Ada Palmer: „Dem Blitz zu nah“ & Terra Ignota (Rezension / Kritik)

Im März 2022 las ich Ada Palmers vier „Terra Ignota“-Romane.

Ich schrieb zwei Rezensionen:

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Keine Macht für Grenzen, Religion, Geschlecht

Verkopft und warmherzig: Ada Palmers Utopie „Terra Ignota“ feiert auf 3000 Seiten neue Wohn-Entwürfe und sprachlich-literarischen Exzess.

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Ibasho heißt „Zuhause“ oder „Ort, an den man gehört“ in Japan. Und weil Science Fiction inspirieren kann und frische Denk-, Sprach-, Lebensmodelle zeigen, hofft Autorin Ada Palmer, dass wir eine ihrer  Wortneuschöpfungen bald alle selbst benutzen – und im Alltag ausprobieren: „Bash“ ist Palmers Begriff für „Wahlfamilie“. Ein „Bash-House“ ist meist größer als das Eigenheim der Kern- und Kleinfamilie. Oft gründen junge Erwachsene und Cliquen ihr „Bash“, um Kinder gemeinsam großzuziehen. Palmer selbst wohnt in einer WG in Chicago und wünscht sich, dass Generationenhäuser und Co-Parenting gängiger werden.

Palmers in vier Bänden abgeschlossene Reihe „Terra Ignota“ erschien 2017 bis 2021. Claudia Kerns Übersetzung ins Deutsche ist ein besonders heikler Kraftakt – weil die Romane kaum direkt erklären: Der Ich-Erzähler Mycroft stößt uns ins kalte Wasser. Als Chronist soll Mycroft sieben Tage im Jahr 2454 beschreiben, in der eine friedliche und progressive Weltordnung plötzlich Risse zeigt. „Dem Blitz zu nah“, der in den USA besonders beliebte und prämierte Band 1, zeigt nur vier dieser sieben Tage – und beantwortet fast keine Fragen.

Zwei Gründe machen ihn zur unvergesslichen, beispiellosen Lektüre. Die schiere Mühe, Mycroft zu folgen – der so gern lügt, schwafelt, verschweigt und, als Fan von Voltaires Aufklärung des 18. Jahrhunderts, oft unerträglich elitär und gestrig Polit-Rituale und Verflechtungen, Salons und Staatsakte ins Pathetische zieht. Wer für vier Bände gut 100 Stunden Lese- und Lebenszeit aufgibt, um aus Mycrofts Sprach-Zumutungen herauszupuzzeln, wie Palmers Welt funktioniert (und wie viele Aspekte dürftig, trashig, undurchdacht oder reaktionär sind), lernt unterwegs viel über Weltenbau und Erkenntniswege, Sprachfluss und erzählerische Zumutungen. Palmer, geboren 1981, studierte in Harvard und weiß als Professorin für Geschichte, wie viele Faktoren, Normen, Zufälle und Umwege man kennen muss, um zu begreifen, wie eine Epoche begann und endet. „Dem Blitz zu nah“ ist eine Einladung, politische Kartenhäuser verstehen zu lernen – aus einem Text heraus, der große Widerstände leistet, verständlich zu wirken.

So bleischwer sich das liest: Die Einladung wurde breit angenommen, weil „Terra Ingota“ oft als feministisch gedeutet wird und viele Orte, Oberflächen und Figuren in Buch 1 gemütlich wirken, weich, heimelig und als wären Palmer Vielfalt und Queerness wichtig. Via Flugtaxi pendeln Figuren zu Jobs auf anderen Kontinenten. Nur wenige arbeiten Vollzeit (freiwillig, als motivierte „Vocateure“). Seit den „Church Wars“ vor fast 300 Jahren ist Glaube Privatsache. Und niemand soll sich mehr in den Schubladen „Mann“ und „Frau“ eingeschränkt fühlen: Fast alle Welt benutzt für alle Figuren das neutrale „they“ als dritte Person Singular. Im Deutschen schafft das Neo-Pronomen „nin“ toll irritierende Szenen.

