»Das ganze Leben ein Gedicht.«
Wäre das schön! Wenn man nur von Gedichten und der Philosophie leben könnte. Eine traumhafte Vorstellung, die mir Chaya zuflüstert. Ich nicke ihr mit leuchtenden Augen zu und lächle über die junge Frau, an deren Seite ich für kurze Zeit weilen konnte. Ach, ich werde sie vermissen, meine neue Freundin. Wir haben uns im gleichnamigen Buch getroffen, das Kathy Zarnegin geschrieben hat. Die Autorin hat meinen wintermüden Geist mit Sonne aufgeladen, auch wenn man dem Buch diese Kraft auf dem ersten Blick nicht ansieht. Eher unauffällig liegt es derzeit zwischen den farbenfrohen Büchern der Saison, doch das im weissbooks-Verlag erschienene Buch ist so überhaupt nicht zurückhaltend. Bereits auf den ersten Seiten weht eine selbstbewusste Prise.
»Chaya« ist eine ebenso entzückende und gleichsam tiefsinnige Lektüre, die mich oft lächeln ließ, während ich zahlreiche Post-its in die Seiten klebte. Der Roman gewinnt durch eine unglaublich sympathische Protagonistin und weist überdies autobiographische Züge auf, da ich Parallelen zwischen Protagonistin und Autorin erkenne. Chaya und Kathy Zarnegin wurden beide im Iran geboren und kamen in jungen Jahren in die Schweiz. Bereits als kleines Mädchen träumt die aufgeweckte und sprachfreudige Chaya von der Welt außerhalb ihres Landes. Sie möchte nach Italien, am allerliebsten aber nach Amerika. Erstmal muss sie sich jedoch mit ihren Wörterbüchern trösten und reist in Gedanken in ihre Sehnsuchtsländer. Gleichzeitig entdeckt sie durch ihre Mutter die Welt der Gedichte für sich. Als schließlich die Revolution im Iran ausbricht, schicken Chayas Eltern ihre aufgeweckte Tochter zu Bekannten in die Schweiz. »Und weg war die Kindheit.« Dafür folgte das: ein selbstbestimmtes Leben.
Die erste Szene in der Fremde ist im Grunde traurig, aber ich schmunzele, als ich Chaya auf dem Zürcher Flughafen sehe. Möge sie es mir nachsehen! Wahrscheinlich erkenne ich mich darin zu sehr wieder, meine Leidenschaft für Bücher und Sprache, dass ich nicht anders kann als zu grinsen. Vor Chaya liegen ihre »wichtigsten Habseligkeiten«: Ihre Tragetasche konnte offenbar dem Gewicht der zwei innig geliebten Wörterbücher nicht standhalten, reißt und liegt »nun wie ein verletztes Tier« auf dem Boden. Rührend beschreibt Chaya ihre langjährigen Weggefährten, denen etwas Menschliches anhaftet. Sie erinnert sich an die Geschichte ihrer Herkunft. Und vergisst dabei vollkommen, wo sie sich gerade befindet. Stattdessen taucht die junge Frau in die Welt der Wörter, wie so oft in dem Buch. Sprache und was sie alles hervorzaubern kann, davon erzählt die Autorin und das in betörendschöner Form. Kein Wunder, dass ihr das Schreiben derart gut gelingt, die Sprache ist ja ihr Lebenselixier. Darin ist sie zu Hause, als Lyrikerin, Publizistin und Übersetzerin. Und hat mich natürlich sofort auf ihrer Seite. Eine sinnliche Sprachakrobatin trifft auf eine Liebhaberin von wundervoller und poetischer Sprache.
