Literaturkritik im Netz: Kritik vs. Testberichte

literaturkritik.
Stefan Mesch
, geboren 1983 in Sinsheim (Baden), schreibt „Zimmer voller Freunde“, seinen ersten Roman.

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Litlog.de und das Literarische Zentrum Göttingen…
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…stellten mir 7 Fragen über meine Arbeit als Literaturkritiker und Blogger:
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Sind Sie On- oder Offline-Leser?

Ich bin 8 bis 12 Stunden täglich online, lese 30 bis 50 Artikel, Kritiken, Essays, Features im Lauf des Tages und teile / kommentiere sehr viel auf Facebook (Freunde werden?).

Ich lese ebooks auf dem iPad (Garten, Zugfahren, unterwegs) oder, wenn ich Textstellen teilen und markieren will… und keinen Nerv für iTunes, das iPad-Akku, die Konvertierung von .epub zu .mobi und das Update meiner Kindle-Software habe… oft direkt am Rechner.

In meiner perfekten Welt würde ich zehnmal am Tag zwischen Redaktionen, Archiven, Cafés, Buchhandlungen und den Wohnungen meiner Freunde wechseln…

…statt mühsam, krampfig und abstrakt ganze Tage lang nur zwischen Browser-Tabs und Bookmarks zu springen: spröde dargestellte Leseproben bei Amazon, hässliche Verlags-Websites, virtuelle „Bücherregale“ bei Goodreads… vieles könnte flüssiger, sinnlicher, schöner gestaltet sein.

Aber: eine Textstelle lesen… und sie mit fünf Klicks mit der Welt teilen? Über einen Namen stolpern… und sofort Hintergründe googeln? Jedes Jahr erfahre ich leichter, schneller von besseren Autoren und Büchern. Meine Listen, Dialoge, Entscheidungen und Empfehlungen, meine Auswahl und meine Netze werden reicher und effektiver. Ich bin ein Listen- und Register-Nerd. Mir kommt das Netz da SEHR entgegen.

Wahrscheinlich (hoffentlich?) sind Bücher im Netz in 8 Jahren so weit …wie heute Musik:

  • Mein last.fm-Account kennt 62.000 Songs, die ich seit 2006 dort […und im Media Player, von der Festplatte aus] abspielte.
  • Fast 2000 dieser Songs habe ich als Lieblinge markiert.
  • Über 5000 Songs [und ganze Bands] als Titel, die ich nie mehr hören will.
  • Mit diesen Daten spielt mir das Last.fm Discovery-Radio Musik von Künstler*innen, die ich noch nicht kenne.
  • Ich drücke von Zeit zu Zeit, nebenher und ohne viel Aufwand ein „Verbannen“- oder „Lieben“-Symbol. Tagge die besten Songs als persönliche Favoriten. Verbessere mein Radio…
  • …und suche diese neuen Bands dann alle paar Monate noch einmal ausführlich bei Spotify:
  • Mit zwei, drei Klicks kann ich dort alle Songs fast jeder Band durchhören…
  • …mir dabei drei, fünf oder 120 Lieblingstitel speichern.
  • …meine Favorite in mein Spotify-Archiv setzen.
  • …googeln, ob ich Youtube-Versionen oder Gratis-Downloads für Festplatte und den CD-Player im Auto finde.
  • …und meine Entdeckungen bloggen und teilen.

Natürlich wollen Verlage, Buchhändler und Plattformen Walled Gardens schaffen – aber ich… befürchte (?) / hoffe (?), dass Literatur im Netz sehr bald so offen, frei, bequem zu finden und zu teilen ist. Klar stehe ich fünfzigmal lieber in einer großen Buchhandlung in New York und lese alle Neuerscheinungen Probe. Aber dass ich auch hier in der Provinz, im Dorf, den Laptop auf den Knien – den Literaturbetrieb verfolgen kann… macht meine ganze Existenz als freier Literaturkritiker und Autor erst möglich.

Karla Paul sagt oft, sie schätzt e-books beim Reisen und Pendeln. Hörbücher beim Joggen oder Sport. Gebundene Bücher im Bett. Je mehr Formate ihr angeboten werden, desto leichter kann sie Bücher in jeder Spalte ihres Alltags unterbringen. Das ist das größte Glück von digitalem Lesen. Leichter. Schneller. Flexibler. Mehr. Ganz andere Bücher finden plötzlich in mein Leben.

