Deutscher Buchpreis 2015 an Frank Witzel: Empfehlung. „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1968“, Matthes & Seitz Verlag

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Für „der Freitag“ las ich alle sechs Romane auf der Shortlist zum deutschen Buchpreis 2015:

„Und was, falls dann doch Frank Witzel gewinnt? Für seinen brillant verquasten, übervollen, herrlich sperrigen Jugend- und Provinzroman Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969? 800 Seiten Jugendängste, Wahn, 60er-Jahre-Jargon, Katholizismus und Neurosen, in 99 grellen Kapiteln immer neu gekreuzt, verschränkt. Literarische Apophänie: Was, wenn die Beatles Märtyrer wären? Mein Leben ein Schneider-Jugendbuch? Die RAF unser Kinderclub? Was, wenn dieses eigensinnige, wagemutige, bekloppte, brillante Buch Bestseller wird? Und Tagesgespräch?“

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“Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969”, Frank Witzel, Matthes & Seitz

“Ein Spiegelkabinett der Geschichte im Kopf eines Heranwachsenden: Erinnerungen an das Nachkriegsdeutschland, Ahnungen vom Deutschen Herbst; das dichte Erzählgewebe ist eine explosive Mischung aus Geschichten und Geschichte, Welterklärung, Reflexion und Fantasie: ein detailbesessenes Kaleidoskop aus Stimmungen einer Welt, die 1989 Geschichte wurde. Ein mitreißender Roman, der den Kosmos der alten BRD wiederauferstehen lässt.” [Klappentext, gekürzt.]

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

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Der 800-Seiten-Roman spielt 1968 in einem Vorort von Wiesbaden und folgt einem 13jährigen, in 99 Kapiteln – von denen fast jedes anders klingt und viele einen parodistischen Quatsch-Tonfall haben, z.B. die Floskeln eines Jugendbuchs oder den Panik-Tonfall der RAF-Berichterstattung.

Es geht um Sprachmüll, BRD-Muff und die Armut, mit den falschen Worten etwas festhalten, ausdrücken, auf den Punkt bringen zu müssen – ein Gefühl, das 13jährige gut kennen.

Der Roman ist sehr verspielt – jedes Kapitel ist eine literarische Versuchsanordnung, in dem Jargon (z.B. aus einer Musikzeitschrift) auf ein anderes Themenfeld (z.B. auf die Schule) getragen wird. So entsteht viel… wilder, windschiefer… Quatsch. abgegriffene Worte, in neuen, überraschenden Zusammenhängen.

Literarisch/psychologisch mach das viel Spaß: ein Junge, der als Messdiener jahrelang Gewäsch über Heilige und Märtyrer aufgesaugt hat und jetzt in Musikzeitschriften über die Beatles und in den Nachrichten über die RAF hört, spricht über die Beatles… wie über Märtyrer. Über die RAF… wie Popstars. Nicht als witziges Spiel – sondern aus Unvermögen: seltsame Welten werden durch die jeweils falschen Sprach- und Wahrnehmungsbrillen betrachtet. Die einzigen Brillen/Wortschätze eben, die der 13jährige bisher hat.

Warum ist das literarisch toll – und warum dauert es 800 Seiten? Weil Witzel noch etwas Größeres probiert/durchspielt/erzählt, das mich sehr überzeugt: Apophänie ist die Störung, Zusammenhänge und Leitmotive zu sehen: https://de.wikipedia.org/wiki/Apoph%C3%A4nie

…und die meisten Romane nehmen eine Figur, ein Stück Gegenwart oder Zeitgeschichte und ein paar Motive und sagen: „Schaut. Winnetou und die RAF – da sind schon Parallelen“ oder z.B. „Dawson Leery und Stephen Spielberg: Das wird immer wieder interessant gegeneinander gestellt und hinterfragt – dieser All-American Idealismus.“ wir erzählen uns unsere Leben selbst in solchen Mustern, finden uns in Popkultur, ziehen Parallelen.

