stefan mesch

Die besten Comics und Graphic Novels 2019: meine Empfehlungen bei Deutschlandfunk Kultur

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meine 20 Lieblings-Comics 2015, kurz vorgestellt: Link

meine 20 Lieblings-Comics 2016, kurz vorgestellt: Link

meine 20 Lieblings-Comics 2017, kurz vorgestellt: Link

meine 20 Lieblings-Comics 2018, kurz vorgestellt: Link

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heute: meine Top 20 fürs Jahr 2019.

Audio: am 27. Dezember bei Deutschlandfunk Kultur. Hier nachhören.

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20. Der Krieg der Knirpse

Autor: Régis Hautière. Zeichner: Hardoc.

Casterman, 2013 bis 2017. Deutsch bei Panini.

Fünf+ Bände, je ca. 60 Seiten.

In fünf Bänden abgeschlossen – doch ein Zwischenspiel („La perspective de Luigi“), erschien in zwei Bänden 2018 und 19; auch ein Zusatzband 6 erschien noch nicht auf Deutsch.

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1914, im Waisenhaus von Valencourt, sind alle Schlafplätze nach Vornamen sortiert: Lucas, Lucien, Ludwig und Luigi teilen eine Dachkammer – und ein geheimes Baumhaus im Wald. Als die Deutschen anrücken, wird das Heim evakuiert. Die vier „Lulus“ bleiben aus Versehen hinter feindlichen Linien – mit einem belgischen Mädchen, Luce. Fünf Jahre, erzählt in fünf Bänden: Als Umsonst-Comic beim Gratis-Comic-Tag 2019 war Band 1 mein Jahres-Highlight. Ein atmosphärischer Historien-Thriller über naive Jungs in akuter Gefahr. Wer mehr liest, stößt auf Schwächen der Reihe: plumpe Frauenrollen, ungelenke Zeitsprünge, das absurd große Baumhaus und Zeichnungen, toll koloriert, die bei genauem Blick (Mimik, Perspektive; Laub und Blumen zur falschen Jahreszeit) immer ärgerlicher werden.

Wer frühpubertären Kindern im „Stand by me“- und „Stranger Things“-Alter zeigen will, was Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet, findet hier oft nur einen Abenteuerspielplatz, nostalgisch verkürzt: Wer eine Mentalitätsgeschichte Frankreichs im ersten Weltkrieg sucht, sollte diese disney-eske, fadenscheinige, störend läppische Version meiden. Doch irgendwo zwischen 9 und 11 hätte die episodische, holprige, sentimentale Survival-Saga mein größtes Lieblingsbuch werden können. Bei allen Angriffsflächen kenne ich kaum europäische Kindercomic-Projekte mit so viel Ambition, Charme, Ausdauer.

Absurd nur, dass der wohl spannendste Teil – die Monate, die alle fünf Kinder versehentlich in Berlin und Niedersachsen verbringen – in zwei Spin-Off-Bücher ausgelagert wurden: „La perspective de Luigi“.

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19. They Called Us Enemy

Autoren: George Takei, Justin Eisinger, Steven Scott. Zeichnerin: Harmony Becker.

Top Shelf, 2019. Ab 13. Mai 2020 auf Deutsch, bei Cross Cult.

208 Seiten, abgeschlossen.

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Mit Bart Simpson und den „Turtles“ wurden Figuren und Maskottchen, die Kinder ab ca. 10 umwarben, gesucht „edgy“: möchtegern-frech-kantig. Doch aktuelle Comics für jene Zielgruppe (in den USA: „Middle Grade“, für alle, jünger als Klasse 9) lieben oft das Gegenteil: klare Bildsprache, aufgeräumtes Erzählen… Geschichten, im schlimmsten Fall schematisch und generisch wie Bilder einer Gebrauchsanweisung. Motive, die Wissen vermitteln, Überblick verschaffen. Für „They Called us Enemy“ erinnert sich George Takei, u.a. schwuler Aktivist und Schauspieler (Sulu bei „Star Trek“, ab 1966) an 1941 bis 45: Die Zeit, als er als Fünfjähriger mit Bruder und Eltern in Internierungslagern bei LA und in Arkansas eingesperrt war, ausgebürgert werden sollte, täglich Rassismus, Gewalt, Drohungen durch die eigene Regierung erfuhr.

Wie sich George und sein Vater politisierten, wie die Entwürdigung der Lager Menschen prägte, erklärt Takei in einfachen Sätzen. Persönlich wird das nie – auch wegen der fade „geschmacksneutralen“ Zeichnungen: Homosexualität spielt keine, „Star Trek“ kaum eine Rolle. Der Bogen zu Trumps Mauer nach Mexiko und der mörderischen Asylpolitik Europas wird betont, doch bleibt ein vages „Wehret den Anfängen!“; und Takeis „Viele von uns hatten in Kalifornien Häuser und Geschäfte: Wir sind eine hochverdiente Minderheit!“-Argumentation stößt mich ab: Jeder ist zu gut für Zwangslager – egal, ob vorige Leistungen vorliegen!

Eine Episode des US-Rassismus, oft nur als Fußnote erwähnt, wird sichtbar – eingängig, niedrigschwellig. Zur Literatur, zum Manifest oder zum „persönlichen“ Buch von und über Takei fehlt hier fast alles.

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18. Das unabwendbare Altern der Gefühle

Autor: Zidrou. Zeichnerin: Aimée de Jongh

Dargaud, 2018. Deutsch im Splitter-Verlag, 2019.

