Erzählerische Kniffe, Humor, Figuren von „Seinfeld“ wirken heute, über 20 Jahre nach den ersten Staffeln, recht angestaubt, konventionell: eine Alltags-Sitcom über misanthrope, weiße New Yorker Singles, verwöhnt und selbstbezogen. Moderne Zuschauer / Nachgeborene vergessen schnell (Link), wie viele Sitcom-Konventionen, -Standards erst in „Seinfeld“ ihre Form fanden:
„Babylon 5“ (TNT / Warner, 1993 bis 1998, fünf Staffeln mit 110 Episoden, später mehrere Filme / Spin-Offs) zeigt Besatzung und Diplomaten / Botschafter einer Raumstation im Jahr 2258, die sich um Frieden zwischen Menschen und einem Dutzend fremder Völker bemüht. Eine Ensemble-Serie mit 20 zentralen Rollen, deutlich billiger inszeniert als die zeitgleich entwickelte „Star Trek“-Raumstation „Deep Space Nine“ (1993 bis 1999)…
…aber mit Erzählfreude, langem Atem und der – damals: unerhörten – Ambition, einen komplexen, durchdachten, fünf Jahre langen „Story-Arc“ zu spannen:
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„Seinfeld“ prägte einen neuen Ton für Sitcoms / Comedy.
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„Babylon 5“ prägte Spannungsbögen, serialized Storytelling.
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Noch heute erzählen viele Serien „episodisch“ (in Deutschland: nahezu alle; in den USA: oft Produktionen des Konsens- und Berieselungs-Senders CBS). Statische Figuren, statische Konflikte, alle Fragen / Probleme zum Ende der jeweiligen Episode gelöst, bewältigt – ein schlichter, klarer, verlässlicher Status Quo, der acht, neun Jahre tragen kann, flexibel genug, um bockige Darsteller zu feuern / zu ersetzen, aber so simpel und einsteigerfreundlich, dass Episoden auch in falscher Reihenfolge oder mit großen Lücken verständlich bleiben.
Viele moderne (meist: einstündige) Drama-Serien dagegen versuchen sich seit „Babylon 5“ an einem durchgängigen Spannungsbogen: Jede Episode soll wichtig sein, Mosaikstein eines komplexen, sich langsam enthüllenden Gesamtbilds:
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„Grey’s Anatomy“, recht konservativ erzählt, plant zu Beginn eines Serien-Jahres Romanzen, Hochzeiten, Unfälle aller Figuren, „Character Arcs“ für jeweils 22 Episoden.
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„Lost“ hatte zwar zur ersten Staffel vage Ideen, was in Staffel 2 oder 3 geschehen kann. Doch erst im vierten Jahr, als ABC einen verbindlichen Endpunkt setzte (sechs Staffeln, 121 Episoden), planten die „Lost“-Autoren Abschluss, Auflösung, finale Dénouements.
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„Babylon 5“ ging einen Schritt weiter – mit einem konkreten Fünf-Jahres-Plan: 5 Staffeln, je 22 Episoden, verschlungene, von langer Hand geplante Routen, auf denen alle Völker, Figuren, Konflikte stimmige, oft tragische / überraschende Endpunkte erreichten.
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US-Schauspieler dürfen sechs Jahre lang für eine Serie unter Vertrag genommen werden – vor Staffel 7 beginnen neue, zähe Verhandlungen. Eine Stunde US-Prime-Time-TV hat fünf Werbeblocks – und viele Drama-Serien-Drehbücher damit fünf Akte und einen Teaser / Prolog. Ein Spielfilm-Drehbuch hat drei – ungleich große – Akte und in der Mitte einen zentralen Wendepunkt… oft also eine Art Vier-Akt-Struktur.
Persönlich leuchten mir – seit „Babylon 5“, 1998 – Fünf-Akt-Strukturen ein:
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Exposition: Figuren. Orte. Fragen. Rätsel. Ärger!
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Steigerung: Böse Überraschungen. Hässliche Wahrheiten. Eskalation!
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Peripetie: Lösungen, Ziele, Hoffnung? Nein: Alles ändert sich.
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retardierendes Moment: Scheitern. Patts. Stolpern. Die Zeit rennt fort.
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Katastrophe: Jeder weiß jetzt, was er tun muss. Wählt, kämpft. Zahlt seinen Preis. Konsequenzen!