Ich korrigiere mich: Es ist keine Selbstverständlichkeit, was die Autorin hier vollbracht hat. Es ist eine Kunstfertigkeit, die ich genauso lange staunend betrachte als sei es ein Bild. Und ich weiß, liebe Chaya, wie lange man für einen guten Text brauchen kann. An einer Stelle heißt es in dem Buch: »Wer sagt, dass ein Dichter weniger lang für seine Arbeit braucht als ein Maler? An einem einzigen Gedicht sitzt man – je nach Veranlagung – manchmal mehrere Monate. Und mit einem Gedicht allein hat man noch kein Buch gemacht. Was für den gesellschaftlichen Wert des Bildes gelte, müsse auch für das Wort gelten.«
Ganz genau! Das Schreiben sieht oft einfach aus, ist es aber nicht. Es kann genauso holprig sein wie eine alte Pflastersteinstraße. Worte haben auch mal schlechte Tage, müssen gedehnt und geschliffen werden. Manche brauche sogar Zeit, viel Zeit, um zu reifen. Bisweilen gibt es Zeiten, in denen sie nicht aufs Papier finden, weil sich ein Stein auf die Finger gelegt hat.
Chayas Kindheit wird ein wenig schnell übersprungen, ich hätte gern mehr von ihrer ersten Zeit in der Schweiz miterlebt. Ab und an führt mich Chaya jedoch in ihren Erzählungen zurück, legt mir Puzzleteile vor die Augen. Und stimmt mich dabei wiederholt nachdenklich: »Was passiert mit einer Sprache, die wir nicht mehr sprechen, die aus uns nicht mehr heraus kann und die nicht mehr zu uns spricht? Setzt sie Staub an wie Bücher, die man in einem Regal stehen lässt und nicht mehr anfasst? Kann man sie Jahre später mit einem Staubfänger entstauben, und steht sie dann wieder im alten Glanz zu unseren Diensten?«
Die junge Frau entscheidet sich für eine neue Sprache, legt ihre Muttersprache ab und hängt sie in den Schrank ihrer Kindheit. Anders als von ihren Eltern gewünscht, lebt Chaya fortan ein Leben nach ihrer eigenen Fasson. Sie geht ihren Leidenschaften nach, studiert Philosophie, schreibt Gedichte, arbeitet als Putzhilfe und im Café, um sich das schöngeistige Leben zu finanzieren. Später gründet sie sogar eine eigene Agentur für Gedichte, bei der man sich Poems als Poster anfertigen lassen kann. Zwischen all dem flattern auch Bekanntschaften mit Männern in Chayas Herz und allerhand Gedanken über das Leben, Schreiben, Sprache und ihre Familie im Iran. Ihnen schenkt die Autorin einen Raum, den sie bezaubernd verziert und in dem sie mich lange festhält. Doch von dort muss ich mich nun erheben, und lasse die Tür für euch offen. Vielleicht möchte ja die eine oder der andere dort hineinschlüpfen. Das Chaya-Land lesend zu erkunden ist nämlich eine herzenswarme und bereichernde Reise. Nicht nur das: Ehe man sich versieht, hat man eine neue Freundin gefunden. Und wie schön das ist, ja, das wissen wir alle.
Im gewissen Sinne trifft die Covergestaltung den Kern des Buches. Es enthält eine ruhig und stimmig erzählte Geschichte, deren lauten Flügelschläge nicht im Plot, viel mehr mit der Kraft der Sprache zu vernehmen sind. Sprache in einem stillen Sprachraum, die trotzdem tanzen und bunte phantasievolle Farbtupfer versprühen kann. Kurzum: Wie es sich anfühlen könnte, nur von Gedichten und Philosophie zu leben, davon erzählt das hinreißende Debüt mit einer bemerkenswerten Heldin.
Kathy Zarnegin: Chaya. weissbooks, Januar 2017, 300 Seiten, 20,- €.
+++ Alle Frankfurter Bücherfreunde aufgepasst! Die Büchergilde Buchhandlung und Galerie Ffm hat sich etwas Tolles ausgedacht. Wer eins ihrer „entlaufenen Bücher“ in Frankfurts Innenstadt findet, das Fundstück fotografiert und bis zum 18. März 2017 auf der Fanpage der Büchergilde oder bei Twitter mit dem Hashtag #IndiebuchFfm postet, gewinnt mit ein bisschen Glück ein schönes Indiebook-Paket. »Chaya« ist eins der drei Bücher. »Das Buch der Wunder« von Stefan Beuse (erschienen bei mairisch) sowie ein signiertes Exemplar Maroufi „Fereydun hatte drei Söhne“ (erschienen bei der Büchergilde) gehören ebenfalls dazu. +++
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