stefan mesch

Internationales Literaturfestival Berlin: „Spielung“ zu „Die Säulen der Erde“ (Ken Follett, Daedalic Entertainment) & „literarisches Videospiel-Quartett“

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…über Videospiele sprechen wie über Literatur?

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Ich besuchte die Podiumsdiskussion und die anschließende Spielung von „Die Säulen der Erde“ am 10. September 2017 für Deutschlandfunk Kultur – und ziehe am Montag, 11. September zwischen 14 und 15 Uhr als Studiogast im Kulturmagazin „Kompressor“ ein Fazit.

Schon jetzt, hier im Blog: meine Ideen & Beobachtungen.

Das Internationale Literaturfestival Berlin und die Stiftung Digitale Spielkultur luden vier Podiumsgäste und Moderator Marcus Richter zu zwei Events ins Institut Francais: ein „literarisches Quartett“ für digitale Spiele unter dem Titel „Der Weg des digitalen Spiels ins Feuilleton“

Wie im „literarischen Quartett“ brachten alle vier Gäste jeweils ein – literarisches, innovativ erzähltes, eigenwilliges – Werk mit und stellten vor, wie im jeweiligen Spiel Geschichten erzählt werden: „Dishonored 2“ (Görig), „Firewatch“ (Löffler), „The Stanley Parable“ (Tamer), „Event 0“ (Wild) . Alle vier Spiele wurden via Leinwand (Trailer + Aufzeichnung einer laufenden Spielsituation) gezeigt, und alle 5 Menschen auf dem Podium unterhielten sich dann über Qualität, Narration, Erzählräume und gaben eine kurze Wertung ab.

Nach 90 Minuten und Pause begann dann eine „Spielung“: Auf der Leinwand spielte jemand die Ken-Follett-Videospiel-Adaption zum Historienroman „Die Säulen der Erde“, und Moderator Marcus Richter stellte der Co-Autorin Valentina Tamer Fragen zur Dramaturgie, den kreativen Entscheidungen und zur Spielmechanik. Tamer war konzis… doch ich fand diesen Teil des Abends zu werbend:über Schwächen, Probleme, Konflikte des Spiels wurde kaum gesprochen, und was ich auf der Leinwand sah, wirkte recht freudlos, schleppend, drittklassig.

[Die Spielung lief nicht wie ein Let’s-Play-Video auf Youtube, in dem ein Gamer spielt und gleichzeitig sein Spielen kommentiert. Stattdessen klickte sich jemand „backstage“ und ohne eigene Worte/Kommentare durchs Spiel, und Valentina und Marcus sprachen gleichzeitig auf der Bühne eher abstrakt über das Spiel per se: Sie kommentierten den Spielverlauf nur punktuell.]

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– Spiegel-Autor Carsten Göring schreibt wunderbare Texte, zuletzt z.B. hier: http://www.spiegel.de/netzwelt/games/life-is-strange-before-the-storm-im-test-das-taugt-die-erste-episode-a-1165701.html …doch hatte größere Mühe, zu veranschaulichen, WAS jetzt konkret so interessant/spannend war an der Backstory und dem World Building des Spiels, das er sich aussuchte: Mir ist weiterhin nicht klar, was „Dishonored 2“ mit Zeitreisen/-sprüngen zu tun hat, wer wie und wann in welche Körper springt/morpht und, warum im Trailer z.B. Schatten-Tentakel in der Ego-Perspektive Gegner durch die Luft schleudern. Und: eine industrielle Revolution, befeuert durch die Walöl-Industrie? Klingt toll. Aber alle sprachen zu lange darüber, wie „toll“ und „tief“ das geht, zu wenig, WAS konkret sie da so rührt oder erzählerisch überzeugt.

