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Am 16. November (Montag) spreche ich bei Deutschlandradio Kultur ab kurz nach 10 Uhr über die aktuell erfolgreichste Comicreihe der Welt: „Attack on Titan“.
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„Attack on Titan“ ist ein monatlich erscheinender japanischer Horror-/Fantasy-/Action-Manga für Jugendliche. Pro Monat erscheinen ca. 40 Seiten in einem Magazin; alle ca. 5 Monate erscheint ein Sammelband mit 4 bis 5 Kapiteln, seit 2009. Diese bisher 18 Sammelbände sind ein Bestseller in Japan, den USA und Deutschland. Die Reihe soll ca. 2017 enden.
2013 erschien eine Anime-Serie, die Band 1 bis 8 adaptiert, seit Oktober 2015 läuft eine zweite Staffel. Diese TV-Adaption ist handwerklich besser als der Manga, aber in erster Linie ist „Attack on Titan“ weiterhin ein Print-Erfolg. Im Sommer 2015 kam eine Realverfilmung in die Kinos – mit schlechten Kritiken/wenig Resonanz.
Ein 3-Minuten-Trailer zur TV-Version, der Figuren, Stimmung und Militarismus gut einfängt:
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6 Thesen, Eigenarten:
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„Attack on Titan“…
…ist amateurhaft: Hajime Isayama, geboren 1986, ist Zeichner und Autor. 2009 war er erst 22. Mangas sind oft SEHR virtuos gezeichnet. „Titan“ ist der zeichnerisch schlechteste, den ich kenne: Perspektive, Hintergründe, Charakterdesign… alles wirkt lieblos und anfängerig. Das ist toll, weil: Der Manga wirklich durch die Geschichte zum Erfolg wurde. Nicht durch Schauwerte oder Oberflächen. [Die TV-Version ist deutlich hochwertiger.]
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…ist „deutsch“: Der Manga spielt in der Zukunft oder auf einer parallelen Erde. Seit 107 Jahren verschanzt sich die Menschheit irgendwo in Zentral- oder Osteuropa hinter drei riesigen Mauern/Festungskreisen. Die ärmsten Menschen leben in den äußeren Gebieten, die Oberschicht im sicheren Zentrum. Es gibt keinen Strom und keine Motoren, die Architektur erinnert an deutsche Fachwerkstädte wie Nördlingen, im reichen Zentrum an die Gründerzeit in z.B. Berlin.
Die Figuren heißen „Eren Jäger“, „Annie Leonhardt“, „Christa Lenz“ oder, alberner, „Flegel Reeves“, „König Fritz“ usw., der japanische TV-Titelsong beginnt mit den deutschen Worten „Seid ihr das Essen? Wir sind die Jäger!“
Im März, auf der letzten Leipziger Buchmesse, sah ich MASSENWEISE Cosplayer/Fans in Uniformen. Die „Titans“-Welt ist preußisch/altdeutsch, germanophil, Soldatin Makisa Ackermann ist halb-Asiatin und damit vielleicht der letzte nicht-weiße Mensch. Denn hinter den Mauern warten Riesen/Titanen: 3 bis 50 Meter hohe Wesen, die Menschen verschlingen/fressen und nur durch einen Schwerthieb durch den Nacken getötet werden können.
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…ist Shonen: Es gibt vier Sorten Manga: Josei für erwachsene Frauen, Seinen für Männer, Shojo für Mädchen und Shonen – für Jungs. Wie fast alle in Deutschland erfolgreichen Manga ist „Attack on Titan“ ein Shonen-Titel. Action, kaum interessanten Frauen, ein junger, ungestümer Held mit besonderen Fähigkeiten, von dessen Leistung das Schicksal der ganzen Welt abhängt. „Attack on Titan“ ist konventionell – aber eben ein zeitgemäßer, spannender, süffiger Einstieg ins Genre „Shonen“ oder ins Medium „Comics“. Und: die Reihe ist zynischer, blutiger, weniger idealistisch als bisherige Shonen-Erfolge („Dragonball“, „One Piece“). Ein Junge geht zum Militär, um Riesen zu zerstören – um jeden Preis.
