„Disenchantment“ (Netflix, Matt Groening): Kritik für Deutschlandfunk Kultur

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Am 17. August startet – nach „Den Simpsons“ (1989) und „Futurama“ (1999) – Matt Groenings dritte Animationsserie: „Disenchantment“.

Heute – 15. August, ab 14.30 Uhr – stelle ich die Serie bei Deutschlandfunk Kultur vor.

Im Blog: eine kurze Rezension und meine Notizen beim Schauen der ersten sieben Episoden.

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Ein Königreich für mehr Drama!

„Die Simpsons“ im Mittelalter?

In der zehnteiligen Märchen-Parodie „Disenchantment“ sucht Matt Groening neue künstlerische Freiheiten

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„Futurama“ ist eine Workplace Comedy: Kurierdienst-Alltag im New York des Jahres 3000. „Die Simpsons“ persifliert Familien-Sitcoms. Am 17. August startet Matt Groenings drittes Projekt: Die Netflix-Trickserie „Disenchantment“ ist blutiger, derber… und will komplexere Handlungsbögen schlagen. Mit nur einer Hauptfigur, gerahmt von Sidekicks: Noch keine Groening-Serie war so eingleisig, linear. Und schlicht gestrickt?

Tiabeanie ist 19 und einzige Prinzessin des trostlosen Märchen-Stadtstaats „Dreamland“. Ihre Mutter starb. Ihr Vater, bräsiger Mix aus Homer Simpson und Donald Trump, will sie verheiraten, für neue Adels-Allianzen. Der Thron aus Schwerten, an dem sich Beans Verlobter versehentlich ersticht, ist die bisher einzige große Hommage an „Game of Thrones“. Die Vorschauen und Trailer, die Beans Flucht in die Wildnis zeigen, trügen: Netflix bot sieben der ersten zehn Folgen für Rezensionen. Bisher ist „Disenchantment“ keine Heldenreise, Quest, Odyssee durch Zauberwelten. Und leider auch keine Coming-of-Age- oder Freundschafts-Serie:

Bean ist Alkoholikerin. Ihr fehlen Ziele, besonderes Talent. Und jedes Interesse am Elend der Dörfler und Diener um sie herum. Eine Slacker- und Fremdschäm-Figur wie aus Lena Dunhams „Girls“ oder „Broad City“. Beans geheimnisvollstes Hochzeitsgeschenk heißt Luci – ein katzenhafter Dämon im Stil von Stewie („Family Guy“), der Bean einredet, sie hätte Spaß, je mehr sie eskalieren lässt. Elfo – ein naiver 18jähriger, der das Pralinen-Förderband im Elfenreich verließ, weil er das wahre, bittere, blutige Leben kennen lernen will – beginnt als moralisches Gegengewicht zu Luci. Doch weil sich Elfo in Bean verliebt, kippt die Figurendynamik: ein nihilistischer Dämon. Eine desinteressierte Antiheldin. Und ein weinerlicher, notgeiler Elf – ebenfalls mehr Teufelchen als Engel.

Warum will diese kantige, feministisch angelegte Figur zwei kindliche Störer bemuttern? Warum spielt jede Episode im trostlosen Schloss? Und warum häuft Bean bei allem, was sie halbherzig versucht, versehentlich Leichenberge an? „Disenchantment“ nimmt Klischees aus „Shrek“, „Die Brautprinzessin“, Monty Python. Baut daraus zahnlose, beliebige Plots. Dass Episoden fünf Minuten länger dauern als in bisherigen Groening-Serien heißt leider: vielen Scherzen fehlen Tempo, Dichte, Schwung.

Comedies brauchen oft Routine: Autor*innen und Schauspieler*innen lernen sich kennen, spornen sich an. Matt Groening sagt, er zeichnete Elfo schon als Fünftklässler. Erste Pläne für „Disenchantment“ begannen 2007: Nach dem Erfolg des „Simpsons“-Kinofilms plante man eine „Herr der Ringe“-Parodie mit Homer als Märchenkönig. Bean und ihr Dreamland hätten genug Potenzial, um jahrelang zu fesseln. Bisher aber bleibt alles fade, verwaschen: Elfjährigen wird das Comedy-Gemetzel überraschend erwachsen scheinen. Bean spaltet Hänsel und Gretel (Kannibalen im Hexenhäuschen!) den Schädel. Jeder über 15 rollt die Augen. Gähnt.