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Welches Buch empfehlen Sie uns? Warum?

Ich empfehle…

Für ZEIT Online schrieb ich 2011:

Zum Heulen klug. Egal, wie „wichtig“ oder „lohnenswert“ ein Buch sich liest – es bleibt ein kleiner Sarg, in dem ein Nachmittag oder ein Wochenende begraben liegt: Der Sommer ist halb vorbei. Die Tage werden kostbarer und kürzer. Wie viele Fehlstarts, Umwege und Sackgassen erträgt ein gutes Leben? Gabriel Bá und Fábio Moon, Zwillingsbrüder aus São Paulo, zeigen in Daytripper zehn End- und Wendepunkte im Leben des brasilianischen Journalisten Bras de Olivias Dominguez. Bras schreibt die Nachrufe der Tageszeitung. Doch seine eigenen Träume müssen warten, jahrelang. Auf Deutsch ist der zum Heulen kluge Comic vorerst nicht geplant. Dann also: Die US-Ausgabe! So brutal zärtlich, ernst und hoffnungsvoll brüllt kaum ein anderes Buch: „Du stirbst. Wach auf! Fang an, zu leben!“

Gabriel Bá, Fábio Moon: DaytripperDC Comics / Vertigo Verlag 2011, 256 S., 14.50 Euro. Deutsche Ausgabe bei Panini 2013, 256 Seiten, 24.99 Euro.

Meine 20 bis 30 Lieblingsbücher empfehle ich einmal pro Jahr hier:

Ältere Favoriten sind hier gesammelt:

Und hier alle Bücher, die ich Freunden und Familie schenke – mit ihren Reaktionen:

Heute aber – so empathisch es nur geht: „Daytripper“! Denn Comics sind teuer. Schwer zu finden. Und vielen Menschen schon als Gattung / Form suspekt. Begeisterung und Respekt für Comics zu vermitteln ist selbst bei Leuten, die Romane verschlingen, oft viel, viel zu schwer. Deshalb nochmal, mit aller Begeisterung: Selbst, falls euch Comics bisher enttäuschten – investiert in dieses Buch!

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Leseanregungen holen Sie sich bei (Magazin, Zeitung, Blog)?

Im Februar 2013 habe ich für Christoph Koch super-ausführlich aufgeschrieben, was ich lese – und wo.

Ich würde sehr gern „Ein Lied von Eis und Feuer“ lesen. Und Karl-Ove Knausgard. Jede Zeile Dietmar Dath oder W.G. Sebald. Und abends erstmal „Homeland“ sehen. Jedes Jahr kommen 100, 200 Titel, „über die alle Welt spricht“ – doch ich versuche, mir damit nicht zu viel Lese- und Entdeckungs-Zeit zu nehmen:

Ich will Bücher finden, die niemand kennt – aber so viele Leute wie möglich kennen sollten.

Ich sehe mich als Scout. Entdecker. Archäologe.

Niemandem ist geholfen, wenn ich die selben Bücher finde und lobe wie Iris Radisch oder Denis Scheck. Ich bin Experte für US-Literatur. Für Graphic Novels und Superhelden. Und für Schnittstellen zwischen Genre – Sci-Fi, Horror, Krimi, Chick Lit – und klassischem Erzählen. Und: Ich suche Bücher, die Abschied und Verlusterfahrungen beschreiben.

Ich habe einen Goodreads-Zweitaccount, in dem ich alle Bücher, die mich interessieren, markiere.

Neue Titel finde ich u.a. bei KirkusBook RiotEric ForbesThe Millions. Über Freunde / Kuratoren wie Oriana LeckertMara GieseJan Drees und den We Read Indie-Bloggerinnen. In meinem RSS-Reader sind u.a.

Zweimal im Jahr lese ich durch alle 400 bis 600 deutsche oder ins Deutsche übertragene Romane, die neu im Perlentaucher verzeichnet sind, und vor den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt kucke ich nochmal gründlich durch alle Belletristik-Neuerscheinungen bei Amazon.

