stefan mesch

„Spider-Man: A New Universe“: Vielfalt, Minderheiten & neue Heldinnen bei Marvel Comics

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Meine Lieblings-Marvel-Held*innen sind Figuren, von denen oft nur wenige Leute hörten:

Minderheiten, die in den Serien und Filmen fast nie auftauchen.

Oft junge Held*innen, oft Teil einer neuen Generation: „Legacy Characters“, die seit ca. 2012 in den Comics große Rollen spielen.

Miles Morales – ein Spider-Man mit Schwarzem Vater und Mutter aus Puerto Rico – ist der erste „Legacy Character“ mit eigenem Kinofilm:

„Spider-Man: A New Universe“ (Titel in Deutschland) / „Into the Spider-Verse“ (US-Titel).

Für Deutschlandfunk Kultur sah ich den Film – und stelle am Donnerstag, 20. Dezember kurz nach 10 Uhr Miles‘ Comics und Miles‘ unbekanntere Kolleg*innen vor.

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schon heute, hier im Blog:

Buchtipps, Kontext & Notizen über Vielfalt im Marvel-Universum – und die Frage, warum die Marvel-Kinofilme so wenig davon zeigen. 

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Superheldencomics erscheinen als monatliche Heftreihen – ca. 20 Seiten pro Monat, zusammenfasst alle ca. 6 Monate in einem Sammelband.

Die etwa 50 Heftreihen von DC Comics (Superman, Batman, Wonder Woman etc.) sind eine (meist) zusammenhängende Erzählwelt seit 1938, das „DC-Universum“.

Die etwa 50 Heftreihen von Marvel Comics (Spider-Man, The Avengers, Black Panther etc.) sind eine andere (meist) zusammenhängende Erzählwelt, das „Marvel-Universum“. Marvel gehört seit 2012 zu Disney und hat sehr erfolgreiche Verfilmungen, das „Marvel Cinematic Universe“: die meisten Kinofilme und TV-/Netflixserien sind neue Kapitel der selben großen „MCU“-Geschichte, seit 2008.

Die meisten Figuren in den Marvel-Comics kennen einander; viele Plots beeinflussen sich gegenseitig: In Heftreihe A, geschrieben von Autorin X, ändert sich etwas. Bereits im selben Monat hat das Konsequenzen in Heftreihe B, geschrieben von Autor Y. Die meisten Figuren aus dem Helden-Team „The Avengers“ haben eigene monatliche Reihen mit eigenen Abenteuern, z.B. Iron Man, Thor, Hawkeye, Hulk, manchmal Black Widow.

Heftreihen mit Frauen in der Haupt- und Heldenrolle verkaufen sich schlechter.

Noch vor ca. 15 Jahren gab es oft nur drei, vier Heldinnen-Reihen (von ca. 50).

Auch Heftreihen mit Minderheiten verkaufen sich meist schlechter.

Fragt man Leute, die KEINE Hardcore-Fans sind:

…werden fast nur weiße Männer genannt.

In dem Comics hat das (auch) historische Gründe: Ab 1961, als viele Marvel-Figuren erfunden wurden, zeichneten/schrieben fast nur weiße Männer fast nur weiße Protagonisten für ihre Zielgruppe: weiße Schuljungs.

Die Marvel-Kinofilme sind moderner – doch ebenso einseitig:

Mit „Captain Marvel“ hat im März 2019 zum ersten Mal eine Frau die Haupt- und Titelrolle in einem Marvel-Film (der 22. Film seit 2008); es gibt erst zwei[einhalb] TV-Serien über Frauen, „Jessica Jones“ und „Agent Carter“ [und „Cloak & Dagger“], und vom Kino-Erfolg des afrikanischen Helden „Black Panther“ (Februar 2018; erfolgreichster Helden- und Marvel-Film bisher) waren viele überrascht:

Endlich werden jetzt auch die Filme vielfältiger, diverser:

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Der aktuelle Spider-Man-Kinofilm, „A New Universe“, ist ein großer Schritt vorwärts: Es ist der achte größere Spider-Man-Kinofilm seit 2002 – und der erste, in dem es nicht v.a. um die weiße Figur Peter Parker geht.