144 Seiten, abgeschlossen.

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Mit schlechteren Zeichnungen bliebe hier wenig Lesenswertes: Möbelpacker Ulysses, Ende 50, muss in Rente – und verliebt sich in Feinkost- und Käsehändlerin Méditerranée, 62. Sie hatte als Kind Angst vor der Hexe aus Disneys „Schneewittchen“, war als junge Frau Pin-up-Girl und fürchtet heute, von Kindern als Vettel, Hexe gesehen zu werden. Autor Zidrou erzählt den zweiten Frühling: Ulysses‘ (oft schmierige) Dates und Annäherungsversuche, Méditerranées Eitelkeit und Kaufmannsstolz, und – ich fürchte, darauf bildet sich der Comic am meisten ein – einige verwaschen-aquarellbraun wortlose Seiten über Sex, die „sinnlich“ oder „mutig“ wirken wollen, doch künstlerisch nie über den Weichzeichner-Kitsch eines „Zärtliche Cousinen“-Films der 70er hinauskommen. Zu zahm, um an Tabus zu rütteln. Zu visuell verbraucht. Zu verdruckst.

Trotz der… unabwendbaren erzählerischen und visuellen Fadheit des „So stelle ich mir jede dritte französischen Tragikomödie vor“-Comics sehe ich zwei große Stärken: Die Figuren wirken, mit ihren großen Augen und der raffinierten Mimik, einladend und „gut gespielt“. Auch, wenn kaum Geistreiches passiert: Man nimmt sie ernst, als differenzierte Charaktere. Und wer zwischen 1940 und 60 geboren wurde und nach „Mecki“ und „Asterix“ Comics aufgab, findet hier altersgerechte Identifikationsflächen mit Würde, Charme, Stil. Ein Comic, der auch gut in teuren Weinhandlungen ausliegen könnte.

Anfangs bucht Ulysses oft Sex: Die Prostituierte lässt ein Foto mit Mann und Kindern am Bett und weint, als er keine neuen Termine will. Toll gezeichnete Frauen. Doch ein Frauenbild, das auf Pointen setzt statt Tiefe.

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17. Insekten

gezeichnet und geschrieben von Regina Hofer und Leopold Maurer.

Luftschacht Verlag, 2019.

240 Seiten, abgeschlossen.

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„Mein Großvater war an Kriegsverbrechen und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt. Er war an der Zerstörung von Kulturdenkmälern beteiligt und an der Ermordung von Zivilisten.“ Via Interviews wollte Leopold Maurer schon in den 80ern die SS-Karriere seines Opas, verstorben 2005, festhalten und ordnen. Er fand Floskeln, empathielose Brocken, zynische Bauernschläue: „Wie wir rausgehauen worden sind aus Russland, haben wir ihnen die ganzen Häuser angezündet, im Winter, bei -52 Grad.“ Wo Art Spiegelman im Comic-Meisterwerk „Maus“ mit seinem Vater, einem Holocaust-Überlebenden, hadert und debattiert, stößt Maurer auf Ignoranz, Phrasen. In ähnlich kraftvollen, oft unvergesslichen simplen Schwarzweiß-Zeichnungen wie „Maus“ werden hier Gewalt und deutsche Verbrechen abstrahiert – doch nie verharmlost.

Dazu kommen morbide Träume, Maurers Kindheitserinnerungen voller Tierquälerei, kaschierter Gewalt, Österreich-Heimattümelei. Und Bilder, Chiffren, Symbole, die dem Narrativ des Großvaters, Verharmlosungen und Plattheiten, zuwider laufen: „Insekten“ ist ein ernstes, empörtes Kunst-Buch, wuchtig, mahnend, kitschfrei, nüchtern. Auch die französische Graphic Novel „Die Reise des Marcel Grob“, 2019 auf Deutsch, zeigt einen SS-Mann: zwangsrekrutiert aus dem Elsass, vor schnittigen Nazi-Recken, pittoresken Hintergründen, gerahmt von pompösem Bla um Schuld, Zwang, Zerrissenheit – bieder verharmlosender Kitsch.

Was „Insekten“ leistet und wie unbequem es sich und uns macht, zeigt solche misslungenen Konkurrenz: Die meisten Weltkriegs-Comics ästhetisieren bloß den Krieg. „Insekten“ findet eine ganz eigene Ästhetik. Respekt!

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16. Marsch der Krabben

Autor: Arthur de Pins. Zeichner: Edward Gauvin.

Soleil, 2010 bis 2012. Deutsch im Splitter-Verlag, 2012 bis 2014.

3 Bände, je 112 Seiten. Abgeschlossen.

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Kurz nach Pixars „Findet Nemo“ (2003) erschien Arthur de Pins‘ französischer Fünf-Minuten-Film über tragikomischen Unterwasser-Alltag – und große staatsrechtliche, philosophische Fragen: „Marsch der Krabben“ (2004). Die dreibändige Comic-Reihe (langatmig, aber toll komplex) wünsche ich jedem Gemeinschaftskunde-Kurs: Band 1 macht Spaß wie „Nemo“. In Band 2 führen Meerestiere wuchtige Debatten, welche Gesellschaftsform wem wann wie Spielräume bietet. Band 3 eskaliert albern vor sich hin, kann ausgelassen werden – die Grundidee der Reihe aber ist unvergesslich, tragisch: Viele Krabben laufen seitwärts, im Krebsgang. Die (fiktive) Quadratkrabben-Art „Simplicimus vulgaris“ läuft nach links, bis sie ein Hindernis trifft. Dann nach rechts. So bleibt sie immer nur auf einer festen, oft kurzen Spur – ein Leben lang?