Man braucht oft 50, 100 Seiten, um Sätze zu verstehen wie „Nin sagt, einin Polyrecht sei oben: ein Maurernin.“ Jemand mit unbestimmtem Geschlecht sagt, im Stockwerk oben sei jemand anderes mit unbestimmtem Geschlecht: eine Person, die alle Rechtssysteme kennt und sich selbst vom Rechtssystem des Mason-Hives regieren lässt – ein Freimaurer-Imperium, das behauptet, schon seit dem alten Rom viele große Imperien zu lenken. Fast jeder Erwachsene lässt sich von einem dieser sieben Hives regieren. Greenpeace-Mitsubishi liebt Land (und Kimono-Kitsch), Europa liebt den Idealismus der EU (und Kulturerbe-Kitsch), Humanisten lieben Ambition (und Versailles-Kitsch, und Olympia), die Cousins lieben Mutter-Theresa-Kitsch, die Maurer Altes-Rom-Kitsch, und nur zwei Hives schauen nach vorn:

Am Brill-Institut in Ingolstadt soll das Gehirn digitalisiert und Menschlichkeit berechenbarer werden. Und auf dem Mond plant Utopia den nächsten Schritt Richtung Mars: eigenbrötlerische Science-Fiction-Fans, die mit der Erde schon fast abgeschlossen haben. Wer das bezaubernd findet, hat in Band 1 allerlei „Alle Figuren sind einsortiert wie in Hogwarts und sehen durch Anti-Aging-Mittel und geschlechtsneutrale Kleidung aus wie androgyne 17jährige in schicken Uniformen!“-Schauwerte; und wer das fadenscheinig und schief findet, wird durch Mycrofts wachsende Systemkritik ab Band 2 etwas versöhnt. Denn Mycroft glaubt, Herkunft, Geschlecht und Religion werden mächtiger, je mehr man sie tabuisiert.

Praktisch heißt das leider, dass Mycroft „als griechischer Mann“, der die Welt nach Spuren eines schöpferischen Gottes absucht, jede Figur, die herrscht, lenkt und entscheidet „Mann“ nennt und jede Figur, die sich kümmert, „sie“: Sniper, Promi und Sex-Symbol, wird von Mycroft ungefragt „es“ genannt. Während 2022 also immer mehr Leute vom Glück berichten, die für sie genau passenden Worte zu finden, hat Palmers Welt nur die Optionen „Ich habe keinen Grund, mein Geschlecht zu benennen“ und „Mycroft nennt mich irgendwie. Je nachdem, ob ich eher seinem Bild einer Frau oder eines Mannes ca. 1740 entspreche“.

Nach dem paradoxen, wirren, zauberischen Band 1 werden die Bücher konkreter. Das ist schlecht. Weil Palmer mit jedem Satz klarer zeigt, dass Tempel, Uniformen, Nonnen und Staatsherren für sie tausendmal mehr Kraft, Bestand, Faszination verdienen als die Idee, Herkunft, Religion und Geschlecht tatsächlich produktiv zu erweitern – statt totzuschweigen und ihren Mycroft davon schwärmen zu lassen, wie viel kraftvoller die Welt vor diesen Tabus war.

Und leider sind da noch – im Mittelpunkt, doch fade und nebensächlich erzählt: das Wunderkind und der Gott. Denn Mycroft beschützt einen 13jährigen, der alle Dinge aus dem Nichts erschaffen kann. Mycroft glaubt, weil so ein Kind existiert, muss auch Gott existieren. Und Mycroft bewundert einen Maurer-Spross, Jehovah Mason, der spricht und denkt wie ein Alien. Oder ein fremder Gott, Kollege unseres Schöpfers? An keiner Stelle hat Ada Palmer Lust, durchzudenken, was die Existenz solcher zwei Figuren für die politischen Systeme ihrer Welt bedeutet: Statt dass alle überlegen, wo sie in einem Kosmos stehen, in dem Götter und Wunder existieren, gehts zur Olympia-Eröffnung oder in einen Voltaire-Puff. Beide Wunder-Figuren bleiben Chiffren (und reden vor allem über die Ilias oder auf Latein). Dass ein Gott, Schöpfer hier wohl mitmischt, schluckt Mycroft lapidar wie eine Figur aus religiösen Trash-Bestsellern wie „Left Behind“.

„Terra Ignota“ ist wuchtig, ambitioniert, unverschämt idiosynkratisch. Palmer liebt ihre feingeistigen Figuren. Ihre frischeste Idee ist: In 400 Jahren gibt es schöne WGs. Doch immerhin: Wo sonst kriegt nin solche Sätze zu lesen?