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Legacy-Figuren:

Wenn Held*innen sterben, Kräfte verlieren, neue bekommen – oder sich aus anderen Gründen neu erfinden – wird manchmal eine Rolle, ein Helden-Name frei:

Mittlerweile gibt es in den „Batman“-Comics vier bis fünf wichtige Robins – die sich alle kennen. Oft haben mehrere von ihnen eigene Heftreihen. Der aktuellste Robin ist Batmans ca. elfjähiger Sohn, Damian. Doch in Verfilmungen ist Robin fast immer Dick Grayson, und es bräuchte viele zusammenhängende „Batman“-Kinofilme, um die ganze Comic-Saga der Robins nachzuerzählen und bei Damian „anzukommen“.

Deshalb tauchen neuere, moderne, diverse Figuren in Verfilmungen oft arg spät auf, in Teil 3 oder 4:

Die meisten solcher Figuren gibt es erst seit den 90er Jahren; viele sogar erst seit ca. 2012.

Figuren, die „Zweitbesetzung“, Nachfolger*in etc. einer bestehenden, plötzlich freien Helden-Rolle werden, heißen „Legacy Character“:

Sie treten das Erbe an.

Legacy-Figuren sind toll – weil sie oft jünger sind, viel zu lernen haben, neuen Schwung in Geschichten bringen und fragen: „Muss ich die Rolle GENAU SO füllen wie der weiße, ältere Mann, der sie bisher inne hatte; oder geht’s auch anders?“ Die meisten Legacy-Figuren sind schon per se machtkritischer, rebellischer, origineller, aufmüpfiger: Underdogs, die in große Fußstapfen treten.

Doch nur sehr selten schaffen es Legacy-Figuren in Kinofilme:

Weil man meist erstmal die Geschichte des (männlichen, weißen) Vorgängers voll ausreizen will:

Es wäre riskant, die seit 50+ Jahren bekannten weißen Thors, Iron Mans, Hulks, Hawkeyes, Captain Americas, Batmans etc. durch eine Minderheit und viel weniger bekannte Figur zu ersetzen, von der nur Comic-Fans je viel hörten. Jeder Helden-Name außer „Wonder Woman“, bekannt genug, um Leute sagen zu lassen „Von dem habe ich schon mal gehört. Dem Film gebe ich ne Chance“ ist der Name eines weißen Mannes.

eine Liste mit Legacy-Figuren in Marvel-Comics – bei denen meist eine Frau und/oder eine Figur of Color Name und Rolle eines weißen Helden übernimmt: Link

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Miles Morales: Blatino-Spider-Man

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a) Hawkeye ist ein (weißer) Bogenschütze und… Hallodri. 2012 zeigte ein „Hawkeye“-Comic Hawkeyes verkrachten Alltag: charmant, recht erwachsen, in eigenem, originellen Tonfall. Die Zeichnungen stammten von David Aja – der Infografiken liebt und formalistischer, experimenteller erzählte. „Hawkeye“ war ein Kritiker-Erfolg – und brachte Marvel auf die Idee, mehr Comics zu machen, in denen

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b) Die erwachsene Heldin Ms. Marvel ist auch Pilotin/Captain bei er US Air Force – und nannte sich deshalb statt „Ms“ später „Captain Marvel“. So wurde der Titel „Ms. Marvel“ frei: Seit 2014 erzählt „Ms. Marvel“ die Geschichte der ca. 15jährigen Kamala Khan aus New Jersey. Sie ist Muslima, ihre Eltern stammen aus Pakistan. wie im „Hawkeye“-Comic sind Zeichnungen, Tonfall etc. sehr schrullig, eigen und markant. Die Reihe ist ein großer Erfolg.