Nein! Zuerst beschließen Krabben auf sich kreuzenden Spuren, via Huckepack zu wandern. Dann, in der (Spoiler!) bespiellos dramatischen und beglückenden End-Pointe von Band 1, gelingt einer Krabbe unter Todesangst plötzlich eine spontane Drehung! Die Machtverhältnisse am Strand des franzöischen Urlaubsorts ändern sich – für Tierfilmer, den Tourismus, verschiedene Fressfeinde und ihre Handlanger: Die meisten Krabben wollen in der Spur bleiben, ein ganzes Biosystem wackelt, und Krabben-Visionäre, -Revoluzzer, -Heretiker und -Vordenker (leider: fast nur männliche Figuren) zahlen fürs Aus-der-Art-Schlagen hohe Preise.

Elegant, sarkastisch, gewitzt, kindgerecht – und mit immensem Erzähl- und Eskalations-Tempo sowie größter philosophischer Tragweite: ein schrulliger, auch auf Deutsch längst erhältlicher Comic, der breites Publikum verdient!

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15. The Avant-Guards

Autorin: Carly Usdin. Zeichner: Noah Hayes

Boom! Studios, seit Januar 2019.

12 monatliche Ausgaben waren geplant. Acht erschienen von Januar bis August 2019, dann in zwei Sammelbänden. Die letzten vier Ausgaben kommen nur als Sammelband, 2020.

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Erst waren Cartoons für Kinder harmlos-herzerwärmend – und heteronormativ. Dann wurden sie frecher, kantiger – doch alle Figuren blieben hetero. Jetzt gibt es Vielfalt… in harmlos-herzerwärmenden Geschichten. „Ich kann kaum erwarten“, grimmt ein viraler Tweet 2019, „dass Cartoons endlich kantig UND queer werden!“ Der Basketball- und Freund*innenschafts-Comic „The Avant-Guards“ gehört noch zur dritten Stufe: queer-harmlos-herzerwärmend. Doch so sonnig und stärkend, freundlich, vielfältig, positiv und empowernd, wie hier eine Doch-keine-Mädchenmannschaft aus sechs Menschen (eine Person ist genderqueer, ein Mädchen ist trans, viele sind of Color, die meisten nicht-heterosexuell) als Uni-Sportgruppe zu Verbündeten wird, stört kaum, dass acht Hefte lang nur positive, schöne Dinge geschehen, zwischen allen Figuren.

Der Pfadfinderinnen-Comic-Erfolg „Lumberjanes“ war mir zu flach. Der Schwule-Jungs-als-Bühnenhelfer-der-Theater-AG-Comic „Backstagers“ wirkt lieb gemeint, doch drittklassig. Ein Titel wie „The Avant-Guards“ fehlte schmerzlich, auch und besonders auf dem deutschsprachigen Markt: Figuren, die anderswo nur in Opfer- oder Exot*innen-Nebenrollen leiden, sich erklären, um Toleranz betteln, sind hier selbstbestimmte, kompetente Held*innen. Die Plots sind fluffig, oft fast banal – doch subversiv in der Selbstverständlichkeit, mit der alle Figuren sagen: „Ich mag mich! Ich gehöre dazu! Denkt mich mit!“

Wer marginalisiert und angegriffen wird, schlägt oft am besten zurück mit einem „Ich bin glücklich, selbstbewusst und habe verstanden: Euer Hass ist das Problem. Nicht mein Anders-Sein!“ Ein gutes Leben ist die beste Rache.

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14. On a Sunbeam

Autorin und Zeichnerin: Tillie Walden

Webcomic, Herbst 2016 bis 2017; gratis online zu lesen.

2018 auch als Sammelband veröffentlicht: 533 Seiten, abgeschlossen.

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Das Unerträgliche zuerst: Im Internat, das Mia und Grace drangsaliert, herrschen Uniformzwang und (auch unter Schülerinnen) widerlicher Gängel-, Tadel- und Befehlston. Jahre später, im Archäologie- und Entrümplungs-Team, dem sich Mia anschließt, herrscht der selbe Drill: Statt „starker Frauen“ höre ich hier Figuren, besessen von Kontrolle, Unterwerfung, Status, Tabu, Misstrauen und Gekläff. Zu echter Stärke fehlen allen Lebensfreude, Witz, Souveränität. Und obwohl Mias Internat durchs Weltall schwebt, Raumschiffe aussehen wie Koi-Karpfen und fast alle Figuren Frauen sind, fühlt sich die Coming-of-Age-Welt, die Tillie Walden hier bunter, reicher und komplexer als „Harry Potter“ entwerfen will, an wie ein Potter-Roman, der zu zwei Dritteln unter der Treppe von Harrys garstiger Familie, den Dursleys, spielt: ekelhaft beklemmend.

„On a Sunbeam“ nutzt meist nur zwei, drei Grundfarben pro Kapitel. Doch zeigt das Miteinander zwischen Menschen, Tieren, Ökosystemen im Stil der Filme Hayo Miyazakis: „Prinzessin Mononoke“ als lesbische Schulmädchen-Internats-Weltraum-Utopie, in einem Erzählkosmos, in der es fast nur Frauen und nicht-binäre Figuren gibt, nur einzwei Männer. Wären diese Held*innen, Kolleg*innen netter zueinander, wäre das als Webcomic konzipierte Epos der heute 23jährigen Walden mein Highlight 2018/19. Doch die Anspannung, Verbissenheit, Miesepetrigkeit aller Rollen stahl mir Lese-Spaß.

Eine Welt, die strahlen, mitreißen, bezaubern könnte, erinnert mich an die ersten Tage der fünften Klasse – und das Gefühl, nichts zu können, dauernd Regeln zu brechen. Ein Beinahe-Meisterwerk. Unnötig hartes Brot!

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13. Roughneck

Autor und Zeichner: Jeff Lemire

Gallery 13, 2017.