– Moderator Marcus Richter stellte fast im Minutentakt Variationen der Frage „Aber WAS genau ist jetzt so besonders daran?“. Das war hilfreich, um uns im Publikum zu vermitteln, WO hier Innovationen oder erzählerische Tiefe und Tricks wirken… doch menschlich/psychologisch ein wenig ablehnend/negativ. Sehr viel „ABER…“, „Und das ist alles?“, „Und das ist interessant, weil…?“

– Die anschließende, ca. einstündige „Spielung“ von „Die Säulen der Erde“ machte Spaß, doch insgesamt wirkte das Spiel drei Stufen weniger innovativ, mutig, sehenswert wie die vier Games zuvor. Ich verstehe, dass man „Säulen der Erde“ auswählte (eine aktuelle Bestseller-Adaption aus Deutschland, und eine kluge, wortgewandte Co-Spielautorin als Gast)… doch mir vermittelte sich nicht, was SO besonders an diesem Spiel ist. Nur eben, welche Mühe die Co-Autorin Valentina Tamer hatte, für den sehr ausufernden Romanstoff ein spielbares, mitreißendes Korsett/Gerüst zu finden, und, was dabei neu hinzu kam (z.B. Mini-Geschicklichkeitsspiele) und was eher störte, verloren ging oder überflüssig war (z.B. die Vergewaltigung der weiblichen Hauptfigur: im Roman von 1989 schien Follett das nötig, um die Heldin für den Rest des Buches zu motivieren. Autorin Tamer ersparte uns diesen Rape-as-Backstory-Kniff und fand eine bessere erzählerische Lösung).

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Ich mochte, dass sich der Abend wirklich in JEDEM Satz an interessierte Nicht-Expert*innen wandte: Jeder Fachbegriff wurde erklärt, alle wollten so bildhaft und wenig insidersprachlich wie möglich sprechen. Das Publikum konnte mühelos folgen. Ein gutes Konzept, ein Format, von dem ich mir Fortsetzungen wünsche und das ich empfehle.

Marcus Richter: „Der Weg des digitalen Spiel ins Feuilleton? Wir wollen heute Abend gar nicht darüber diskutieren, ob und wie man das machen sollte – wir MACHEN das einfach!“

Der Abend war ein konkreter Versuch, das umzusetzen – keine Grundsatzdiskussion darüber, ob das umsetzbar ist: Spiele im Feuilleton zu besprechen. (Natürlich ist es das! Die Frage stellte sich zum Glück auch niemandem auf dem Podium oder im Saal.)

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kurz notiert/mitgetippt/paraphrasiert…

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zu „Dishonored 2“, Carsten Görig: „Auftragsmörder-Sein, das ist die Aufgabe, die das Spiel stellt – doch von der Spielerzählung her muss man das gar nicht. Wenn man sehr weit rein geht, findet man tiefere Ebenen, auf denen Sachen erzählt werden, die nicht offensichtlich sind. Oberste Ebene: der vordergründige Aufrag, den man erfüllen soll. Das, was EIGENTLICH erzählt wird, liegt mehrere Ebenen darunter. Die kleinen Geschichten über die Historie der zu erkundenden Stadt sind viel interessanter als der unmittelbare Plot, der darüber liegt: Man findet z.B. Abschiedsbriefe, entdeckt viele Details, das Programmierstudio baut eine Welt aus kleinen Erzählungen. Ich könnte einfach Stunden durch die Stadt im Spiel gehen und alle Orte der Stadt/des Spiels sollen mir etwas erzählen: Was geschah hier vor 5 Minuten, vor 10 Minuten, gestern, vor 100 Jahren? So zeichnet ‚Dishonored‘ eine Kolonialgeschichte nach: Es gibt die Geschichte, die im Plot erzählt wird. Doch gleichzeitig passiert ein Storytelling durch die Umgebung, die man erkunden kann: Man kann in der Stadt lesen.“

Das Podium verglich „Dishonored 2“ mit James Joyces „Ulysses“: die HANDLUNG von „Ulysses“ ist nicht besonders packend. Stattdessen wird in verschiedenen Szenen an verschiedenen Orten der Stadt Stück für Stück, Lage für Lage, Schicht für Schicht eine ganze Welt gezeigt und erklärt. Interessant auch das „Chaos“-System des Spiels: Bringt man viele Gegner um, verkommen die Städte, und mehr Wachen stehen im Weg. So belohnt das Spiel moralisch korrektes Verhalten.