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c) Miles Morales (Vater: Schwarz; Mutter: Latina) hat seit 2011 eine monatliche Heftreihe, in der er als (zweiter) Spider-Man New York rettet. Peter Parker, der bekannte weiße Spider-Man, existiert weiter und hat eine ANDERE Heftreihe; die beiden Figuren kennen sich. Der Erfolg von Miles, Mrs. Marvel und Hawkeye war Teil des Versuchs von Marvel, mehr Heftreihen inklusiver, diverser, vielfältiger zu machen: Seit ca. 2012 gibt es pro Monat mindestens 10 Heftreihen über Frauen und/oder Figuren of Color, die in recht eigenem Stil mehr ausprobieren und erzählen als die klassischen Helden-Kämpfe & Konflikte.

Viele dieser neuen Heftreihen über neue Held*innen sind exzellent.

Trotzdem sind die meisten kein Erfolg, sondern werden nach 8 bis 15 Monaten beendet. Fast alle handeln von Figuren, die man als Marvel-Kinofan nicht oder kaum kennt. Miles ist die erste Figur dieses Trends, die einen großen Kinofilm tragen soll. Und: es klappt.

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Miles als Sonderfall – in den Comics und im Kino:

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2000 gründete Marvel ein neues Imprint, „Ultimate Comics“, um alte, bekannte Figuren & Geschichten noch einmal einsteigerfreundlich und origineller neu zu erzählen: ein Reboot/Remake bekannter Heftreihen, oft düsterer, blutiger und etwas diverser (mehr queere Figuren etc.): das „Ultimate-Universum“.

Die ca. 50 bestehenden monatlichen Marvel-Heftreihen erzählten weiterhin neue Geschichten. Separiert in einer Parallelwelt erzählte das „Ultimate-Universum“ begann in ca. 7 monatlichen Heftreihen alles anders und von vorn. [Link]

Die Kritiken waren mau, die meisten Ultimate-Comicreihen bleiben zweitrangige Experimente; doch die Reihe „Ultimate Spider-Man“ von Autor Brian Michael Bendis wurde zum großen Erfolg: Der Peter Parker der Haupt-/Mainstream-Welt hat sich seit den 60er Jahren weiter entwickelt, ist u.a. berufstätig und meist in festen Beziehungen. „Ultimate Spider-Man“ erzählt noch einmal die Geschichte des Außenseiters und Schülers Peter Parker: Verstorbene Figuren wie Gwen Stacy sind im Ultimate-Universum noch am Leben. Nach ca. 22 Sammelbänden stirbt Peter Parker, immer noch 16 Jahre alt. 

Kurz zuvor wird Miles Morales, 13, von einer (anderen) radioaktiven Spinne gebissen und zu Peters Nachfolger im Ultimate-Universum. 2015 wechselt er ins Haupt-Universum und ist seitdem eine etablierte, reguläre Figur im Marvel-„Mainstream“. Die Ultimate-Comics über Miles sind gut/lesenswert, doch für neue Fans ist es ganz zweitrangig, dass sie nicht im „richtigen“ Marvel-Universum spielen: Einfach loslesen, das passt.

2015 gab es in allen Spider-Man-Comics ein ca. 600 Seiten langes Crossover: Ein Bösewicht jagte Spider-Men in verschiedenen Parallelwelten, und Peter Parker, Miles Morales und viele weitere Figuren reisten durch die Dimensionen, um sich gegenseitig zu retten. Die Storyline hieß „Spider-Verse“. Der Miles-Morales-Kinofilm ist keine direkte Verfilmung – doch greift viele Elemente auf: Verschiedene, teils absurde Spider-Men aus verschiedenen Parallelwelten retten & helfen sich. 

Ich las und empfehle:

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Lieblingsfiguren: Silk, Spider-Woman, Spider-Gwen

 

Die Rechte der meisten Marvel-Figuren liegen bei Disney/Marvel: Sie können problemlos in allen Filmen auftauchen, genannt werden etc.

Die Rechte der X-Men, der Fantastic Four und von Spider-Man wurden in den 90er Jahren verkauft: Deshalb sind viele Spider-Man-Kinofilme seit 2002, alle produziert von Sony statt Disney, Konkurrenzprodukte zum „Marvel Cinematic Universe“. Dass Sony Spider-Man „auslieh“/lizensierte für Disneys Marvel-Cinematic-Universe-Filme „Civil War“, „Spider-Man: Homecoming“ und „Infinity War“ war heikel und aufwändig.