288 Seiten, abgeschlossen.

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Kanada ist 2020 Ehrengast, Gastland der Frankfurter Buchmesse. „Roughneck“ (2017) ist der Comic des produktivsten, erfolgreichsten kanadischen Zeichners und Autors, dem ich am dringendsten eine deutsche Übersetzung wünsche: Jeff Lemire. 2007 und 2008, in „Essex County“, zeigte Lemire Poesie, Kälte, Einsamkeit und Zusammenhalt in Toronto und dem Hinterland. „Roughneck“ (bunter, filmischer, süffig) findet ganz ähnliche Bilder und Figuren für zentrale Stimmungen, Motive Kanadas. Ein alternder Schläger flüchtet vor der Vergangenheit heim ins Reservat. Seine Schwester hat Drogenprobleme, einen brutalen Ex, und zwischen Sozialkritik, Nostalgie, Jugend-Fernweh und einem Thriller-Plot auf mehreren Zeitebenen müssen beide Figuren entscheiden, ob sie ihr Leben noch einmal herumreißen können – notfalls via Mord.

Lemires Superhelden-Hommage „Black Hammer“ glückt, schnurrt und wuchert seit 2017. Doch jedem anderen Lemire-Projekt, besonders den selbst gezeichneten, ging überraschend die Puste aus: die Reihen „Sweet Tooth“ und „Royal City“ fanden vorschnelle, unterkomplexe Enden; Lemires Graphic Novels tun persönlich, intensiv, doch begnügen sich oft mit Klischees und Allgemeinplätzen. Vielleicht wirkt „Roughneck“ in Kanada ebenso hastig, verbraucht. Als Europäer lese und bestaune ich hier Texturen, Schneemobile, Tierfallen, Trailer und Hütten am Polarkeis, einsames Survival – und schaudere:

Über Lemires liebevollen, empathischen Blick auf Figuren, die jederzeit, durch eine Geste, einen Fehler ihre Welt für immer zerstören können. Endlich ein Lemire-Comic, der alles schafft, das er versprach!

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12. Driving Short Distances

Autor und Zeichner: Joff Winterhart

Jonathan Cape, 2017.

128 Seiten, abgeschlossen.

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„Cringe Comedy“ heißt: Sich-überlegen-Fühlen und befriedigt schaudern, weil lachhafte Figuren nix erreichen. Joff Winterharts britischer Alltags- und Versager-Comic ist das Gegenteil von Cringe: ein absurder, doch empathisch-liebevoller Blick auf zwei Außenseiter, die nicht schaffen, voneinander zu lernen. Sam, 27, hat die Kunsthochschule und einen Suizidversuch hinter sich und zieht zur Mutter in die Provinz. Keith ist… Handelsvertreter? Für… Klimatechnik? Auch nach Wochen, in denen Sam als Beifahrer und Assistent (?) durch Industriegebiete schlurft, weiß keiner von beiden, wozu der andere ihm nutzen kann: Sam beobachtet den alleinstehenden (?), traurigen (?), konservativen (?) Mann – und jeder Versuch, zwischen Zeilen zu lesen, trübt nur die Stimmung. Hat Keith ein Geheimnis? Ist er bloß alte Schule – eine andere Generation?

Oft zeigen Paul Austers Romane Mentoren und Protegés, die hoffnungslos aneinander vorbei wursteln. Doch so kitschfrei, fein getaktet, präzise und lapidar-ohne-langweilig-zu-werden wie in „Driving Short Distances“ sah ich noch nie zwei trockenen Männern beim Schlingern zu: keine Witzfiguren, keine Pointen – und nichts wird schön gefärbt oder unnötig dramatisiert. Wer je von älteren Männern (Chefs, Vätern, Opas) abhängig war und versuchte, ihren Respekt zu verdienen, ohne, sich anzubiedern, kennt Keiths Sprüche, Gesten, Manöver, Verächtlichkeiten und unbeholfenen „Gut so“s, „Passt schon“s. Kann er nicht kommunzieren? Will er nur nicht?

Zwei Männerfiguren, wie sie oft nur noch als Hindernis, Ballast und Witz auftauchen, kriegen hier einen sehr respektvollen, entspannten und nie effekthascherischen, zynischen oder sentimentalen Blick.

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11. Atelier of Witch Hat: Das Geheimnis der Hexen

Autorin und Zeichnerin: Kamamome Shirahama

Kodansha, seit Juli 2016.

Deutsch bei Egmont Manga.

34+ Kapitel in 6+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.

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Wer seltene Tinte hat und magische Glyphen zeichnen kann, beherrscht Magie. Doch alle Hexer*innen hüten das Geheimnis: Sie behaupten, man müsse zur Magie geboren sein. Näherin Coco bekommt von einem Fremden ein Mal- und Spielbuch geschenkt… das ihre Mutter versteinert. Zu ihrer Sicherheit soll sie als Lehrling bei einem Hexer leben, mit drei Mitschülerinnen Prüfungen bestehen. Coco überblickt erst langsam die Lügen, Verschwörungen und Machtkämpfe der Hexen-Parallelgesellschaft: Magie kann, anders als behauptet, Menschenkörper ändern. Nur steht das unter Strafe, seit einem Krieg. Welcher Zweck heiligt welches Mittel? Warum haust die Landbevölkerung wie im Mittelalter? Hexen lassen sich als Helden feiern? Wer entscheidet, wer Magie erlernt – und wäre eine gerechtere, klassenlose Welt zwangsläufig eine gefährlichere, instabile?

