Die Ratten verlassen das zerstörte Deutschland

IMG_20190423_091433_825.jpgMartin von Arndt hat vor ein paar Jahren mit „Tage der Nemesis“ ein Buch geschrieben, welches mir die Themenlage Armenien, Türkei und Vertreibung weit vor den ganzen Diskussionen im Bundestag näher brachte, bei denen es darum ging, die Vertreibung des armenischen Volkes von türkischer Seite aus als eben das anzuerkennen,was es wirklich war – als Genozid. Dieses Buch brachte mir einen Ermittler nahe, der gebrochen durch den ersten Weltkrieg, neue Wege suchen musste, um sein Leben zu bestreiten und um nicht vollends verrückt zu werden. Morphiumabhängig, traumatisiert und mit dem berüchtigten Zittern als Folge der Schlacht um Verdun und seiner Verschüttung, was man heute wohl als posttraumatische Belastungsstörung benennen würde. Das war Andreas Eckart, der in „Tage der Nemesis“ die Ermittlungen zu einem Mordfall an einem türkischen Diplomaten aufnimmt und auf die Vertreibung der Armenier stößt und was in diesem Zusammenhang alles vertuscht wurde. Ein starker Krimi mit einem tiefen Bezug zur Zeitgeschichte Europas. Wer mehr darüber wissen will, der liest sich bitte die Besprechung durch, die ich damals auch als Gastrezension auf diesem Blog veröffentlichen durfte (klick).

Vor etwas über zwei Jahren legte Martin von Arndt einen Nachfolgeroman vor, der weit nach den Ereignissen des ersten Buches angesiedelt ist. Genauer direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Hauptfigur Andreas Eckart ist mittlerweile sechzig Jahre alt und während der Herrschaft der Nationalsozialisten nach Amerika ausgewandert. Dort hat er die Zeit mehr schlecht als recht herumbringen können, hat sich an verschiedenen Hobbies beziehungsweise kleineren Verdienstmöglichkeiten versucht, doch so richtig zufriedenstellendes hat sich dabei nicht heraus kristallisiert. Er blieb ein fremder in Amerika. Kurz nach Ende des Krieges wird von offizieller Seite eine Anfrage an ihn heran getragen, die ihn mit dem Auftrag betraut, einen alten „Freund“ von ihm in Deutschland ausfindig zu machen.
Wagner, sein einstiger Untergebener, wurde innerhalb der NS-Zeit ein immer mächtigerer Sadist und Nationalsozialist und vor allem wandelte er sich zu einem brutalen Folterer. Dieser Wagner ist auch einer der Gründe, warum es für Eckart in den 30er Jahren in Deutschland zu gefährlich wurde. Sein Assistent Rosenberg bekam das besonders zu spüren und konnte nicht mehr emigrieren. Wagner folterte ihn, nicht nur, weil Rosenberg Jude ist, sondern auch wegen persönlichen Interessen. Nur durch Zufall kann Rosenberg aus seiner Haft und dem drohenden Tod in den Gaskammern entkommen.
Nun prallen all diese Menschen kurz nach dem Krieg wieder aufeinander. Wagner will sich über die sogenannten Rattenlinien über Südtirol, dessen Gebiet immer noch sehr nazifreundlich gestimmt ist, und Italien nach Argentinien absetzen. Da das Gesicht von Wagner keinem bekannt ist, soll Eckart helfen, ihn bei Gefangennahme zu identifizieren. Doch innerhalb eines zerstörten Europas und einem Winter, der mit voller Härte zuzuschlagen scheint, ist allein die Jagd auf Wagner ein sehr schwieriges Unterfangen. Eckart versucht alles, um diesen Täer zu fangen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Doch es sind noch andere Kräfte im Spiel, die das zu verhindern versuchen. Dabei ist auch jede Menge Politik mit im Spiel, denn je nachdem aus welcher Richtung der Wind dreht, werden auch die Dienste ehemaliger Massenmörder und Nazis wieder in Anspruch genommen, auch von alliierter Seite.