Der Sony-Film „Spider-Man: A New Universe“ will auffallen, herausstechen, sich von den Disney-Filmen absetzen:

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Der Film… ist solide: Unterhaltung für Kinder ab ca. 10, temporeich, visuell originell, halbwegs stimmungsvoll und warmherzig: Kein kalter, öder, zynischer oder einfallsloser Film. Miles ist sehr unsicher, nervös, passiv, verdattert – und alle Figuren bleiben sehr oberflächlich.

Über Race, Ethnie, Vielfalt erzählt der Film nichts. Bereits die Miles-Morales-Comics machten [anders als z.B. „Ms. Marvel“] Rassismus, Polizeigewalt, Rechtsruck etc. kaum je zum Thema. 2018 finde ich es… obszön, einer Schwarzen Teenager-Hauptfigur einen Kapuzenpulli anzuziehen, in Anlehnung an Trayvon Martin – doch Polizei nur in einer seichten „Freund & Helfer“-Rolle zu zeigen.

„Spider-Man: A New Universe“ zeigt kaum interessante Frauen; besteht nur knapp den Bechdel-Test. Die emanzipatorischen, gesellschaftskritischen Anliegen, die „Wonder Woman“ (2017) und „Black Panther“ (2018) auszeichneten (und ein Grund für den großen Erfolg waren?) fehlen hier.

Aber: Ich bin 1983 geboren – und kann mich an KEINEN schwarzen Kindheitshelden erinnern. Die Selbstverständlichkeit, mit der Miles als Held & Sympathieträger etabliert wird… und überzeugt, freut mich.

(Ganz am Rand: Im Film geht es um einen Teilchenbeschleuniger, der Spider-Men aus verschiedenen, teils sehr absurden Universen in Miles‘ New York schleudert. Ich mochte, wie postmodern, aber ruhig der Film diese Figuren interagieren lässt – ohne, ständig zu rufen: „Hat man sowas schon gesehen? Ist das nicht VÖLLIG abgedreht? Kuckt mal – wie wild und unkonventionell!“ Figuren, Heldenrollen, Kinder-Franchises sind oft postmodernes Stückwerk. Ein Film, in dem Figuren das sehen und sich gegenseitig sagen: „Tja, klar. Wir SIND halt postmodernes Stückwerk“? freut mich!)

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Ich las alle Marvel-Comics mit weiblichen Hauptfiguren, die seit 2013 erschienen; und auch viele idosynkraitsch-schrullige Reihen mit (oft z.B. nicht-weißen oder queeren) Männern. Hier warten Figuren, die ein Mainstream-Publikum in Verfilmungen und Serien mitreißen können.

„Spider-Man: A New Universe“ stößt diesen Figuren eine Tür auf in den Mainstream.

ca. 2016 hatten fast alle Marvel-Heftreihen, die bisher von weißen Männern erzählten, Frauen und/oder Minderheiten in der Titelrolle:

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Wenn solche Figuren einen neuen, eigenen Heldennamen tragen, verkaufen sich die Hefte oft schlecht: Ein Heft namens „Wolverine“ wirkt wichtig, ein Heft namens „X-23“ drittrangig: Deshalb übernimmt Laura, Heldin namens „X-23“, die Titelrolle in „Wolverine“ etc.

Trotz oft sehr guter Kritiken und viel erzählerischem frischen Wind blieben die Verkaufszahlen enttäuschend, und ca. 2017 machte Marvel die meisten Änderungen rückgängig: Im „Captain America“-Heft lesen wir wieder vom altbekannten weißen Mann etc.

Die neuen Figuren aber blieben; einige haben sich etabliert – und ich rechne damit, viele bald im Kino sehen zu können. Vielleicht auch, weil viele Schauspieler-Verträge 2019, mit „Avengers: Endgame“ auslaufen: Iron Man, Hulk, Thor etc. könnten sterben und auch im Kino durch neue, diversere Legacy Characters abgelöst werden.