Wallendes Haar, putzige Fabeltiere, Gebrüder-Grimm-Kulissen und viel Staunen, „Sense of Wonder“: Band 1 ist schon für Sechsjährige ein Rausch. Schnell aber wird klar, dass trotz junger Heldin vor allem fürs erwachsene Publikum erzählt wird: „Witch Hat Atelier“/“Atelier of Witch Hat“ stellt Fragen über Privilegien und Geheimdienste, an denen Mangas wie „Attack on Titan“ scheitern. Das kluge Magie-System und die vielen Geheimnisse machen mir Lust auf ein Zeichne-dir-Glyphen!-Videospiel. Nach sechs beständig besser werdenden Bänden ist meine Grundfrage: Lohnt sich der Fokus auf die recht machtlose Hauptfigur…

…während alle Erwachsenen weit größere Kämpfe, Konflikte verbergen? Das „Sobald die Todesser kommen, wirken lange Kapitel über Quidditch wie Zeitverschwendung“-Problem, bekannt aus „Harry Potter“.

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10. Das Burnout-Tagebuch

Autorin und Zeichnerin: Maaike Hartjes

Nijgh & van Ditmar 2018. Deutsch bei Patmos, 2019.

288 Seiten, abgeschlossen.

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Stimmungstiefs, Müdigkeit, lähmende Gedanken: Wer Depression, Burnout und Angststörungen unbedingt gegeneinander abgrenzen will, nimmt „Burnout“ gern für „Hänger nach viel Arbeit und Stress: Depression light, für Fleißige!“ Maaike Hartjes‘ autobiografisches „Burnout-Tagebuch“ ist ein hübscher, gefälliger, an vielen Punkten seichter Comic, der diesem Vorurteil in die Hände spielt: Mit Strichfiguren, in Bildcollagen und viel japanischem Washi-Deko-Klebeband zwingt sich die Illustratorin durch eine Zwangspause. Hartjes fehlt alle Freude – doch sie sucht weder ärztliche Hilfe, noch recherchiert sie tiefer, wie Depressionen eskalieren können: Sie klebt, malt, relaxt und optimiert sich aus dem Stimmmungstief, in der Hoffnung, nach ein paar Wochen Ruhe, Achtsamkeit besser arbeiten zu können. Nach einem halben Jahr ist alles erreicht.

Ich mag „Das Burnout-Tagebuch“, weil es Konflikte, Selbstzweifel, Vorurteile und massig Alltag und Sorgen von Freiberufler*innen und Leuten in kreativen Berufen in kurzen, flotten, eingängigen Strichzeichnungen fängt. Mir widerstrebt „Das Burnout-Tagebuch“, weil Depressionen meist Therapien brauchen, professionelle Hilfe, oft Aufarbeiten der Vergangenheit und harte Kämpfe. Hartjes‘ gefällige Zeichnungen und Anekdoten sollen belegen, wie fleißig, achtsam, konstruktiv sie sich durch ihre Krise navigiert – doch wirft bei mir die Frage auf: Hat jeder, der an Depressionen zerbricht, nicht früh genug gemalt, gebastelt, Ausflüge gemacht?

Mit einem Titel wie „Freiberufler*innen leben oft prekär – und manchmal braucht es eine lange Auszeit“ würde ich das Buch stapelweise verschenken. Als Ratgeber und Stütze für Depressive empfehle ich es nicht.

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09. Arte

Autorin und Zeichnerin: Kei Ohkubo

Tokuma Shoten, seit Dezember 2013. Ab Mai 2020 Deutsch bei Carlsen.

62+ Kapitel in 11+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.

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Zu viele Mangas zeigen eine talentierte, junge Figur, die um jeden Preis die Allerbeste werden will… und über Jahre vor allem Durchhalten, Disziplin lernt. „Arte“, inspiriert von Renaissance-Künstlerin Artemisia Gentileschi, folgt dieser Formel. Mit zwei Besonderheiten: prachtvollen, gut recherchierten Kostümen und Stadtansichten (Florenz, Venedig). Und einem toll ökonomisch-feministischen Dreh: Denn Bürgertochter Arte (16) will Meisterschülerin werden, von Ölgemälden und Fresken leben, Geld verdienen. Nicht nur, weil Talent verpflichtet. Sondern, weil sie wütend ist über die Türen, die ihr als Frau verschlossen sind. Als Mentorin hilft ihr u.a. eine Kurtisane, die erklärt, wie man verhandelt, Klienten Grenzen setzt, auch als Frau im patriarchalen Florenz um 1600. Arte hat Schwung. Freiberufler-Trotz. Und Management-Qualitäten!

Nach einem starken ersten Band wirken Band 2 und 3 etwas formelhaft, überfrachtet: Arte löst jedes Problem mit Durchhalten, Verbissenheit und ist umgeben von recht eindimensionalen Figuren – dem wortkargen Meister (verliebt sie sich in ihn?) und einem jungen Lehrling, den irritiert, wie gern Arte aus der Frauenrolle fällt. Bevor ich einen dieser Männer als Liebschaft ernst nehmen will, braucht es noch viel Entwicklung. Traurig auch, dass die reale Artemisia Gentileschi eine viel komplexere Familie hatte: Sie wehrte sich juristisch gegen sexuelle Gewalt, lebte und dachte viel politischer.

Meine Lieblingsmangas übers Kunst-Machen bleiben „Bakuman“ und „Kakukaku Shikajika“. Doch wer Historien-Pracht wie „Young Bride’s Story“ liebt, findet hier ein fröhliches, oft feministisches Kleinod.

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08. Rosalie Lightning

Autor und Zeichner: Tom Hart

St. Martin’s Press, 2016.

272 Seiten, abgeschlossen.

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Über Nacht, nach einem plötzlichen Fieber, stirbt Tom Harts Tochter Rosalie, 2 Jahre alt. In „Rosalie Lightning“ setzt Hart Trauerarbeit, Notizen, Gespräche und Erinnerungen sowie Teile eines Traumtagebuchs in einen simpel gezeichneten Schwarzweiß-Comic um, oft nah am Look von Kinder- und Bilderbüchern. Vorahnungen und Neurosen, Geldsorgen und Selbstvorwürfe, die Versuche eines Künstler-Ehepaars, Sinn zu finden im plötzlichen Verlust und in den langen Monaten danach, sind reif, präzise erzählt – mit Drang nach emotionaler Wahrhaftigkeit. Alltägliches (Wie verkaufe ich eine Eigentumswohnung in New York?) steht neben Abgründen, Schmerz. Banales wird existenziell. Und die Erinnerung an Rosalies Eigenheiten und Satzfetzen zum kostbaren Schatz.

