
Die Apple-Zentrale… und ein Firmensitz in Greg Ruckas dystopischen Comic „Lazarus“, Jahre vorher entworfen / gezeichnet.
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Im Juni bin ich Gast bei einem SciFi-Podcast von VICE Motherboard, zusammen mit Andrea Wöger von Moviepilot.
Moderator Dennis Kogel bat mich, aktuelle Trends, Tendenzen, Ideen zu sammeln:
Welche SciFi mag, verfolge, empfehle ich? Welche Trends zeichnen sich ab?
- Seit Oktober bin ich Juror der monatlichen „Phantastik-Bestenliste“.
- Für Deutschlandfunk Kultur bespreche ich oft SciFi: Comics, TV-Serien, Literatur..
Heute: elf schnelle Thesen zu aktuellen Trends.
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01_Indie-Comics als Testlabor:
Die beste SciFi finde ich gerade meist als monatliches US-Comic: TV-Serien brauchen tausend Köche. Filme brauchen Budget und Zeit. In Comics aber können EIN Autor und EIN Zeichner (-*in) Ideen ausprobieren und im Alleingang bildgewaltig umsetzen. Die Stoffe, die heute im TV und Kino überraschen, waren oft schon vor zehn Jahren kleine, schrullige Comic-Geheimtipps; und immer öfter scheinen Comics die Verfilm-, Adaptierbarkeit von Anfang an mitzudenken: Sie erzählen Geschichten, von denen ich nach Seite 20 denke „Das wäre eine großartige TV-Serie!“
Empfehlungen: „Saga“ (Brian K. Vaughan, Fiona Staples), „Invisible Republic“ (Gabriel Hardman), „Lazarus“ (Greg Rucka, Michael Lark), „Shade, the Chaning Girl“ ( Cecil Castellucci, Marley Zarcone), Dept. H (Matt Kindt), „Injection“ (Warren Ellis, Declan Shalvey) und der wunderbare Mainstream-Manga „Twin Spica“ (Kou Yagunima)
mehr? Sci-Fi-Comics mit Frauen. Buchtipps von mir (Link)
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02_größer Denken – Hard Sci-Fi, Space Operas, Mainstream-Epen!
2011 nannte ich die „Green Lantern“-Comics von u.a. Geoff Johns und Peter Tomasi „Das vielleicht letzte große triviale Epos“. Ich lag falsch: Auch Jason Aarons „Thor“-Comics sind eine barocke, blutig-packend-operettenhafte Saga, die sich in tausend Richtungen ausprobiert. Pulp-Epen wie „Perry Rhodan“. Space Operas wie „Star Wars“. Und epische Hard Sci-Fi – auch von deutschen Autoren wie Dietmar Dath, Andreas Brandhorst: SciFi bleibt aktuell oft nah an einer Figur. Wird intim, persönlich. Doch ich bin dankbar, wie weit trotz solcher Intimität oft gedacht wird: in fernste Zukunft – auch sprachlich, sozial, formal.
Empfehlungen: „Green Lantern Corps“ (Peter Tomasi), „Thor“ (Jason Aaron), „Venus siegt“ (Dietmar Dath); angelesen und gemocht: Neal Stephensons „Seveneves“. Gespannt auf: Marvels „Captain Marvel“-Kinofilm und DCs „New Gods“.
mehr? Rezension von mir zu Dietmar Daths „Venus siegt“
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03_“Game of Thrones“… in Space?
Mit vielen Figuren erzählen? Komplexe politische, soziale Domino-Ketten bauen… und sie dann kippen lassen? George R.R. Martins ehemaliger Sekretär/Assistent ist heute mit der SciFi-Buchreihe „The Expanse“ erfolgreich: Amazon gab gerade eine vierte Staffel der TV-Version in Auftrag. Dazu: Mangas wie „Legend of Galactic Heroes“ und „Attack on Titan“. Tad Williams‘ Fantasy-Buchreihen. Das „Warhammer“-Universum. Oder auch das kleinteilige Marvel Cinematic Universe, mit vielen Nischen und Verknüpfungen: Ich liebe SciFi mit 20, 30 Figuren, Stoßrichtungen, Perspektiven, Zahnrädern. Geschichten, die von Zusammenhängen, Wechselwirkungen erzählen – statt naiv einen einzelnen Helden zum Dreh- und Angelpunkt zu machen.
