Susan Hill ist in England seit Jahrzehnten als Autorin von Krimis, Geistergeschichten und Kinderbüchern erfolgreich. Stummes Echo ist eine literarische Novelle, die in keine dieser Schubladen passt, der es aber zugute kommt, dass die Autorin ihre Genre-Register zu ziehen weiß. Wieder einmal heben der erst 2018 gegründete Kampa Verlag und sein Imprint Gatsby einen Schatz, der im Original bereits vor einigen Jahren erschienen ist, um ihn in bibliophiler Gestaltung und wunderbarer Übersetzung – in diesem Fall von Andrea Stumpf – auch einer deutschen Leserschaft zugänglich zu machen.
Es geht um die Familie Prime, die um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem abgelegenen Hof The Beacon im Norden Englands lebt. Die vier Geschwister, die im Zentrum der Geschichte stehen, wachsen im Rhythmus der Jahreszeiten auf und führen ein eintöniges Leben. Es passiert nicht viel, und was passiert – Fehlgeburten, Todesfälle – das ist eben so und wird nicht weiter kommentiert. Colin ist der typische Bauernjunge, Frank der stille Beobachter, Berenice die Charmante, und dann ist da May, aus deren Perspektive wir die Geschichte anfangs hören. Der Roman beginnt damit, dass May am Sterbebett ihrer Mutter sitzt, als einzige der vier Geschwister ist sie geblieben oder vielmehr: zurückgekommen.
Sie wusste, dass sie niemals mehr eine Arbeit annehmen würde, dass sie hierbleiben und sich für alle Zeiten oder wie lange es eben dauerte, um das Haus und ihre Mutter kümmern würde. Sie hatte die Gelegenheit gehabt, sich zu befreien, aber die Freiheit war ihr nicht bestimmt gewesen, sie hatte Angst davor gehabt, und ein Leben in Angst war kein Leben. Auf dem Beacon war sie sicher und nicht unglücklich.
May Prime, deren Name die Blütezeit gleich zweifach enthält, hatte zu schönsten Hoffnungen Anlass gegeben. Sie war eigentlich das kluge Kind, dem eine andere Zukunft offen gestanden hätte. Tatsächlich war sie nach dem Schulabschluss mit einem Stipendium zum Studieren nach London gegangen, wo sie es jedoch nicht aushielt. Sie wurde von Stimmen und Visionen heimgesucht, die sie wieder nach Hause auf den Beacon trieben. Ihre Geschwister Colin und Berenice heiraten und lassen sich in der Umgebung des Hofes nieder. Es ist Frank, der Stille, der der Enge als Einziger wirklich entkommt. Er findet in der Fleet Street sein Auskommen, macht Karriere und schreibt schließlich selbst ein Buch, dessen Inhalt zu Hause alle schockiert, scheint es doch eine autobiografische Erfahrung zu erzählen, die die Geschwister jedoch für glatt erlogen halten. Aber ist sie das wirklich? Oder haben nur alle weggesehen? War Frank deshalb immer so still? Warum sollte er so etwas erfinden? Ist er ein Opfer oder ein Täter, der seine Familie schamlos benutzt?
Das Buch, das Frank geschrieben hatte, schien größer und stärker als alles andere in dem Zimmer, alles in ihrem gegenwärtigen und vergangenen Leben, es hatte sie verändert, und die Veränderung ließ sich nicht rückgängig machen. Das Buch hatte Macht. Das war ihnen klar. Das Buch hatte das, was unschuldig war, mit Schuld besetzt, hatte sie alle und die Vergangenheit befleckt und die Unschuld zerstört, in der sie bisher gelebt hatten. Und so saßen sie da, versammelt um das kleine, schreckliche Ding, Frank Primes Buch.
Die anderen drei Geschwister beraten sich, sie halten an dem fest, was sie schon immer geglaubt haben, oder überprüfen das Bild, das sie von ihren Eltern und voneinander haben. Und Susan Hill spielt währenddessen so geschickt mit unseren Leseerwartungen, dass es ein reines Vergnügen ist. Sie weiß den bedrohlichen Unterton, der Schlimmes vermuten lässt, gekonnt zu dosieren, und erweist sich mit dem so uneindeutigen wie befriedigenden Ende der Novelle endgültig als Meisterin ihres Fachs. Es geht ums Ausbrechen in diesem Buch und um seine Unmöglichkeit – und in diesem Zusammenhang natürlich auch um männliche versus weibliche Möglichkeiten. Denn May erlebt ihre Blütezeit eben nicht, sie verkümmert, sodass es einen klassischen Entwicklungsroman hier nicht zu erzählen gibt. Es geht auch um die unbestreitbare Macht des emotionalen Erlebens, das an den reinen Fakten nicht gut abzulesen ist – und um die Grauzone dazwischen: Wie weit trägt die objektive, wo beginnt die emotionale Wahrheit, wo die Phantasie? Stummes Echo ist ein schmales Buch von hoher atmosphärischer Dichte und stiller Wucht, das einen schnell in seinen Bann zieht und das man am Ende am liebsten gleich wieder von vorn beginnen möchte.
Nicole Seifert
Susan Hill
Stummes Echo
Roman
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Kampa Verlag
176 Seiten
18 Euro