, dann erledigt das eben ein erklärender Kommentar). Dabei ist gar nicht wirklich störend oder schlimm, dass die Perspektive oft gewechselt wird. Schade ist, dass die Autorin es sich nicht zutraut, ihre Figuren frei über die Bühne ihres Buches laufen zu lassen.

Einige Motive – wie etwa das sehr geschickte Einflechten großer Lebensfragen, verbunden mit Ausflügen in die Lehre der Sufi, mythische und biblische Geschichten und Gleichnisse, sowie allerlei naturwissenschaftliche Fakten und Schnipsel, nebst angerissener Betrachtungen zur arabischen Gesellschaft – ziehen sich mit einer schönen, lässigen Bedeutsamkeit durch das Buch und machen es zu einem dichten Erlebnis; man hat nicht das Gefühl, permanent auf Anregungen warten zu müssen. Immer wieder gibt es kleine Episoden, die über sich hinaus weisen.

Insgesamt ist Wiedersehen in Tanger gelungen, vor allem, wenn man bedenkt, dass es ein Debütroman ist. Die Autorin hat sich Mühe gegeben, die Handlung nicht allein auf eine Liebesbeziehung zu stützen und hat ein vielgestaltiges, in manchen Enden etwas dünn werdendes Werk geschaffen, in dem entlang der Lebenslinien dreier Menschen versucht wird, sich dem Sinn und den Freiheiten menschlicher Existenz zu nähern. Mit einem guten Mix aus Profanität und vielen Anflügen von Höherem webt sie eine Geschichte, die von Sehnsuchtsorten erzählt.

Amsél: Wiedersehen in Tanger. verlag die brotsuppe, Biel 2016, 312 Seiten, 24,00 €.

Wir danken Timo Brandt, der auf www.lyrikpoemversgedicht.wordpress.com über Lyrik bloggt, für diesen Gastbeitrag!