IMG_20190423_091518_101.jpgWar das erste Buch schon ein Politthriller erster Güte, sattelt von Arndt hier noch einen drauf. Als erstes begeht er nicht den Fehler, noch einmal den jüngeren Eckart zu porträtieren. Dieser Zweig vom Leben der Hauptfigur wurde im ersten Buch hinreichend beschrieben. Vielmehr werden einige Eckpunkte im zweiten Teil in Rückblenden beleuchtet, was in meinen Augen vollkommen ausreicht und zudem der eigentlichen Geschichte dient. Mehr muss man nicht wissen. Alles andere ergäbe zwar noch Stoff für ein weiteres Buch, welches vielleicht zum Ende der Weimarer Republik hin spielt, aber es muss nicht zwingend sein. Wir erleben einen gealterten Andreas Eckart, der nach Amerika geflohen ist und dort ein relativ ruhiges Leben führt, zu ruhig für seinen Geschmack. Irgendetwas treibt ihn innerlich und als das Angebot kommt, seinen Erzfeind Wagner zu fangen und den Behörden zu überstellen, greift er fast sofort zu. Was von Arndt dann beschreibt lässt einen nur noch sprachlos zurück. Man hat zwar die Bilder der Zerstörung damals noch irgendwie vor Augen, sei es aus dem Geschichtsunterricht oder irgendwelchen Dokumentationen. Jedoch blieb das immer etwas abstraktes, nicht greifbares. Das versucht der Autor hier auf wunderbare Weise zu ändern. Da wird auch das Leben hinter den eingestürtzten Fassaden gezeigt, mit immensen Versorgungsproblemen auf dem Land, Hunger und Krankheiten, die immer größere Kreise ziehen, da auch die medizinische Versorgung brach liegt. Das alles fasst von Arndt in den knapp 300 Seiten zusammen. Das er dabei noch eine packende Geschichte erzählt, die von flüchtigen Nazis handelt, die sich der Verantwortung für ihre Taten entziehen wollen, macht das Buch so besonders. In der Mitte hatte ich ein wenig zu kämpfen, da sich ein Handlungsstrang zu wiederholen scheint, doch dann wird die ganz große Politkeule ausgepackt und hat mich als Leser vollkommen umgehauen. Nach „Tage der Nemesis“ habe ich ein wenig über den Genozid der Armenier durch die Türkei nachgelesen und dabei gesehen, wie gut Martin von Arndt recherchiert hat. Das kann man bei „Rattenlinien“ mit Sicherheit ebenso behaupten, auch wenn ich mich da noch nicht weiter in die Materie vertieft habe. Was er im letzten Drittel erzählt, erscheint auf den ersten Blick nur dem Spannungsbogen wegen hinein gebracht, aber ich kann mir vorstellen, dass sich vieles wirklich so zugetragen hat. Wer wissen will, was ich meine, der muss das Buch komplett lesen, es nach der letzten Seite zuklappen und als erste Handlung die ganze Anspannung in einem großen Atemzug auslassen.

Wer Politthriller mag, die gut geschrieben und recherchiert sind und dabei ganz nebenbei einen Teil der Geschichte Europas auf knapp 300 Seiten lesen möchte, der ist mit „Rattenlinien“ mehr als gut bedient. Ich jedenfalls habe dieses Buch atemlos durchgelesen. Jede freie Minute, die ich hatte, wurde genutzt, um dieses Buch auszulesen. Da dies der zweite Teil von einer Trilogie ist, wird es auch demnächst die Besprechung zum dritten Band „Sojus“ geben, der in diesem Frühjahr ebenfalls bei dem Verlag ars vivendi erschienen ist.

Martin von Arndt
Rattenlinien
Roman
Ars Vivendi
301 Seiten
19,- Euro

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