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…ist eine Zombie-Geschichte ohne die Frage nach Werten: Die Titans sind wie Zombies – nur (sehr japanisch) groß wie Godzilla/Kaiju-Monster. In vielen Zombiegeschichten ist die Regierung passé, Figuren müssen sich als Gruppe organisieren und entscheiden, an welchen Werten sie festhalten. Bei „Attack on Titan“ dagegen gibt es ein Militär, dem man sich unterordnet: Gehorsam, Uniformen, Militarismus, Wir-gegen-die-Rhetorik. Der Comic ist halb „Harry Potter“ (zwei Jungs, ein Mädchen machen eine gefährliche Ausbildung), halb Militär-Werbung. Der sympathische „Titan“-General Pixis ist dem Kaiserlichen General Akiyama nachempfunden – der Invasionskriege gegen China und Korea führte. Auch deshalb wird „Attack on Titan“ in Korea und China boykottiert, der Autor erhielt Morddrohungen.
Der sympathischste Kommandant, Erwin Smith, hat… Erwin Rommel zum Vorbild.
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…ist ein ontologisches Rätsel: Ähnlich wie Mystery-Serien wie „Lost“ funktioniert „Titan“ auf zwei Ebenen. Abenteuer, Überlebenskampf, Verfolgungsjagden auf Pferden und durch Wälder… und, größer: die Frage, wie diese Welt funktioniert. Woher kommen die Titanen? Was liegt jenseits der Mauer? Spielt die Handlung ca. im Jahr 4000, nach einem riesigen Krieg – oder in einer Märchenversion des späten 19. Jahrhunderts? Immer neue Rätsel und Geheimnisse sind wichtiger als Figurenpsychologie oder Logik, und wie bei vielen ontologischen Rätseln kann man vor Ende nicht sicher sagen, ob die Geschichte „gut“ ist oder nicht. Bisher wird sie in 18 Bänden immer hanebüchener, aber auch immer packend-geheimnisvoller.
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…ist reaktionär: als die Titanen die äußerste Mauer durchbrechen, verliert die Menschheit ein Drittel ihres Landes. Alle flüchten sich hinter Mauer 2 – doch weil das Essen knapp wird, sperrt der König die Unterschicht (20 Prozent der Menschheit) aus und lässt sie von Titanen fressen. Sozialdarwinismus, sehr viel Gerede über „wertlose“ Menschen oder die „Verschwendung“, Schwachen zu helfen… „Attack on Titan“ erzählt eine zynische Geschichte und zeigt eine mitleidslose, fremdbestimmte Welt, die Teenager anspricht. Die Adligen sind dekadent, der Staat machthungrig, die Priester böse, Zivilisten dumm und nutzlos. Nur das Militär kann uns retten.
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- „Jeder ist ein Sklave einer Sache oder Idee.“
- „Es gibt keine guten und schlechten Menschen: Wer unbequem ist, wird ’schlecht‘ genannt“
- „Wenn die Ressourcen knapp werden, muss sich jede Minderheit der Mehrheit anpassen.“
- Nur, weil Soldaten sich opfern, „können die gewöhnlichen Menschen immer weiter leben, ohne etwas zu schaffen, bis sie irgendwann sterben.“
Zäune. Mauern. Opfer: „Attack on Titan“ zeigt eine grausame, existenziell beklemmende Welt – drastisch, ohne Empathie für Schwächere, jugendlich-pathetisch, wütend… und rechts. faschistoid?
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Manga-Empfehlungen:
- mein aktueller Lieblings-Manga ist „I am a Hero“
- mein TV-Favorit: „Neon Genesis Evangelion“
- mein Lieblings-Animefilm: „Nausicäa“
- als Schüler mochte ich „Die Königin der 1000 Jahre“, „Lady Oscar“, „Sailor Moon“, „Wish“ (Clamp) und „Dragonball“ (nur die Mangas, nicht die Serie).
- seitdem las und mochte ich u.a. „Yotsuba“, „Bakuman“, „Honey & Clover“, „Twin Spica“, „Sakamichi no Apollon“, „With the Light“ und, mit gewissen Abstrichen, „Young Bride’s Story“, „Homunculus“, „Pluto“, „Planetes“ und „Ooku: the Inner Chambers“.
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