Witzel zieht 800 Seiten lang Parallelen, die IMMER beliebiger und absurder und wahnhafter werden und dabei zeigen: Solche Netze sind sehr schnell gesponnen. Aber dabei eben oft: spinnert. „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1968“ setzt, versuchsweise, ALLES in Zusammenhang – auch, um dabei zu zeigen, wie leichtfertig und hilflos Menschen solche Zusammenhänge suchen, um sich ihr Leben zu erklären, und – Meta, Meta! – wie schnell Autor*innen solche Zusammenhänge zimmern können.

Wie gesagt: Ich finde es schwierig, ein Buch zu empfehlen, bei dem ich z.B. von Seite 200 bis 300 dachte „Hm. Das hätte man jetzt alles einfach streichen können.“ Der Roman ist sehr lang, und ich weiß nicht, ob er Gelegenheits- und Hobbylesern genug gibt, über diese 800 Seiten hinweg. Versteht man erstmal, worum es geht – Lebenswelten in jeweils „falschen“ Sprachwelten durchzunudeln, in immer anderen Kombinationen – passiert nicht mehr viel: es nudelt halt 99 Kapitel lang durch. sprachlich toll. aber einen packenden Plot oder besondere Auflösungen zum Schluss gibt es nicht.

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Im Freitag (Link) schreibe ich:

„“Wer 2015 nur ein einziges Buch lesen kann, dem empfehle ich gestrost Jenny Erpenbeck, Gehen, ging, gegangen. Kosten: 19 Euro 99, Umfang: 352 Seiten. In kaum zehn Stunden Lesezeit bewältigt und verstanden. Simple Sprache. Viel Wissenswertes zu Asylrecht und Geflüchteten. Der Alltag afrikanischer Männer in einer Berliner Unterkunft, beäugt von einem skeptischen deutschen Professor in Rente. Altern, Heimatlosigkeit, DDR-Vergleiche. Kulturen im Dialog. Fünf von fünf Sternen. Lesenswert! Besonders auch für Schulklassen. Aber zählt dieser simple, muntere, gut gemeinte Asylroman zu den größten literarischen Leistungen 2015? Ist er buchpreiswürdig?“

„Egal, wer 2015 gewinnt: Favoritin Erpenbeck, Meister Witzel oder einer der holprigeren vier Titel: Keines dieser sechs angreifbaren, erstaunlich windschiefen Bücher im Finale passt gut zum Preis. Alle haben Angriffsflächen, große Schwächen. Peltzer, Witzel sind zu träge, Schwitter, Lappert zu seicht, Mahlke, Erpenbeck keine augenfällig „große“ Literatur. Ich will kein Buchhändler sein, der den Gewinner durchs Weihnachtsgeschäft bringt.“

Deshalb nochmal, als gefälligere Verschenk-Empfehlung:

Jenny Erpenbeck, “Gehen ging gegangen”, Knaus

  • Shortlist zum deutschen Buchpreis 2015
  • 352 Seiten, Knaus
  • Professor mit Sinnkrise sucht Kontakt zu Geflüchteten am Berliner Oranienplatz
  • politischer Roman über die Frage, wie Engagement hilft und was Menschen einander geben können: die Sprache ist sehr simpel, vieles wirkt didaktisch, erklärend, etwas kunstlos… aber keinem Buch wünsche ich 2015 mehr Leserinnen und Leser. Informativ, menschlich, sympathisch und klug.
  • ich mochte “Das alte Kind” nicht, Erpenbecks staubige, viel zu betuliche Kurzgeschichten. auch hier im Portrait wirkt sie verkrampft (Link: könnte aber auch an der Journalistin liegen). aber “Heimsuchung” gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Erpenbeck ist keine sehr “junge” oder frische Erzählerin.

“Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika zu suchen, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.” [Klappentext, gekürzt.]

Gehen, ging, gegangen …und, große Empfehlung: Heimsuchung

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