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Trotz bester Absichten hatte „Babylon 5“ Schwierigkeiten: Fast 20 erste Episoden, die ein Gefühl falscher Sicherheit vermitteln wollten – aber nur langweilten. Ein Hauptdarsteller, Michael O’Hare, dessen Figur zur zweiten Staffel ersetzt werden musste, und drei zentrale Frauen – Lyta, Talia, Susan Ivanova –, deren Character-Arcs verschoben / auf Ersatz-Figuren übertragen wurden: Staffel 4 führte alle Konflikte hastig, überstürzt zu Ende, weil eine fünfte Staffel fraglich schien… und als Jahr 5 doch noch bewilligt wurde, fehlten dieser letzten („Post-Script“-)Season Überraschungen.
Staffel 2 und 3 von „Babylon 5“ aber sind eine atemblose, klug orchestrierte Parade, nein: Lawine hässlicher Wendungen, Katastrophen und unerhörter, das Macht- und Figurengefüge der Serie erschütternder „Wham-Episodes“ (Link) und „Nothing is the same anymore!“(Link)-Enthüllungen: Mit jeder Szene wird alles schlimmer, schneller, dunkler und globaler / epischer. Sog! Tempo! Dringlichkeit!
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Für „Zimmer voller Freunde“ halfen „Babylon 5“ (und / aber: auch viele misslungene Handlungsbögen, z.B. bei „Veronica Mars“, „Akte X“, „Battlestar Galactica“, „Lost“, „Avatar – Herr der Elemente“) auf mehreren Ebenen:
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Die Umbrüche / Katastrophen / Entscheidungen, die ich behandeln will, geschahen (biografisch) zwischen…
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1997 (…ich war 14, Ende der achten Klasse), und
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2003 (…ich war 20, fertig mit Zivildienst / FSJ, bereit, Heimat und Freunde zu verlassen.)
Mein letzter möglicher „Vorher“-Zeitpunkt – bevor Stoff, Antje, Helena, Sassi, Frank etc. kollidierten – war Spätherbst 1999, Klasse 11; der frühstmögliche Punkt, unsere Geschichten schlüssig zu beenden, das Abitur, Juni 2002: Idealerweise, wenn Leser / Finanzen und Gesundheit stimmen, setze ich „Zimmer voller Freunde“ sofort fort, mit einem Buch über 2000 / 2001, und einem Abschlussband, bis 2002.
Ein „Zimmer voller Freunde“-Kapitel…
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…hat 12 bis 19 Seiten.
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…wird aus der Perspektive von Antje, Stefan oder Frank erzählt.
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…und jeweils sechs Kapitel, ca. 85 Seiten, ergeben einen Akt.
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Anfangs schienen fünf Kapitel pro Akt stimmiger, „symmetrischer“ – doch dieser Fünfer-Rhythmus wird durchschaubar / monoton, weil er nur folgende Optionen / Einteilungen erlaubt:
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2 (selten: 1) Kapitel von Frank.
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2 (selten: 1) Kapitel von Stefan.
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Kapitel von Antje… so viele wie möglich / übrig.
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Ich stellte Akt 1 eine kurze, griffige Eröffnungsszene voran – szenischer / linearer als gewöhnliche Kapitel: ein Prolog / Teaser, in dem Stoff eine überraschende Rolle spielt; und entschied, jeden Akt mit einer (kurzen, schnellen, suggestiven) sechsten Szene im selben Stil zu schließen:
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Prolog, Juni 1999: Stoff, via Antje.
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Akt 1, Juli 1999: Kapitel Stefan – Frank – Antje – Stefan – Frank.
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sechste Szene, Juli 1999: Stoff, via Stefan.
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Akt 2, September 1999: Kapitel Frank – Stefan – Antje – Stefan – Frank.
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sechste Szene, September 1999: Stoff, via Sassi… etc.
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Das klingt abstrakt, verkopft – doch fügt sich schnell zu einem dynamischen, guten „Stundenplan“ – fünf Akte / „Wochentage“, je sechs Kapitel / „Fächer“ – flexibel genug, drei Handlungssträngen (Antje, Stefan, Frank) zu folgen, ohne, dass Leser sofort errechnen, welche Figur „als nächstes kommt“:
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30 Kapitel (und ein Prolog).
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5 Akte: Juli, September und Dezember 99, Mai und Juli 2000.
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Die Handlung des Romans beginnt so spät wie möglich (…keine 20 Kapitel „falsche Sicherheit“, kein langsames in-die-Gänge-Kommen) – doch alle Figuren starten an Orten, absichtlich weit entfernt von ihren jeweiligen Zielen: „Babylon 5“ zeigt einen Feigling, der fünf Jahre später seine Heimatwelt regiert, einen Terroristen, der zum Gelehrten / passiven Widerständler wird, Freundschaften, Gelöbnisse, Allianzen, die überraschend zerbrechen:
Erzähler, die solche Endpunkte schon zu Beginn mitdenken, können sich die jeweils klügste, dramatischste Route wählen, die jede Figur auf ihrem Character-Arc zurücklegen wird. Entsprechend viele Probleme, Ängste, Konflikte, die real / biografisch schon 1997, 1998 bewältigt wurden, bleiben bei „Zimmer voller Freunde“ in der Gegenwart – Sommer 1999 bis Sommer 2000: Ereignisse, Tagebücher, Entwicklungen von 1997 bis 2003 – das wären sechs langsame, getrogene Romane – oder eben: drei schnelle, furiose.