Empfehlungen: „Babylon 5“, noch immer. Das teils exzellente „Star Wars Expanded Universe“. Angelesen und gemocht: Die „Transformers“-Comics. Gespannt auf: „Gundam“, „Macross“, neue „Ghost in the Shell“-Serien.
mehr? Ich las George R.R. Martins kompletten Blog – und lernte viel!
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04_Helden-TV differenziert sich aus:
„Black Lightning“ fragt nach Schwarzer Politik, sozialer Gerechtigkeit, Polizeigewalt, Aktivismus. „The Flash“ setzt auf „Heart, Humor and Spectacle“. Die X-Men-Serie „Legion“ findet eigene, surreale Töne. „Krypton“ will episches Fantasy-Königsdrama sein: Superhelden-TV sucht Alleinstellung, neue Nischen.
Ich bin gespannt auf neue Serien wie „Cloak & Dagger“ (Urban Romantasy), „The Wicked & the Divine“ (Mythologie & Queerness), „The Umbrella Academy“ (Gothic Horror)
Komplette Liste neuer Comic- und Heldenserien hier: https://www.newsarama.com/30432-the-full-comic-book-television-release-schedule.html
mehr: meine Lieblings-Graphic-Novels 2017 und 2016
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05_kluger Transhumanismus:
Ich bin kein Fan von Pinocchio-Plots – harmlos naive Roboter, die endlich echte Menschen werden wollen. Zum Glück werden Geschichten über die fließenden Grenzen zwischen Mensch und Maschine aktuell feiner, differenzierter: Wann lassen sich Körper und Bewusstsein trennen? Und – besonders bei weiblichen Robotern: Welche Rolle spielen Objektifizierung, Sex, Machtgefälle?
Empfehlungen: „Westworld“; der schlichte, aber packende Comic „Alex + Ada“. Überschätzt: Ann Leckies Romane über eine KI, die mehrere Körper lenkt und befehligt.
Vorgemerkt: Die TV-Serien „Kiss me First“, „Real Humans“, „Stitchers“ und „Counterpart“ und, ab Ende 2018, „Reverie“. Auch auf die Kinofilme „Alita: Battle Angel“, „Andover“, „Love Thy Keepers“, „Diminuendo“ bin ich gespannt.
mehr: lange Kritik zu Staffel 1 von „Westworld“
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06_Gemeinschaftskunde:
„Black Mirror“ ödet mich oft an: zynische, didaktische, plakative Cautionary Tales über Welten und Gesellschaften, in denen fast alle Menschen sehr, sehr dumm oder sehr, sehr böse sind: Eine Serie, die man 15jährigen im Gemeinschaftskunde-Unterricht zeigen kann. Doch bei der mir oft Grautöne fehlen. Optimistischer, aber vergleichbar: „Philip K. Dicks Electric Dreams“. Mir zu platt, aber sympathisch: „The Orville“. Gefeiert, aber trostlos: „The Handmaid’s Tale“. Und ein Roman-Erfolg, der mich kalt ließ: Naomi Aldermans „Die Gabe“.
Ich bin gespannt auf „Captive State“ (…und enttäuscht über die vielen schlechten Kritiken zur Neuverfilmung von „Fahrenheit 451“). Didaktische Dystopien, die uns aufrütteln sollen, Lehrstücke, Schauermärchen… sind nicht mein Ding. Aber: Cool, wie viele Menschen sich gerade begeistert aufrütteln lassen – und Lust haben auf solche Lektionen.
mehr: Radio-Gespräch mit mir, zu Naomi Aldermans „Die Gabe“, SWR2
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07_Japanische Weirdness: Wir kapieren’s endlich!
Als Fan von Animes wie „Neon Genesis Evangelion“ und „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ freut mich, dass japanische Motive, Tropen, Themen, Eigenheiten in westlichen Mainstream-Blockbustern immer selbstverständlicher werden: Die Miayazaki-Elemente in „Steven Universe“ . „Inception“ – das sich bei u.a. Satoshi Kons (besserem!) „Paprika“ bedient. Mechas und Kaijus in „Pacific Rim“. Auch Videospiel-Welten und -Narrative werden immer öfter in anderen Medien erzählt, z.B. in „Sword Art Online“, Cory Doctorows „For the Win“ oder „Ready Player One“.