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zu Firewatch: ein Parkwächter in Wyoming 1989, dessen Vorgeschichte durch Textbausteine im Intro/Prolog erklärt wird: Seine Freundin Julia ist an Demenz erkrankt und er flüchtet sich in einen Nationalpark, die neue Stelle und (vermeintliche) Rätsel und Verschwörungen, um zu vermeiden, weiter über Julia nachzudenken. Sonja Wild mochte, dass das Spiel auf einer Meta-Ebene klug über Verantwortung und Ausweichen spricht, indem man erst diesen Park erkundet und sich mit Rätseln ablenkt… doch später, wenn ein Feuer ausbricht und der Park damit enger wird, damit wieder auf Julia gestoßen wird: Das Spiel entlarvt den „Abenteuerspielplatz Park“ als psychologisches Ablenkungsmanöver entlarvt. In „Firewatch“ weiß so viel über die Hauptfigur, dass man nicht fragt: „Was würde ICH tun“, sondern „Wie würde ICH diesen Menschen füllen?“

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zu „The Stanley Parable“: Entweder, man hört dem Erzähler zu, oder widersetzt sich ihm. Ein Spiel mit dem Konzept „freier Wille“: „Man kann das Spiel nicht gewinnen, sondern nur zu einem befriedigenden Grad erkunden.“

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zu „Event 0“, kluge Frage von Marcus Richter: „Vordergründig geht es um ein ‚2001: Odyssee im Weltraum‘-Szenario. Doch worum geht es wirklich?“ [offenbar darum, mit einer künstlichen Intelligenz/einem Chatbot zu sprechen.

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zu „Die Säulen der Erde“, Valentina Tamer: „Eine „interactive Novel“, mehr als ein Point-n-Click: Man kann weitreichende Entscheidungen treffen. Das Spiel macht Welten ERKUNDBAR.“ Interessant: für Spiele auf Steam und der PS4 ist ein Achievement-System vorgeschrieben. Die Entwickler*innen MUSSTEN also Challenges einbauen wie „Der Mönch bekommt Bonuspunkte, wenn er alle Kerzen in der Kirche auspustet.“ Frage von mir: Das Spiel kommt via Steam & Konsolen an Spieler. Doch was ist mit Leser*innen von Historienromanen: „Die Säulen der Erde“ als digitales Spiel – das gibt es, weil das Buch eine der wichtigsten Lizenzen von Bastei Lübbe ist, und Lübbe Teile der Entwicklerfirma Daedalic aufkaufte. Doch Valentina Tamer las/fand bisher nur Reviews in der Spielepresse – kein Feedback des Feuilletons, kein Feedback von Lübbe-Leser*innen und Gelegenheitsspieler*innen, Historienfans. In der Buch-Neuauflage erscheint eine Anzeige fürs Spiel. Aber nimmt diese neue, gaming-fremde Zielgruppe das Spiel an? Wie spielen diese Menschen? Haben sie Spaß?

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vier weitere Spiele-Tipps des Podiums:

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Eine Frage, die ich hätte stellen sollen: Alle fünf Expert*innen auf dem Podium kannte ein Großteil der genannten Spiele, hatte sie sogar mehrmals durchgespielt. Beim „Literarischen Quartett“ haben zwar auch alle vier Teilnehmenden vorbereitend alle vier vorgestellten Bücher gelesen – doch nur in Absprache. Mir ist nicht klar, ob pro Jahr nur ca. 20 solcher Arthouse-Games erscheinen, die dann alle feuilleton-affinen Expert*innen auf JEDEN Fall durchspielen…? Wie groß ist der Markt, wie eng ist der Kanon, wie wichtig ist der kulturelle und wirtschaftliche Impact (sind das Nischen-Titel?) und sprechen wir hier über ausgesuchte, exzellente Ausnahme-Games, von denen nur wenige erscheinen… oder wäre es denkbar, jeden Monat vier solcher Spiele vorzustellen?

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„Spielung“ statt Lesung

Ein Roman als Spiel, digitale Spiele wie ein Roman: Das internationale Literaturfestival zeigt, wie Games literarisch erzählen.

 

Wie viel Verachtung, Hass, Polemik braucht eine TV-Sendung im Stil des Feuilleton? Kritiker Maxim Biller spuckt und schlägt in alle Richtungen. Als er Anfang 2017 „Das literarische Quartett“ verlässt, klagen viele seiner Altersgenossen, mit Biller ginge das Wichtigste verloren: Muss Literaturkritik weh tun, um gehört zu werden?
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Zum internationalen Literaturfestival Berlin lud die Stiftung Digitale Spielkultur vier Expertinnen und Experten der Spielebranche ins Institut Francais. Zu einer Podiumsdiskussion mit anschließender „Spielung“. Ein „literarisches Quartett“ für Videospiele. Ohne Biller-Attacken?
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Moderator Marcus Richter wollte das Motto des Abends, „Der Weg des digitalen Spiels ins Feuilleton?“ möglichst schnell abschlagen: „Wir wollen nicht darüber diskutieren, ob und wie man das machen kann: digitale Spiele im Feuilleton. Wir machen das heute einfach!“ Literaturwissenschaftlich, feuilletonistisch und gegenwartskritisch Videospiele „lesen“ und besprechen. Für ein Publikum, das sonst meist literarische Lesungen besucht.