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Meine wichtigste Lektion aus „Babylon 5“ handelt vom Vertrag, den Leser und Autor zu Beginn einer Geschichte schließen:
„The Coming Of Shadows” [Staffel 2, Episode 9] „…[is] a defining moment in the series’ run, a dividing line between what came before and everything after. […] This is a specific event where the rules that viewers thought would hold true for the entire series are no longer true. But this isn’t just an issue of unexpected plot twists. It’s the way those twists are portrayed via magnificent moments, like an instant of horrible luck destroying the possibility of peace. It’s the way a year of developing characters who seem to embody right and wrong is flipped entirely in a scene of impressive dramatic irony. Before the mid-’90s, television didn’t work this way. Babylon 5 was one of the series that opened the door to the possibility that good wouldn’t always defeat evil, when a space station devoted to peace ended up triggering a war.“
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…schreibt Rowan Kaiser auf AVClub.com (Link) – und zeigt: „Babylon 5“ wirkt so dynamisch, dramatisch, unerhört, weil Regeln, Gewichte und Strukturen, die sich die Serie zu setzen schien („Wer sind die Hauptfiguren?“, „Wer sind die Guten?“, „Was ist Funktion, Anspruch, Hoheitsgebiet dieser Station?“) Stück für Stück verdreht, ersetzt, auf den Kopf gestellt wurden:
Eine Welt / Konzept / Ensemble mit klaren Parametern…
…die so rasant und tiefgreifend ersetzt / verwandelt werden…
…bis sich, endlich zeigt:
Es ging – von Anfang an! – um eine andere, komplexere Welt, Parameter, die die handelnden Figuren lange nicht bemerkten oder begriffen.
Die Rollen, die jeder zu spielen glaubt, sind ganz anders als die, die er schlussendlich spielt.
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„Zimmer voller Freunde“ (Link) handelt…
…von Schulhof-Casanova Frank, der alles tut, um „eine liebe Freundin“ zu finden.
…von Außenseiter Stefan, der alles tut, um seine Freundschaften mit Stoff (stolz, schnippisch) und Helena (schüchtern, verkopft) zu retten.
…von Antje, allein, nervös, die alles tut, um neue Ordnung / Sicherheit in ihre Familie zu bringen.
Schwerpunkte, Helden, Lebensziele und Allianzen meines Romans sind leicht verständlich, klar benannt – eine süffige, leicht erzählte Geschichte mit Sympathieträgern und Gegnern, Freunden, Außenseitern, Rivalen, Schurken, klaren Zielen. Und / aber, dahinter: eine andere, größere Geschichte. Die nicht im Exposé steht. Oder im Klappentext:
Atemberaubend, unerhört an „Babylon 5“ waren nicht die Schlenker, Ausfallschritte und Saltos, die diese Serie fünf Jahre lang, in fünf dramaturgisch (meist / überraschend:) stimmigen Akten, schlug – sondern, wie Autoren jedes Jahr sehr überzeugend versicherten: „DAS wäre zuviel!“, „DAS ist nicht drin!“, „DIESE Leute sind sicher!“, „HIER ist die Grenze!“…
…nur, um alle Grenzen – lustvoll, dramatisch, überraschend! – zu überschreiten.
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Stefan Mesch schreibt an “Zimmer voller Freunde”, seinem ersten Roman…
…und – hin und wieder – über Serien und Fernsehen, z.B. hier und hier.
- Poetik / persönlicher Text: „Beverly Hills, 90210“
- Poetik / persönlicher Text: Thomas Wolfe
- Poetik / persönlicher Text: „Dawson’s Creek“
- Poetik / persönlicher Text: „Willkommen im Leben“
- Poetik / persönlicher Text: „Mad Men“
- Poetik / persönlicher Text: „Neon Genesis Evangelion“
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1) Ein guter Artikel über Babylon 5
2) Auch zeitlich sehr passend, die Serie hat ja gerade in 20-Jahr-Jubiläum gefeiert
3) Freut mich, dass ich nicht der Einzige bin, dem dieses Ereignis einen Blog-Eintrag wert war:
http://kritisch-konstruktiv.over-blog.de/article-20-jahre-babylon-5-115598415.html