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Vielfalt bei Marvel: 10 Empfehlungen

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Die „Miles Morales“-Comics sind psychologischer und ergreifender als der Kinofilm: Ich las letzte Woche ca. 8 Sammelbände, erschienen zwischen 2011 und 2018, und kann sie durchgehend empfehlen. Die Figur ist spannend und in guten Händen.

„Thor“ erzählte bis Mitte 2018 weniger von Odins Sohn als von einer Erdenfrau, die Thors Hammer schwang. Ein bombastisches, schwungvolles triviales Epos, toll geschrieben und gezeichnet!

„Ms. Marvel“ fragt, was eine junge Muslima ihrem Kiez in New Jersey geben kann und, wie sich Teenager in Trumps Amerika positionieren. Originelle Zeichnungen, sympathische Heldin, 10 Sammelbände auf hohem Niveau, einsteigerfreundlich.

„Squirrel Girl“ ist ein Spaß-Comic über eine junge Programmiererin mit Eichhörnchen-Kräften: 15 clevere Ideen, Scherze und optimistische Momente auf jeder Seite.

„Gwenpool“ zeigt eine Marvel-Leserin, die in die Comics gezogen wird und bald merkt: Sich überlegen zu fühlen, über allen Dingen zu stehen macht nicht glücklich: Sie kämpft (recht existenzialistisch & smart) um eine bedeutungsvolle (Helden-)Rolle und Identität.

In „Hellcat“ zeichnet eine junge lesbische Autorin den Helden-Alltag einer recht… drolligen Helden-Clique: feministischer, optimistischer Twentysomething-Spaß.

„Iceman“ ist schwul. Der schwule Autor Sina Grace nimmt sich viel Zeit für Icemans bigotte Eltern: Erwartungen, Dating, Unsicherheiten als queerer Mann.

„Moon Girl“ ist Drittklässlerin, Schwarz und die nachweislich intelligenteste Person im Marvel-Universum – doch sehr unreif, arrogant und jähzornig. Mir sind die Comics oft zu kindisch – doch die Figur und ihre Kanten sind großartig!

„Wasp“ Nadia Pym ist Schülerin, Erfinderin, kann schrumpfen (und ist lesbisch?): ein simpler, sonniger Girl-Power-Comic, der Naturwissenschaften & Freundschaften unter Frauen feiert.

In der Teenager-Helden-Clique „Runaways“ (seit 2017 auch eine TV-Serie) sind Vielfalt und Diversity eine Selbstverständlichkeit: viel Raum für Sinnsuche, Zwischenmenschliches, Identitätsfragen.


 

„Neue, frische Gesichter – unter alten Masken

Mit „Spider-Man: A New Universe“ erreicht eine vielfältige, junge Generation der Marvel-Figuren auch die Marvel-Kinofilme: „Legacy Characters“

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Im März 2019 startet „Captain Marvel“: der 21. Marvel-Kinofilm seit 2008. Doch der erste, in dem allein eine Heldin ins Zentrum darf: Die blonde, weiße Air-Force-Pilotin Carol Danvers war in den Comic-Vorlagen schon ab 1977 „Ms. Marvel“. Nachdem sie von „Ms.“ zu „Captain“ wechselte, übernahm 2014 eine Schülerin aus New Jersey, Kamala Khan, den Helden-Namen „Ms. Marvel“. Kamala ist Muslima, ihre Eltern stammen aus Pakistan, und die bisher zehn „Ms. Marvel“-Sammelbände bis 2018, verfasst von der muslimischen Autorin G. Willow Wilson, sind der vielleicht schönste, überraschendste Helden-Erfolg des Jahrzehnts:

„Ms. Marvel“ überzeugt – literarisch wie zeichnerisch. Denn Kamala hat eine ganz eigene, begeisternde Stimme, und ihr Alltag erzählt viel über Paranoia und Fremdenhass seit dem 11. September. Den Marvel-Kinofilmen fehlt solche Vielfalt meist: Fast alle wichtigen Figuren sind weiße, heterosexuelle Männer.