Moralfragen mit Luci! Toxische Männlichkeit, Stalking, sexuelle Besitzansprüche mit Elfo! Und, ganz im Ernst: keine saloppe, etwas trinkfeste Girl-Power-Heldin. Sondern tatsächlich eine Süchtige, die sich ihr Leben zur Hölle macht. „Disenchantment“ heißt „Entzauberung“. Oder „Ernüchterung“. Sobald Humor, Figuren etwas tiefer dringen, kann das toll werden. Bisher bleibt es gestrig.

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Notizen:

„Disenchantment“ [„Entzauberung“/“Ernüchterung“] ist die dritte Trickserie von Matt Groening (geb. 1954), nach…

_den „Simpsons“, 1989 bis heute; 29 Staffeln
_“Futurama“, 1999 bis 2003, dann nochmal 2008 bis 2013; 7 Staffeln und mehrere TV-Filme

Staffel 1 von „Disenchantment“ hat 10 Episoden; Staffel 2 wird gerade schon produziert. Weltweit erscheinen die Episoden am 17. August auf Netflix, auf einen Schlag.

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Netflix stellt Journalist*innen die ersten 7 der 10 Episoden als Screener zur Verfügung; Reviews erscheinen seit dem 7. August, der Tenor ist gemischt:

Metacritic: 57 %

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meine Lieblings-Review: A.V. Club

persönlicherer Artikel über Groenings Familie, Groenings Arbeitsweise etc.: New York Times

ein lesenswerter Verriss: Vice.com

und: längerer Text über Potenzial und Schwierigkeiten von Hauptfigur Bean: Vanity Fair

Figurenbeschreibungen (mit ein paar Spoilern und interessanten Andeutungen), auch für Nebenfiguren: Indiewire

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ich tweetete, während ich die sieben Episoden sah, ein paar schnelle Gedanken auf Englisch:

Thread 1: Link
Thread 2: Link

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Sir Tuxford (Gummibärenbande); König Zog (Disenchantment)

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kulturell ist „Disenchantment“ wichtig, weil:

_Groening für die ersten ca. 11 „Simpsons“-Staffeln geliebt wird.
_“Futurama“ zwar, alles in allem, ne runde und sehenswerte Sache ist, doch weit entfernt vom Erfolg der „Simpsons“ blieb.
_Sender Fox wenig für „Futurama“ tat bis 2003 und Groenig jetzt, 2018, mit Netflix zum ersten Mal Leute im Rücken hat, die ihm große Freiheiten lassen.

_ damit könnte „Disenchantment“ also AUCH die Frage beantworten: Wie viel Schuld trägt TV-Sender Fox an der Mittelmäßigkeit der aktuellen „Simpsons“-Folgen? Mit mehr Freiheiten, längeren Episoden, kürzeren Staffeln und Raum für staffelübergreifende Handlungsbögen: Kann Groening viel besser, flotter erzählen/parodieren?

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zur Serie selbst:

_sehenswert? Bedingt. 3 von 5 Sternen.

_Comedy-Serien brauchen oft ein paar Folgen, um in Fahrt zu kommen: Erst, wenn die Schauspieler*innen ihre Figuren einsprechen, hören die Autor*innen die genauen Stärken/Charakterisierungen der Schauspieler*innen und können dann, in weiteren Episoden, auf diese Stärken, Färbungen hin schreiben. Bei nur 10 Folgen hat „Disenchantment“ dafür zu wenig Zeit: Es kann gut sein, dass Staffel 2 wesentlich besser wird.

_Der Pilotfilm dauert fast 40 Minuten; die weiteren Folgen ca. 27; also gut fünf Minuten mehr als eine aktuelle „Simpsons“-Folge. Das wirkt oft träge. Auch einzelnen Szenen und Gags geht die Luft aus.

_Grundidee war ca. 2007, einen zweiten „Simpsons“-Kinofilm zu machen, der „Herr der Ringe“ parodiert. Homer sollte inkompetenter König einer Fantasy-Welt sein. außerdem hat Matt Groening schon als Fünftklässler einen unbeholfenen Elfen (der aussieht wie Bart Simpson) gezeichnet. „Disenchantment“ hat einen Homer-artigen König und den Elfen in Bart-Optik…

_ …Hauptfigur aber ist Bean, eine gelangweilte, derbe, wütende und faule Alkoholikerin, einzige Prinzessin im Königreich (eine Stadt, dahinter finstere Märchenwälder) „Dreamland“. Ihr Vater will sie zwangsverheiraten, um einen politische Allianz zu schmieden, doch der Bräutigam stolpert auf der Hochzeit in einen Thron aus Schwerten (wie der „Iron Throne“ aus „Game of Thrones“). Der Bräutigam hat einen Bruder; also flüchtet Bean, um weiteren Hochzeiten zu entgehen.