Schade, dass Hart nur über die erste Phase schreibt – statt zu beleuchten, ob Rosalie die Geburt eines zweiten Kindes überschattet. Besonders schade, wie flach Harts Frau im Buch bleibt: Viele Ehen scheitern nach dem Tod eines Kindes. Wie die Harts gemeinsam überlebten, welches Umdenken, welche Kämpfe nötig waren, deutet „Rosalie Lightning“ kaum an. Auch, dass Finanzen, Solidarität und Freundes-Netzwerke und, vor allem, Probleme mit Autos und Leihwägen so viel Raum nehmen, macht die Lektüre schleppend: Alles kostet Tom Hart Kraft, alles kann Wunden aufreißen. Letzte Energien rauben. Oder Ablenken: Stütze sein!

Ein kleinteiliges Buch über seelischen Ausnahmezustand, Gedankenkarussells, tückische Leerstellen… und darüber, wie man in Trauer dauernd von sich selbst überwältigt, erschreckt, sabotiert und geschützt wird.

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07. Black Dog: The Dreams of Paul Nash

Autor und Zeichner: Dave McKean.

Dark Horse, 2016.

80 Seiten, abgeschlossen.

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Plattencover (Tori Amos, Counting Crows, Fear Factory) und düstere Collagen in Kult-Comics der 80er und 90er („Batman: Arkham Ayslum“; die Titelbilder zu Neil Gaimans „Sandman“-Reihe): Dave McKeans Foto-, Stillleben-, Illustrations- und Computerkunst prägte die Bildsprache der Generation X. Komplette Comichefte und -alben aber füllt der Brite, Mitte 50, nur noch selten, und weil „Black Dog“ als Auftragsarbeit u.a. des Imperial War Museums entstand und nur 80 Seiten hat, dachte ich drei Jahre lang: „Nicht ewig danach suchen; nicht gleich extra kaufen!“ Doch, bitte: Sucht das! Kauft das! Kein Comic der letzten Jahre ist praller, opulenter, abwechslungsreicher, visuell komplexer und beglückender als diese „Man liest es schnell, doch kann sich endlos daran festschauen“-Biografie des modernistischen Malers Paul Nash (1889 bis 1946).

Nash war Offizier im ersten Weltkrieg, und seine Gemälde von u.a. Schützengräben und verwüsteten Feldern spielen mit Wahrnehmung, Mythologie, Verzerrungen. Mehrere eigene Bildsprachen, die McKeans „Black Dog“ kongenial zu eigenen kurzen Episoden weiter denkt: Fast jedes Motiv im Comic wirkt anders als das vorige, und alle sehen zwar aus wie typische McKeans – doch was wie Avantgarde-Comic, Innovation, 21. Jahrhundert wirkt, hat direkte Vorlagen in Skizzen und Gemälden Nashs. Statt Paul Nashs Leben bieder nachzuerzählen, geht es um Psychogeografie, innere Landschaften, Farb- und Seelenwelten, Brüche.

Reif, poetisch, kitsch- und patriotismusfrei: Ein Buch, das zeigt, wie viele Filter, Sichtweisen, Stilisierungen über einen Krieg und ein Leben gelegt werden können. Zum Verbergen, Verschnörkeln? Nein: Kunst macht sichtbar!

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06. Gender Queer

Geschrieben und gezeichnet von Maia Kobabe.

Oni Press, 2019.

240 Seiten, abgeschlossen.

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Trans Menschen wird bei der Geburt ein falsches, unpassendes Geschlecht zugewiesen. Nichtbinäre, genderqueere Menschen sind keine Männer oder Frauen: Manche fühlen sich mit ihrem Körper wohl, andere wollen Hormone oder OPs. Viele nutzen eigene Pronomen: Weil Maia Kobabe „sie“, „ihr“ und „ihre“ nicht mehr passen, wählt e „e“, „em“ und „eir“. Ems Erklär-Comic „Gender Queer“ zeigt Vieles über Gender, Körper und Begehren, das man nicht oft genug erklären kann: allgemeingültig – und lebenswichtig für Glück und Sicherheit vieler nicht-cis-Menschen. Der Comic ist simpel gezeichnet; und ich wünschte, Leute ab ca. 12 können das in der Schule lesen, auf Deutsch. Damit Begriffe wie „Dysphorie“ (der Körper passt nicht zum Selbstbild) und „cis“ (Geschlecht und Zuschreibung passen zusammen) endlich jede*r kennt.

Literarisch und psychologisch spannend sind die vielen persönlichen Anekdoten Kobabes, die nicht typisch, allgemeingültig sind: ems Selbstfindungsprozess und Überlegungen, welche Labels, Bezeichnungen passen. Zu Halloween verkleidet e sich als Johnny Weir – der Eislauf-Star, der Pailletten und Makeup liebt. „Im College kam mir meine Gender Identity vor wie eine Waage: In eine Schale legte man, ohne mich zu fragen, das riesige Gewicht ‚bei Geburt ‚weiblich‘ sortiert‘.“ Kobabes Gegengewichte: kurzes Haar, Testosteron, eine Mastektomie. „Mein Ziel ist Gleichgewicht – nicht Maskulinität.“

Auch deshalb liebt Kobabe Johnny Weir: Hätte man em das Geschlecht ‚Junge‘ zugiewesen bei Geburt, „ich hätte täglich mit ‚femininen‘ Gewichten gespielt: Schmuck, Röcke, Nagellack.“ So einfach. So persönlich – und komplex!