Einmal im Monat sammle ich je 15 Bücher, die ich spannend genug fand, um sie zu kaufen / zu lesen im Blog, unter der Reihe „Underdog Literature“. In den letzten Monaten waren das u.a.:

Vom Zeitpunkt, an dem ich zum ersten Mal von einem Buch höre… bis zum Moment, in dem ich tatsächlich die ersten Seiten lese, können Monate vergehen. Und dann noch einmal Jahre, bis der Titel auch auf Deutsch erscheint und ich Grund und Auftraggeber für eine Rezension gefunden habe.

Trotzdem bin ich sehr froh, so viel Zeit im US- und im kanadischen Markt zu verbringen, und in Nischen wie Comics oder Science Fiction. Im Gleichschritt mit 20 anderen deutschsprachigen Kritikern durch die deutschen Verlagsvorschauen blättern… das ist oft der langweiligste Teil meiner Suchen. 🙂

2014 WordPress Regal

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Sie versuchen, Menschen von Ihrer Idee zu überzeugen, indem…?

Reden wir übers große Ganze?

Aber: Mir fehlen Verbissenheit und Ehrgeiz, EINEN Menschen zu EINER Idee zu bekehren. Meist habe ich Fragen. Keine fertigen Thesen. An solchen Fragen zu arbeiten… in Texten… und dann MIT ANDEREN immer neu, immer weiter zu reden… ja. Bitte! Ich bin Kulturjournalist. Ich will mein ganzes Leben Text aufsaugen… und in eigenen Texten weiter denken!

Oder ist die Frage nur:

„IHR Urteil? Als Kritiker? Warum sollte ICH dem trauen?“

Als Lektor, als Leser und in den Textwerkstätten und Redaktionssitzungen im Studium half es oft, zu fragen: Was will der Text? Wohin will diese Erzählung? Welche Ansprüche setzt diese Stimme an sich selbst – und (wie?) kann es sie erfüllen? Meist lässt sich schon ein gutes Stück vor Abschluss / Ende besser erkennen, was ein Text zu sein versucht – und ob ihm das gelingt. Wer Kritiken schreibt, trägt seine Hoffnungen, Maßstäbe, Ansprüche und seinen Hunger an ein Buch. Als Kritiker zu belegen und in Worte zu fassen, auf welche Weisen, auf welchen Ebenen ein Buch gelingt und scheitert, klappt nur, wenn ich selbst transparent mache:  DAS war meine Hoffnung. DAS ist mein Maßstab. HIER liegt mein Anspruch.

Wer meine Kritik liest, muss beides an sich prüfen können:

Ob das Buch zu ihm passt. Und, ob ich als Kritiker ähnliche Dinge verlange, suche, brauche wie er als Leser.

Ihre absolute/r Lieblingskritiker/in? Warum er/sie?

„Ist das Buch eher gut – oder schlecht?“ Dafür brauche ich oft noch keine Kritik. Meist hilft schon, ganz brachial, ein Goodreads-Massen-Votum. Zufriedene Masse = deutliches Signal: IRGENDWAS macht dieses Buch richtig. Nochmal genauer reinkucken! Leseprobe lesen!

„Ist das Buch eher gut – aber gibt es Probleme?“

Auch dafür lese ich selten eine Kritik – sondern lieber ein paar knappe 2-, 3-Sterne-Rezensionen: Wer war enttäuscht? Wird mir diese Enttäuschung plausibel gemacht? Falls nicht: Eigene Meinung bilden! Leseprobe lesen!
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„Ist das Buch vermutlich sehr, sehr gut?“
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…dann lese ich das Buch statt der Kritik.
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„Ist das Buch vermutlich gar nichts für mich?“
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…DANN lese ich die Kritik. Um zuzusehen, wie andere Menschen sich am Titel abarbeiten. So, als würden Kritiker-Kollegen auf Dates gehen – mit Partnern, auf die ich selbst erstmal keine Lust habe. Als Leser der Kritik bin ich – mit sicherem Abstand – dabei. Und egal, ob es Küsse gibt oder Streit, eisiges Schweigen oder eine große Liebe: Ich lerne viel über den Kritiker. UND das Buch. Und sehe danach oft beide mit anderen Augen.

Kritiker, die ich mag?

…in Sachen Film / TV. Und in Sachen Comics:

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Welches Buch lesen Sie als nächstes? Wieso?