_Elfo der Elf arbeitet in der süßlichen, geheimen Elfen-Dimension am Pralinen-Förderband, hat viel Sex mit der promisken Elfen-Kollegin Kissy, doch wünscht sich Realismus, Bitterkeit, Nuancen und verlässt Kissy und die Welt, bewusst und für immer. In Dreamland lernt er Krieg, Seuchen, Armut und Gewalt kennen und nimmt alles naiv, passiv-interessiert zur Kenntnis.

_Ein verfeindetes Königreich hetzt einen Dämon, Luci, auf Bean: eine zynische Figur, die von allen außer Bean und Elfo für eine sprechende schwarze Katze gehalten wird und sich verhält wie der nihilistische Roboter Bender aus „Futurama“ oder das soziopathische Kleinkind Stewie aus „Family Guy“: Bean ist Hauptfigur und wird von zwei recht eindimensionalen Sidekicks gerahmt: Elfo ist passiv und too dumb to live. Luci ist das Teufelchen auf Beans Schulter und stiftet sie an, alles immer schlimmer zu machen.

_Pilotfilm und Trailer wirken, als würde Bean ihrem Königreich entfliehen und mit zwei Gefährten auf eine Quest oder Sinnsuche gehen. Tatsächlich aber bleibt Bean am Hof ihres Vaters; Episoden haben zwar manchmal kleine Cliffhanger, doch bisher kann man problemlos Folgen vertauschen oder überspringen: Es bleibt bei in sich geschlossenen Sitcom-Plots wie „Der König verreist und Bean wirft eine Party“ oder „Bean will einen echten Job… und wird versehentlich Henkerin/Foltermeisterin“.

_“Disenchantment“ ist keine komplexe, bissige Tolkien- oder „Game of Thrones“-Parodie, sondern so erwachsen, komplex, deep wie z.B. „Shrek“, „Ritter der Kokosnuss“, „Die Braut des Prinzen“. Viele Nebenfiguren sterben oder werden dahin gemetzelt (vgl. mit „South Park“ oder den Simpsons-Halloween-Episoden), doch jeder ab ca. 12 dürfte alles an dieser Serie begreifen/durchschauen; und jeder ab ca. 16 wird sie etwas kindisch, bemüht, gestrig finden.

_Bean ist Alkoholikerin und ich hoffe, das kriegt noch etwas psychologische Tiefe. Und: es gibt ein, zwei Ansätze zu einem Spannungsbogen (Welche Agenda hat Luci? Ist Beans Mutter wirklich tot? Mit Elfos Blut können Menschen Körper tauschen: Wann trifft das Hauptfiguren?)

_Die Serie macht viele Seitenhiebe gegen Religion, Unterdrückung/Elend der einfachen Massen und Alltagssexismus. Dass Bean als Nonne, Prinzessin etc. nicht taugt, sorgt dauernd für Konflikte. Besonders kluge Dinge über strukturellen Sexismus wurden aber noch nicht gezeigt/erzählt.

_Zuletzt: obwohl Elfo als lebenshungriger Idealist eingeführt wird, der Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen hat, ist er nach wenigen Folgen NUR NOCH scharf auf Bean. An vielen Stellen wirkt er wie ein Kind (oder wird sogar wie ein Baby behandelt, von einer Amme aus dem Dorf) – zugleich aber glaubt er, auf Augenhöhe mit Bean zu sein und sie als Partnerin zu verdienen. Die Serie scheint dabei auf Elfos Seite: Wir sollen hoffen, dass Bean ihre Ansprüche senkt und Elfo mit Sex belohnt. Für mich: eins der… trostlosesten und toxischsten Paare, die ich kenne. #maleentitlement

_Ich mag „Futurama“, und finde „Disenchantment“ als Zerstreuung… passabel. Das phlegmatische Erzähltempo, die vielen angestaubten Bild- und Wiederholungs-Witze, die oft unerträgliche Mittelalter-Musik, eine süchtige Hauptfigur, die kein Ziel und keine ebenbürtigen Gegner*innen hat, zu viele langweilige Verfolgungsjagden, abgegriffene Sitcom-Archetypen…

…Groening muss sich nicht schämen: Das ist solide, für 13jährige. Doch es ist kein Stück Avantgarde, Kunst, Zumutung. Naheliegende Scherze und Figuren. Alles wirkt gestrig, müde. Mir fehlt Schwung! (…den viele moderne Cartoons, z.B. „DuckTales“, im Überfluss haben.)

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das Alien Roger (American Dad); Königin Oona (Disenchantment)