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05. A Trail of Blood

Autor und Zeichner: Shuuzou Oshimi

Shogagukan, seit Februar 2017.

62+ Kapitel in 6+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.

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Strotzen Comics vor Figuren, Opulenz, dramatischen Hintergründen, weiß ich Fleiß und Mühe zu schätzen. Was aber bei Schwarzweiß-Mangas, deren karge Bilder, Szenen und Schocks nur einen einzigen Effekt setzen wollen: Irritation? Seichi ist 14 und wird von der labilen, nervösen, übergriffigen Mutter behütet, überwacht, ausgebremst und bedroht: Ein Kräftemessen, mal greller, plakativer als bei Norman Bates in „Psycho“. Dann wieder nuanciert, alltäglich. Braucht es nur klare Worte, Zuspruch, Therapien – oder sollen wir hoffen, dass Seichi Beweise sammelt, flüchtet, die Mutter tötet? Abnabelung, Pubertätskonflikte… monströs bedrohlich inszeniert: Wie können machtlose Kinder Grenzen setzen? Braucht Seichis Mutter Rückhalt, Verständnis – oder soll er ein mörderisches Monster besiegen?

Der tolle Vorgänger-Manga „Inside Mari“ verrannte sich im plumpen Entweder-Oder: Entweder, Außenseiter Isao erwacht im Körper eines fremden Schulmädchens. Oder Mari hasst ihren Körper so sehr, dass sie plötzlich glaubt, ein Fremder aus der Nachbarschaft hätte ihren Körper übernommen? Neun Sammelbände, bei denen statt Psychologie bald nur noch zählte, wer die Wahrheit sagt: Mari oder Isao. „A Trail of Blood“ ist ebenso schlicht und wirkungsvoll gezeichnet – doch viel feiner, offener. Zwar wird auch hier eine große Suspense-Frage zentral (Geht Seichis Mutter über Leichen?). Psychologisch aber gehts um Grau statt um Extreme:

Endet das alles als schlimmstmögliches Mörder-Mutter-Blutbad? Oder in Versöhnung, Therapie, Neuanfang? Egal: Die Unfreiheiten des Erwachsenwerdens in der Familie sind hier grandios unheimlich inszeniert!

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04. The Alcoholic

Autor: Jonathan Ames. Zeichner: Dean Haspiel.

Vertigo, 2008. Neuausgabe 2018.

136 Seiten, abgeschlossen.

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Viele Bestseller-Memoirs erfolgreicher US-Boys, die im Großstadtleben in die Alkoholsucht rutschten und dann durchs Drüber-Schreiben noch erfolgreicher, urbaner, gefeierter gelten wollten als zuvor („Trocken“, 2003, „A Million little Pieces“, 2003) wirken eitel, gestrig, möchtegern. Denn die Höhen sind nie so hoch, die Tiefen nie so reflektiert, die Kehrtwenden und Aha-Erlebnisse nie so brilliant, wie der Ich-Erzähler gerne pocht. Jonathan Ames studierte in Harvard, lebt in New York, verdient Geld mit einer Krimi-Buchreihe und wäre gerne noch deutlich reicher, glamoröser, bekannter… doch schuf 2008, mit der autobiografischen Comic-Memoir „The Alcoholic“, das erste Tut-wie-Selbstanklage-doch-strotzt-vor-Selbstbeweihräucherung-Alkoholismus-Buch, mit dessem Autor ich tatsächlich gern befreundet wäre: verletzlich, schlau…

…und an den richtigen Stellen bescheiden, authentisch! Ames fragt, warum er als Schüler trank. Überlegt, ob er bi- oder heterosexuell ist und, warum Sex, Alkohol und Kontrollverlust für ihn zusammenhängen. Er zeigt die lebenslange Freundschaft mit einer exzentrischen Tante. Erlebt den 11. September 2001, hadert mit Haarausfall, Psychotherapie, chronischen Krankheiten. Und begreift sein Lernen, Wachsen, Umdenken als Prozess, statt zu kokettieren oder zu predigen. Ein kluges, persönliches, individuelles Buch, das trotz sehr einfacher, cartoonhafter Zeichnungen nie platt oder verkürzt wirkt – 2018 zurecht neu aufgelegt.

Sich selbst erklären, in größter Komplexität, in einem recht kurzen Comic, von einem anderen Künstler gezeichnet? Fantastisch, was hier gelang – schon vor elf Jahren!

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03. Best Friends

Autorin: Shannon Hale. Zeichnerin: LeUyen Pham.

First Second, 2019.

256 Seiten, abgeschlossen. Vorgänger-Buch „Real Friends“ 2017; Fortsetzungen möglich.

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Shannon Hale schreibt Creative-Writing-Ratgeber und Märchen-Jugendbücher: mild feministisch, doch oft unnötig gestrig, betulich. Auch „Real Friends“ (2017), ihr autobiografischer Comic übers Freundinnen-Finden in den 80ern für Kinder von Klasse 1 bis 6 wirkt bleiern, bemüht, lauwarm. Die Fortsetzung „Best Friends“ braucht kein Vorwissen – und endlich passt alles: Hale erzählt, wie sie in Klasse 7 Cliquen, Vorbilder, Vertraute fand; lernte, Grenzen zu setzen; und erste Fantasy-/Märchenbuch-Schreibversuche wagte. Hales Zwangsgedanken, Neurosen, die drückende Familie, die seichten Frauenfiguren der Ära und die bürgerliche Käseglocke ihres Viertels… zum ersten Mal lese ich ein Hale-Buch und denke nicht „uncool“. Sondern: „Cool erklärt, wie uncoole Milieus Leute einschränken, hemmen, uncool machen.“ Sogar Hale selbst, noch heute als Autorin!