Zum Erscheinen der deutschen Ausgabe von „The Odds“ / „Die Chance“ will ich Stewart O’Nan interviewen: meinen lebenden Lieblingsautor. Ein paar kleinere Bücher von ihm hole ich jetzt nach, zur Vorbereitung: „Der Zirkusbrand“„Sommer der Züge“ und „Faithful“, mit Stephen King.

Zweimal im Jahr, im Sommer und zu Weihnachten, geben Redakteure und freie Mitarbeiter von ZEIT Online möglichst aktuelle Buchtipps. Kandidaten für meinen Sommerbuchtipp sind gerade:

Privat / zum Vergnügen lese ich gerade noch „Tango für einen Hund“ von Hildesheimfreundin und -Kollegin Sabrina Janesch (Mitte Juli im Aufbau Verlag), ein „Tschick“-artiges, sehr süffiges und gut gelauntes Niedersachsen-Road-Novel. Mein nächster Comic wird die „Adventures of Superman“-Reihe [ich bin großer ‚Superman‘– und Lois-Lane-Fan], danach neue Bände von „Batwoman“„Wonder Woman“ und „Saga“.

Mein „Currently Reading“-Regal auf Goodreads: Link.

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Drei Zutaten einer idealen Literaturkritik:

Die schnelle Tendenz (gut oder schlecht?) kann schon die Schwarmintelligenz aufzeigen.

Die Stärken und Schwächen / Pros und Cons stehen in Testberichten von Rezensenten.

Eine Kritik aber, oft über 4000 Zeichen lang, macht mich glücklich, wenn sie MEHR bietet als einen engen „Ist das gut? WAS ist gut?“-Blick auf EIN Buch:

Ich will den Autor kennen lernen und verstehen.

Ich will den Kritiker kennen lernen, verstehen (und, gerne: lachen!).

Und ich will IRGEND ETWAS über die Welt lernen und verstehen, das mir zeigt: Du hast grade nicht nur einen Testbericht zu einem Buch gelesen, das du vermutlich niemals lesen wirst (und wolltest). Sondern: etwas Größeres erfahren, von dem ein Kritiker sehr sicher war, dass du es wirklich, wirklich wissen solltest.

A.

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am Samstag, 24. Mai 2014 gab ich ein Uni-Seminar in Göttingen: Freier Journalismus: Profile, Chancen, Social Media

“Wer schreibt, liest, publiziert? Wer findet seinen Platz? Wer wird gehört? Stefan Mesch, 31, schreibt Essays, Features, traditionelle Literaturkritik u.a. für ZEIT Online und den Berliner Tagesspiegel. Themen finden, an Redakteure pitchen, Formen und Profil als Kritiker entwickeln sind sein halbes Leben.

Die andere Hälfte? Social Reading. Bloggen. Scouting – und die Arbeit am ersten Roman. Im Workshop für ca. 20 Teilnehmer, Samstag, 24. Mai, werden Schreibhaltungen, Leser- und Verlagsprofile, Nischen, Plattformen im Netz und Strategien zum Einstieg und zur täglichen Arbeit als Kulturjournalist vermittelt:

Mainstream? Abseits? Gegenkultur? WO kann ich sprechen? Und wovon soll ich leben? Eine erste Hilfe.

Danach war ich – zusammen mit Harun Maye [Link] auf DIESEM Podium [Link] im Literarischen Zentrum Göttingen. Artikel u.a. hier:

Vielen Dank an das Zentrum… und Johanna Karch, Peer Trilcke, Kai Sina und Christian Dinger. Gerne immer wieder!

Ein Kommentar

  1. Lieber Herr Mesch,
    durch diesen Beitrag (vor allem durch die vielen Links) durfte ich Sie und Ihre Haltung kennenlernen. Ich bin sehr angetan und Ihr Blog ist nun auch in meiner Blogmappe, in der ich regelmäßig blättere und lese.
    Gefunden habe ich Sie übrigens über den Umweg Stephan Porombka … erst sein Buch „Schreiben unter Strom“, dann seinen Blog und seine „irgendwie irre“ Facebookseite.
    Freue mich auf weitere Artikel von Ihnen.
    Liebe Grüße
    Jochen K.

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