„82 Prozent Spielspaß“

Während das Feuilleton – auch seit Konkurrenz durch Laienkritik und Leserkommentare – gern schrill und streitbarer wird, um in Diskursen Gehör zu finden, nahm der Spiele-Journalismus einen anderen Weg. Noch in den 90er Jahren sortierte die Fachpresse jedes Game meist in recht technokratische Raster – 82 Prozent Spielspaß, 3 minus für den Soundtrack.
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Spiele-Journalismus, zu lange hieß das: Tabellen, die objektiv und wissenschaftlich wirken wollen, aber sich selbst ad absurdum führen. Weil sie kaum Vergleichbares auf pedantische Zahlenwerte reduzieren oder gegeneinander verrechnen wollen: Sind lange Spiele besser als kurze? Braucht ein Spiel brillante Grafik, um spielenswert zu sein?
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Erst jüngere Magazine wie GEE und WASD schufen einen Gegenpol: Heute werden Games oft so beschrieben, besucht, wie Reisende fremde Nationen erkunden. Subjektive, manchmal ich-lastige Texte über Soziologie und Atmosphäre, Ton und Gesellschaft, Gefühl und Affekt. Reiseberichte durch ein recht junges Stück Kultur.

Die Welt erkunden, dem Plot entkommen

Spiegel-Autor Carsten Görig stellte die Metropolen der „Dishonored“-Spielreihe vor. Im Spiel soll man Attentate rächen, Verschwörungen aufdecken – doch hinter dem eher banalen Plot liegen Erzählräume, mit viel Liebe und dramaturgischer Kunst gestaltet: Jedes Plakat und jeder vergessene Brief, jede Ruine und jedes herrschaftliche Zimmer erzählt hier von Kolonialgeschichte und Ausbeutung, privaten Tragödien oder Konflikten, die vor 5 Minuten, letzte Woche oder 100 Jahren ihren Anfang nahmen.
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Valentina Tramer sah Parallelen zu „Ulysses“ von James Joyce: Als Spieler kann man rasch dem Plot folgen. Oder lieber aus Kulissen, Requisiten die Stadt selbst lesen. Falko Löffler, selbst Texter für Spiele, stellte „Firewatch“ vor. Ein langsames, elegisches Adventure, dessen Hauptfigur durch geschickt manipulative Texte und Vorgeschichte Kontur gewinnt. „Ich frage als Spieler nicht: Was würde ich hier tun? Ich lerne die Figur so gut kennen, dass ich mich frage: Wie will ich diesen Menschen weiter ausfüllen, beim Spielen?“
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Mit zwei Co-Autoren arbeitete Valentina Tamer drei Jahre lang fürs deutsche Produktionsstudio Deadalic Entertainment um Ken Folletts Kirchenbau-Thriller „Die Säulen der Erde“ als Klick- und Rätsel-Spiel zu adaptieren: Großverlag Bastei-Lübbe kaufte Teile der Spielefirma, und Folletts Historienschmöker ist eine der lukrativsten Marken im Konzern. Eine ganze Stunde lang sprach Tamer über die Struktur- und Timing-Probleme, um aus einem Buch mit drei Figuren und fast 50 Jahren politischer Intrige eine Spielwelt aufzufächern, in der Entscheidungen echte Konsequenzen haben.
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Wie schnell digitale Spiele Erzählkonventionen in Frage stellen können, zeigten die vier Gäste angenehm unpolemisch, bildstark und phantasievoll. Die vielen Videos zu Spielszenen, auf der Bühne in Schleife im Hintergrund liefen, sagten mehr als Fachjargon und Schlagworte. 2017 müssen digitale Spiele ihr Potenzial oder ihre Relevanz fürs Feuilleton zum Glück nicht mehr grundsätzlich neu beweisen  Doch uns verführen, reinziehen, überraschen? Das gelingt gut, an einem solchen Abend. Gern wieder in einem Quartett – entspannter, origineller, weniger giftig als das mit Biller!

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