„Spider-Man: A New Universe“ gehört nicht in den Kanon der Marvel-Produktionen: Der Animationsfilm, lanciert von Sony statt Disney/Marvel, spielt in einer eigenen Erzähl- und Parallelwelt. Dort wird Spider-Man Peter Parker erschlagen – doch weil der junge Eliteschüler Miles Morales (Vater: schwarzer Polizist, Mutter: Krankenschwester aus Puerto Rico) wie zuvor Peter von einer verstrahlten Spinne gebissen wurde, tritt er die Nachfolge an. „Legacy Characters“ heißen Figuren, die Kostüme, Masken, Namen und oft auch die Comic-Heftreihen von anderen (meist: weißen), etablierten Figuren übernehmen.

Seit 2011 gibt es zwei große Spider-Man-Heftreihen: eine zum erwachseneren Peter, und eine einstiegsfreundliche, jugendliche Parallel-Reihe zu Miles. Bis 2015 war Miles meist für sich allein in einem eigenen, separierten New York in der Neben- und Parallelwelt des „Ultimate Universums“. Seit einem Dimensionssprung 2016 ist er Kollege und Freund von Peter, Kamala und den 50+ anderen Figuren, deren Heftreihen Monat für Monat die Marvel-Welt fortschreiben.

Figuren und Plots, die in diesen Comics überzeugen, finden oft nach ca. zehn Jahren den Weg ins Kino. Miles Morales brauchte sieben – und der Erfolg des (stimmungsvollen, knallbunten) Kinofilms könnte die Tür öffnen für weitere „Legacy Heroes“: Als Iron Man (Tony Stark) stirbt, baut sich eine schwarze Schülerin, Riri Williams, eine Kampfrüstung in der Garage und will die Nachfolge. Als Thor, Odins Sohn, nach einer Sinnkrise den magischen Hammer Mjölnir nicht länger nutzen kann, sucht sich der Hammer eine Erdenfrau, die zur neuen Donnergöttin wird. Den Helden-Namen „Hawkeye“ teilen sich in den Comics Clint Barton und die junge Amateurdetektivin Kate Bishop. Schrumpf-Heldin „Wasp“ ist aktuell eine lesbische Schülerin und Erfinderin. Auch Squirrel Girl, Hellcat und der schwule Iceman (alle ohne weißen Hetero-Helden-Vorgänger) bringen in eigensinnigen, manchmal schrulligen Heftreihen Vielfalt und frischen Wind.

Doch seit 2017 machte Marvel einen großen Schritt zurück: Der (jahrelang grandiose!) „Thor“-Comic zeigt nun wieder vor allem den Mann statt seine Kollegin. Tote Helden wie Hulk, Iron Man und Wolverine erstehen auf, drängten ihre (vielfältigeren, oft interessanteren) Vertreter*innen ab.

Wollen Comic-Fans in einem „Captain America“-Heft unbedingt den weißen, aus dem Kino bekannten Steve Rogers sehen – nicht seinen schwarzen Nachfolger Sam Wilson? Fest steht: Ein Heft namens „Hulk“ verkauft sich besser, gilt als „wichtiger“ als ein Heft namens „She-Hulk“. Ein Miles-Morales-Comic namens „Spider-Boy“ wirkt nebensächlich, zweitrangig – und wäre wohl gefloppt: Frauen, Marginalisierte, Minderheiten müssen in die erste Reihe, in Heften und im Kino.

Wie gut das klappen kann, beweist der aktuelle „Spider-Man“-Film. Schade nur, wie oft es dazu noch die Fußstapfen und Helden-Namen älterer, weißer, männlicher Figuren braucht. Die Filmkritik sagt: „Black Panther“ und Miles Morales‘ „A New Universe“ sind die Helden-Highlights 2018. Dann also bitte: mehr, bald. Lest „Squirrel Girl“! Feiert „Silk“, „Gwenpool“, „Iceman“! Und in fünf Jahren kennt jedes Kind Kamala Khan!“

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Link: Alle Anspielungen & „Easter Eggs“ in „Spider-Man: A New Universe“