Eigentlich geht es um Ausdruck in allen Varianten. Und es gibt mehr als Worte, die aus uns herausfinden können. Wie finden Gefühle aus uns heraus? Das Cello, ein Gurgeln, ein Zischen, die Gischt auf einem Aufnahmegerät, wandelbare Worte, die Bewegungen von Händen, der Hände des Vaters wie die einer Fremden, vergessene Worte, die nach langer Zeit wieder hochsteigen. Der dritte Satz einer Sonate, mit dem die Hauptfigur Osman nicht sprechen kann, weil er erst noch lernen muss zuzuhören, all diesen Sprachen und vor allem sich selbst zuzuhören. So oder so ähnlich ist der rauschhafte Zustand, dem ich beim Lesen von Katharina Mevissens Debüt „Ich kann dich hören“ verfallen bin.
In einem Interview gibt sie an, dass sie viele Lieblingsautor*innen hat, unter anderem Virginia Woolf. Nun ist Woolf eine große Autorin, vielleicht ist mein Vergleich eine steile These, aber Mevissen kann wie Woolf Momente einfangen, ohne langatmig zu werden. Alltägliche Szenen werden durch das Innenleben der Figuren verändert, hochgehoben, stürzen ab. Virginia Woolf lässt Figuren nicht einfach nur spazieren, es geschieht so viel mehr, dass am Schluss eines Spaziergangs das ganze Leben auf dem Kopf gestellt wird. Ähnlich ist es auch mit den Szenen, die aus Osmans Sicht, der Hauptfigur, und aus Sicht seiner Tante Elide geschildert werden. Ein Konzert, das für den angehenden Cellisten eigentlich Alltag ist, wird zum Hindernislauf, ein Gang auf der Rolltreppe lässt ihn einen Gegenstand finden, das Aufnahmegerät, das alles ändert. In meiner Ausgabe habe ich unzählige Klebezettel geheftet, weil es so viele schöne Sätze gibt, die die Handlung durchaus auch vorantreiben.
Und Tante Elide, die versucht hat, Osmans Familie zusammenzuhalten, ist eine meiner Lieblingsfiguren in diesem Buch. Osmans Mutter hat die Familie verlassen, Elide trifft mit Osmans Vater, einem erfolgreichen Geiger, der nun mit Osman und dessen Bruder alleine ist, eine Abmachung: Sie zieht zu ihnen nach Essen, ins Ruhrgebiet, verzichtet auf das Studium in Paris, von dem sie noch in der Türkei geträumt hat. Sie und Osmans Vater legen ihre Sprache ab, vergessen alles, um in diesem Moment bestehen zu können. In ihrem Schrebergärtchen erinnert sie sich und erobert die Sprache wieder, die Osmans Vater nicht hören will.
Sie benutzt ihre „Mutterzunge“, ihre „Haussprache“ – das Türkische. Überhaupt, wie hier beschrieben wird, wie es sich anfühlen kann, von einer Sprache zur anderen zu wechseln, zurückzugehen, was die Zunge und das Herz dabei machen, das hat mich in meinen eigenen Erfahrungen sehr erwischt. Schöpft Elide aus der Sprache Kraft, um sich selbst zu behaupten und sich aus dieser Situation zu lösen? Warum sollte Elide, eine so resolute Frau, Kraft schöpfen müssen, was macht sie müde? Das wäre eine schöne Frage für eine Twitter-Lesekreisdiskussion oder in diesem real life.(😉)
Apropos real life: Für den anderen Erzählstrang des Romans ist es vielleicht spannend zu wissen, dass Katharina Mevissen mit Franziska Winkler 2017 die Literaturinitiative handverlesen gegründet hat. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten. (Wenn gewünscht, kann WeReadIndie einen eigenen Beitrag zu diesem tollen Projekt bringen 😊).
Der Roman beginnt mit einem jungen Cellisten und einer komplizierten Familiengeschichte und entpuppt sich als eine Untersuchung von Sprache und Sprachlosigkeit auf mehreren Ebenen. Ich bin sehr gespannt, was Katharina Mevissen noch schreiben wird (und ich wünsche mir sehr, dass weiter Bücher folgen!).
Katharina Mevissen
Ich kann dich hören
Roman
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019
168 Seiten, 19 Euro