stefan mesch

„September“ von Jean Mattern, bei Deutschlandradio Kultur

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Am Mittwoch, 27. April, stelle ich Jean Matterns Roman „September“ vor: bei Deutschlandradio Kultur, im Magazin ‚Lesart‘, kurz nach 10 Uhr morgens.

Den Beitrag kann man anschließend als Stream und .mp3 nachhören (Link folgt)…

…und gegen Mittag erscheint auf der Deutschlandradio-Website auch eine begleitende, kurze Rezension von mir (Text, kein Audio: zum Lesen).

Schon jetzt, hier im Blog: ein etwas längerer, salopperer Text von mir zum Buch, seinen Stärken und Schwächen. Ich schreibe solche Texte vor all meinen Deutschlandradio-Beiträgen, als Anmerkung/Vorbereitung/Information an die Redaktion und den Moderator. Manchmal bleiben sie intern. Manchmal stelle ich sie in online, hier im Blog.

„September“ von Jean Mattern, Deutsch im Berlin Verlag, 2016

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Briten trennen nicht nur zwischen Hoch- und Popkultur – high-brow und low-brow. Sie haben auch einen Begriff für eingängige, publikumswirksame… Bildungsbürger-light-Produkte: „middle-brow“. Leicht zu lesen, massentauglich, unterhaltend – doch mit einem gewissen Bildungs- und Belehrungs-Anspruch.

Beispiele sind für mich Isabel Allende, Florian Illies‘ ‚1913‘, Historienschmöker wie ‚Wasser für die Elefanten‘, ‚Alles Licht, das wir nicht sehen‘ und viele historische, unterhaltende Romane, die nicht bei Suhrkamp, sondern im (unterhaltenderen) Suhrkamp-Imprint ‚Insel Verlag‘ erscheinen: oft Zeitgeschichte, vermischt mit einer Romanze oder dem Schicksal eines Kindes. John Boynes Romane. Alles von Jean Echenoz. Michael Ondaatje. Historie trifft Gefühl.

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Jean Matterns „September“ ist ein prototypischer Middle-Brow-Roman:

150 Seiten. Überzeugendes Setting. Überzeugendes Cover. Eine Liebesgeschichte (eine schwule) vor einem Stück Zeitgeschichte (Olympia 1972, in München). Ein Buch, das in drei Stunden gelesen, verstanden, erledigt ist.

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Natürlich könnte man auch Dokus über das Geiseldrama von München sehen, oder Steven Spielbergs komplexeres Drama ‚Munich‘. Doch ich mag, wie emotional, intensiv, erklärend und häppchengroß gute Middle-Brow-Romane ein Stück Zeitgeschichte erfahrbar machen. Ich wusste fast nichts über die Spiele 1972 – und ich verstehe, warum Autor*innen Geschichte verständlich machen wollen, neu filtern durch die Perspektive interessanter Romanfiguren.

Eine erfundene Figur nimmt dich an die Hand.

Zeigt und erklärt dir ein Stück Welt.

Leicht verständlich, mit vielen Emotionen.

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Mattern, geboren 1968, sagt, sein Anreiz fürs Schreiben war, dass ihm sein Vater das Geiseldrama damals nicht erklären, begreifbar machen konnte. In meiner eigenen Kindheit sah ich viele Olympia-72-Memorabilien bei meinen Großeltern und Eltern (vor allem Trinkgläser mit Olympia-Motiven), meine Schwester wohnt heute neben dem Olympiapark – doch trotzdem wusste ich über die Geiselnahme nur, dass Israel damals irgendwie Ärger hatte… oder machte. Vom Versagen der Bayrischen Justiz z.B. erfuhr ich erst durch den Roman.

Die Romanze? Eine Art „Brokeback Mountain“/amor fou zwischen Sam, einem forschen, jüdisch-amerikanischen Reporter (geboren in Südafrika) und dem Ich-Erzähler Sebastian, einem 30jährigen Briten mit Frau und Kind – erzählt über zwei Wochen im August und September 1972.

„Jean Mattern hat das fürchterliche Drama des 5. September minutiös recherchiert und erzählt es in diesem raffinierten Roman, wie es noch nie erzählt worden ist“ …schwärmt der Klappentext…

…und lügt.

„Raffiniert“?

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Sprache: Mattern benutzt eine simple, klare Sprache. Alles wird übergenau erklärt, offen ausgesprochen – und zu oft werden Dinge nur behauptet: Sebastian berichtet von einem „charmanten“ und „witzigen“ Gespräch, doch nirgendwo im Dialog gelingt Mattern Witz oder Charme. Im ersten Drittel des Romans dachte ich: Das erinnert an japanische Literatur. Ein steifer Ich-Erzähler voller mühsam zurückgehaltener Emotion – und vermeintlich einfache Sätze, unter denen Gefühle brodeln.

Doch an zu vielen Stellen rollte ich die Augen: Holzhammer-Sätze, kunstlose Behauptungen, plumpes Tell-statt-Show, eine Menge Stilblüten und unbeholfene Gefühls-Beteuerungen.