„Best Friends“ zeigt Dutzende (meist weiße, recht reiche, sehr kindlich denkende) junge Frauen, in einem Netz aus Neid, Unsicherheit, Anpassungsdruck – versnobter als bei Marcel Proust. „Freundschaft“ ist hier kein Gefühl, sondern ein Konstrukt, dessen Regeln sich oft ändern. Regeln, die Kinder (besonders Mädchen) verstehen, beherrschen, befolgen müssen, ohne, sich Ängste anmerken zu lassen. Dass Hale nicht sagt „Mein Fehler: Ich habe OCD. Obsessive-compulsive Disorder“, sondern klar macht, dass Kindheit immer auch für alle heißt: Stress, Zwang, widersprüchliche „Lektionen“, macht „Best Friends“ schlau und wichtig.

Kindgerechte Bilder, Anekdoten, Erinnerungen – über ungeheuer komplexe Gefühle, Ängste und Beziehungsnetze: So ernst genommen von Literatur dürfen sich Zwölfjährige selten fühlen.

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02. Upgrade Soul

Autor und Zeichner: Ezra Claytan Daniels.

Oni Press, 2018.

Erstmals 2013 in zwei digitalen Bänden erschienen.

272 Seiten, abgeschlossen.

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Schönheit ist käuflich. Und bald auch Jugend, IQ, Jahrzehnte Bonus-Lebenszeit? „Upgrade Soul“ wird nicht durch seine Bioethik- und Transhumanismus-Themen spannend: Genauso menschlich, klug, komplex erzählte z.B. bereits 1966 Daniel Hayes‘ „Blumen für Algernon“ vom Preis, biologische Potenziale voll auszureizen. Nein: Packend, hypnotisch, unerhört an „Upgrade Soul“ sind vor allem Erzählstruktur, Rhythmus, Ton und Optik. Wer ist die Hauptfigur? Wer soll uns leid tun, wer erschrecken? Wer behält welche Geheimnisse über eine noch unreife, experimentelle und teure Methode, ein Leben zu verlängern, für sich: zum eigenen Vorteil? Um Patient*innen zu täuschen? Zu schützen? Noch nie dachte ich bei einem Comic: Das wäre als Theaterstück brillant. Samuel Beckett würde lieben, was hier gefragt wird zu Hybris, Scheitern, Entropie!

„Upgrade Soul“ spielt in Labors und Krankenzimmern und zeigt, wie Menschen, die sich für besser halten, erst Körper optimieren – und dann bei Komplikationen und Behinderungen neu ausloten müssen: Sind diese Leben jetzt besonders und/oder zerstört? Ein Comic über Menschenwürde, bei dem die Stellschrauben „Gesundheit“, „Schönheit“, „Alter“ bei vielen Figuren so unerwartet und schockierend verdreht werden, dass klar wird: Bei welchen Verschlechterungen dir dein Leben weiter lebenswert scheint, was „Kaputtsein“ bedeutet, wer zueinander passt und, ob du deinen Körper liebst… entscheiden Menschen selbstbestimmt für sich, ganz allein!

Ein Comic über Alter, Klasse, Behinderung und bizarre Folgen transhumanistischer Handels- und Tausch-Aktionen, der seine Figuren liebt – und kein einziges Leben „wertlos“ nennt oder „vertan“. Ethik und Menschenwürde!

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01. Good Talk

Autorin und Zeichnerin: Mira Jacob.

One World, 2019.

400 Seiten, abgeschlossen.

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Wie können, dürfen wir Gespräche teilen, in denen wir enttäuscht, irritiert, angegriffen wurden? Wer drüber twittert, Cartoons oder Stand-up macht, wirkt oft missgünstig. Wer das Erlebte in Romane oder Filme gießt, pompös und einseitig. Mira Jacob, Romanautorin Mitte 40, findet eine Kunstform, um die wichtigsten Dialoge, Streits, Debatten ihres Lebens zu zeigen – ohne, dass Jacob dabei alles einfärbt, überschattet: Sie zeigt digitale Fotos ihrer Nachbarschaft, ihrer Küche, des Gästezimmers der Schwiegereltern. Paust sich selbst und alle Gegenüber ab, als Strichzeichnung. Und füllt jede Seite mit Dialogketten, Comic-Gesprächsballons. Exakte Gesten, Gesichtsausdrücke, raffinierte Perspektivwechsel fehlen: Ich lese Dialog. Und sehe grade genug Gesichter, Mode, konkrete Räume, um zu verstehen, wer da spricht.

Wie blutleer oder vage klänge das als Prosa-Protokoll – Gespräche unter Fremden, luftleer auf weißem Papier? Doch wie pedantisch, wertend, übergriffig wäre Jacob, sobald sie alle als Figuren stilisiert, bewegt, inszeniert? Nein: Die nüchternen, gesucht dokumentarischen Kopf-als-Strichzeichnung-vor-Foto-mit-Sprechblasen-drüber-Montagen sind ein brillanter Rahmen, um zu zeigen, wie Jacobs Eltern, aus Indien in die USA eingewandert, oft zugleich Stütze waren und Hemmnis. Wie die jüdischen Schwiegereltern Trump verteidigen. Wie Jacobs Sohn mit 5 oder 6 erste Fragen zu Rassifizierung, Hauttönen, Polizeigewalt stellt.

Bücher können Empathie-Maschinen sein. „Good Talk“ schenkt uns zwei Stunden Lesezeit und Zwiegespräch übers Ankommen, Ausgrenzen, Dazugehören. Warmherzig – und bohrend klug!

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