Empfehlungen: Ich bin gespannt, ob der Manga „Berserk“ adaptiert wird oder, mit besseren CGI-Effekten, solche Wesen und Bildwelten irgendwo sonst bald eine große Bühne kriegen. Ich mag, dass sich „Rick & Morty“ und „Dr. Who“ immer mehr Weirdness trauen. Und bin gespannt auf Charlie Kaufmans „Chaos Walking“.
mehr: Die besten Mangas – 50 Empfehlungen
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08_Qualität für alle Altersgruppen: das „Star Wars Expanded Universe“
Seit 2015 gibt sich Disney große Mühe mit „Star Wars“-Romanen, -Serien, -Comics: ein neues „Expanded Universe“, für das viele meiner Lieblings-(Jugendbuch-)Autor*innen und Comic-Künstler*innen arbeiten. Statt schnellen Nebenbei- und ferner-liefen-Geschichten bedeutet das „Star Wars“-Logo für mich im Buchhandel mittlerweile: kluge, zugängliche Geschichten über Widerstand, totalitäre Systeme und Politik.
Empfehlungen: Ich mag Claudia Grays „Lost Stars“, die „Darth Vader“-Comics von Kieron Gillen, die TV-Serie „Rebels“ und Jason Frys Jugendbuchreihe „Rebels: Servants of the Empire“; und bin gespannt auf Timothy Zahns „Thrawn“, Claudia Grays weitere Romane, die neue Animationsserie „Star Wars Resistance“, die neue TV-Real-Serie und (immer noch nicht gesehen) „Rogue One“. Auch der „Poe Dameron“-Comic macht Spaß.
mehr: „Star Wars: Das Expanded Universe“ (Deutschlandfunk Kultur)
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09_Afrofuturismus & Diversity
„Star Trek: Discovery“ habe ich sehr genossen. Auch „Black Panther“ macht Spaß. In Deutschland wird die Schwarze Autorin James Tiptree neu entdeckt; Nigerianerin Nnedi Okorafor hat Mainstream-Erfolg, Octavia Butler findet weiterhin neue Fans… Ich wünsche mir noch mehr SciFi von und über Menschen of Color, und freue mich über Autor*innen wie G. Willow Wilson und Saladhin Ahmed. Bitte auch mehr chinesische Stoffe: „The Three-Body Problem“ kann noch nicht alles gewesen sein!
vorgemerkt: „Sense8“ will ich endlich sehen; viele Romane aus dieser Goodreads-Liste (Link)
mehr: SciFi von Frauen; feministische SciFi
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10_Young Adult entschuldigt sich nicht für sich selbst.
Die TV-Serie „Reign“ zeigte Maria Stewart – im Look von „Eiskalte Engel“, Anfang 20, mit Folk-Balladen. Auch „The 100“ denkt, trotz aller Nähe zu „Kampfstern Galactica“ etc., die Teenager-Zielgruppe immer mit: Statt allen gefallen zu wollen, sich möglichst erwachsen zu geben, stecken viele Young-Adult-Romane und -Serien selbstbewusst einen viel engeren Claim ab: Love Triangles, Stil und Mode, junge starke Heldinnen, Romance und Rebellion.
Die Kehrseite: Auch nationalistischer und chauvinistischer Kram, Military SF, libertäre Welten usw. sind so prononciert, laut und plakativ wie selten zuvor: Sad Puppies, Rabid Puppies.
angelesen, gemocht: Anne Tibbets‘ „Carrier“, Monica Teslers „Bounders“, Polly Ho-Yens „Boy in the Tower“
mehr: Diversity & Minderheiten im Jugendbuch
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11_E-Literatur statt Nische.
Dystopien? Werden immer geschrieben, verlegt, gefunden. Fantasy? Auch. Doch eine gewisse Sorte anspruchsvoller Phantastik erscheint erst, wenn es a) dem Land gut geht und / oder b) literarische Autor*innen einfach selbstbewusst erzählen – ohne Angst, in eine Nische sortiert zu werden. Mich freut, dass SciFi-Fans Margaret Atwood ernst nehmen, oder Haruki Murakami – und niemand sagt, das sei ja „nur“ Genre-Kost; und ich freue mich über Menschen wie P.D. James („Children of Men“), die zwischendurch mal Phantastik schreiben – ohne, dass ihnen jemand daraus Vorwürfe macht.
gelesen und gemocht: „Tentakel“ (Rita Indiana). „Lovecraft Country“ (Matt Ruff); angelesen und gemocht: Nick Harkaways Romane, zuletzt „Gnomon“. Und: „The Leftovers“ war als Serie viel anspruchsvoller, ambitionierter, „literarischer“ als die platte Buchvorlage von Tom Perrotta.
mehr: Empfehlung / Rezension zu „Tentakel“, Rita Indiana
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