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Thema: Ein Freund, der an einem Drehbuch über die Geiselnahme schreibt, sagte, ihm erschien Matterns Version „gewissenhaft, aber uninspiriert aus den üblichen Quellen zusammengeschrieben“ – und ich verstehe den Eindruck: Beide Figuren beteuern immer wieder, wie ergriffen oder durcheinander sie sind, doch tatsächlich lesen sich die meisten Passagen wie ein Wikipedia-Eintrag. Das Buch macht Zeit und Stimmung nicht lebendig – vor allem, weil der Erzähler so steif und trocken, seine Sprache so künstlich wirkt.

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Figurenpsychologie: Sebastian traut sich recht schnell, auszusprechen/sich vor sich selbst einzugestehen, dass er sich – offenbar zum ersten Mal im Leben – in einen Mann verliebt hat. Doch außer dauernden Beteuerungen, dass er sich hingezogen fühlt, zu Sams ‚großen schwarzen Augen‘ usw. und er irrsinnig aufgeregt/erregt ist… fehlt jeder Tiefgang, jeder Versuch, das – psychologisch, sozial, persönlich – irgendwie weiterzudenken: Die Verliebtheit wirkt eher wie eine heftige allergische/körperliche Reaktion. „September“ ist kein tiefsinniges schwules Buch, kein sexy Buch, kein wirklich romantisches Buch. Ein Ich-Erzähler sagt pausenlos „Uiuiui: Mich hat’s ganz schön erwischt“ – doch dieses Eingeständnis bleibt hohl und leer, und der geliebte Sam ein recht gesichtsloses, ungefähres Gegenüber.

[So ähnlich betont Sebastian die ganze Zeit, dass er durch seine Arbeit zur Geiselnahme ‚fast berühmt‘ wurde – doch nichts, was er im Buch tut, wirkt besonders mutig, engagiert oder journalistisch glaubwürdig: Er trottet die meiste Zeit schwer verliebt zwischen den Sportstätten und dem Pressezentrum hin und her und hofft, dass Sam spontan Zeit hat, mit ihm ein Bier zu trinken.]

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„September“ ist kein Buch, das EINEN fatalen Fehler macht. Doch alles wirkt ein wenig zu flach, etwas zu kurz gedacht, zusammengelesen; Mattern nimmt die erstbeste Formulierung oder verlässt sich auf Beteuerungen. Auf 150 Seiten wirkt all das sehr dünn – und ich bin froh, wie viele Facebook-Freunde sagten, auch sie seien von der Lektüre enttäuscht: Als Literaturkritiker habe ich Angst, dass solche kurzen, gut gemeinten Häppchen-Bücher und Middle-Brow-Harmlosigkeiten fast jedem genug sind. Doch auch die Sehr-viel-Gut-Finder in meinem Freundeskreis sagten: DAS war zu wenig. Hier fehlt Substanz.

Mattern betont über das ganze Buch hinweg immer wieder, wie wichtig es den Münchnern war – besonders auch: nach der Berliner Olympiade 1936 – als harmlos, heiter, professionell und perfekt organisiert wahrgenommen zu werden und, dass die Geiselnahme eher als Störung/Ärgernis begriffen wurde. Doch beide Journalisten-Figuren in „September“ sind fassungslose Zuschauer, weit weg und ohne intelligente oder besonders komplexe Standpunkte zu den Ereignissen: Brite Sebastian ist durcheinander, Jude Sam wütend, und beide unzufrieden mit der Art, wie das Live-TV und die deutschen Organisatoren kommunizieren: Die offizielle Berichterstattung wirkt selbstverliebt und dilettantisch, bayrisch-provinziell; bis auf Innenminister Genscher, dessen Engagement und Mut das Buch mehrmals betont.

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Mit 14 sah ich „Titanic“ im Kino. Die Liebesgeschichte, die soziale Kluft zwischen den Figuren, das Innenleben des Schiffs… nach sicher 90 Minuten dachte ich: „Wow. Selbst, wenn gar kein Eisberg mehr kommen würde – DAS ist ein gelungener Film.“ Middle-Brow funktioniert, wenn BEIDES interessant ist: die einfachen Menschen mit ihren Gefühlen… UND die historischen Umstände, in denen sie sich finden. „September“ scheitert, weil bei Mattern beide Ebenen – und ihre Verknüpfung – simpel, kunstlos bleiben: ein farblos-fader Brite, behauptet verliebt, steht teilnahmslos neben einer farblos-fade nacherzählten Geiselnahme.

Und: ein bisexueller Mann, der jung Vater wird, sich 1972 zum ersten Mal in einen Mann verliebt… und 2012 (in einer Rahmenhandlung im Buch) nur sagt „Ich bin verheiratet. War 40 Jahre lang sehr angesehener Journalist. Vor einigen Jahren starb meine Tochter. Das war mein Leben“…?

Ich glaube, eine reale Figur mit *diesen* biografischen Eckpunkten hat eine interessantere, komplexere Psychologie und hätte mehr Dinge zu sagen – z.B. auch über die AIDS-Krise der 80er Jahre und über die Art, wie Live-Berichterstattung unsere Wahrnehmung von Katastrophen bis heute immer mehr verändert.

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Zu kurz gedacht. Zu knapp, lieblos erzählt. In jeder Hinsicht: zu wenig.

Jean Mattern: „September“. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 160 Seiten, Berlin Verlag 2016.