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…und, detaillierter:

Kein aktuelles Science-Fiction-Epos wagt literarisch mehr als Ada Palmers „Terra Ignota“

Ein Roman, der ausnahmslos jede Figur „Frau“ nennt – 500 Seiten im generischen Femininum: Ann Leckies militärischer Weltraum-Thriller „Die Maschinen“ (2013) erzählt aus Sicht einer Künstlichen Intelligenz, die nur noch Soldatinnen, Kapitäninnen, Herrscherinnen sieht, weil es für „Soldat“ kein eigenes Wort mehr gibt. Die Übersetzung stärkt das noch: Denn wo Leckie geschlechtsneutral „Soldier“ schreibt, lässt Bernhard Kempens „Soldatin“ schneller Bilder entstehen, die manchmal unerhört wirken, oft feministisch, immer subversiv.

Ada Palmers vier Bände lange Utopie „Terra Ignota“ geht einen Schritt weiter – und dann drei oder fünf zurück: Im Jahr 2454 gilt Geschlecht als überholt. Nur Mycroft Canner, Erzähler, Chronist und Strafgefangener, bricht die Sprachregelung: In einem Protokoll beschreibt er sieben Tage, in denen die Weltordnung nach fast 300 Jahren Wohlstand Risse zeigt. Bisher war alles utopisch-gut: Schon seit den ‚Church Wars‘ ist illegal, in Gruppen über Glauben zu sprechen. Es gibt keine tiefen Ländergrenzen mehr. Und alle Menschen werden geschlechtsneutral als „they“ beschrieben statt als „he“, „she“. (Doch warum will keine Figur aktuelle Neo-Pronomen wie „ser“ oder „xier“, die heute verstärkt u.a. trans und nichtbinäre Menschen oft nutzen?)

Einzig Erzähler Mycroft wählt einen frevelhaften, respektlosen Sonderweg: Das Sex-Symbol Sniper wirkt androgyn – also sagt Mycroft „it“, ohne Sniper zu fragen. Wer die Welt lenkt, kämpft und regiert, heißt bei Mycroft „er“. Eine hünenhafte Figur namens Gibraltar Chagatai hat Dreitagebart – doch kocht so gern und fürsorglich… Mycroft findet „Mama Bear“ für sie korrekt. Ein unzuverlässiger Erzähler, besessen von Geschlechts-Klischees, der jede Figur ungefragt sortiert und gewaltvoll gendert.

„Dem Blitz zu nah“, Claudia Kerns deutsche Übersetzung von Band 1, nutzt kein „they“ wie im Original, sondern das Neopronomen „nin“: Man braucht oft 50, 100 Seiten, um Sätze zu verstehen wie „Nin sagt, einin Polyrecht sei oben: ein Maurernin.“ Jemand mit unbestimmtem Geschlecht sagt, im Stockwerk oben sei jemand anderes mit unbestimmtem Geschlecht: eine Person, die alle Rechtssysteme kennt und sich selbst vom Rechtssystem des Mason-Hives regieren lässt – ein Freimaurer-Imperium, das behauptet, schon seit dem alten Rom viele große Imperien zu lenken.

Zu dicht und schwülstig? Zu viel, das sich erst unterwegs erklärt? Autorin Palmer, geboren 1981, studierte in Harvard und ist Geschichtsprofessorin in Chicago. Vieles an ihrer Zukunfts-Welt ist gestrig, betulich, bieder rückwärtsgewandt: Die Mason-Figuren, die auf Latein sprechen. Eine Polit-Elite, die Voltaires Zeit der Aufklärung liebt, Salons des 18. Jahrhundert, leeren Prunk, Uniformen und Geschlechterrollen wie aus kitschigen Ballsaal-und-Kampfroboter-Animes. Weil Herkunft, Geschlecht und Religion tabu sind, spricht Mycroft pausenlos darüber, wie er als griechischer Mann Göttern und Hybris trotzt und aus der Ilias die Gegenwart verstehen will. Mag die Autorin ihren Mycroft: Massenmörder und Schwafel-Snob? Mag Mycroft die Welt, die er so umständlich beschreibt? Hat diese Welt ein Recht, sich „fortschrittlich“ zu nennen – und sind wir in einem fortschrittlich erzählten Buch? All das verschiebt sich über 2500 Seiten lang in quälend trägem Tempo immer schiefer: Wen tötete Mycroft, und warum darf er seitdem pausenlos an den wichtigsten Besprechungen einer globalen Elite teilnehmen?

„Terra Ignota“ fragt, was Fortschritt und eine vielstimmige Gesellschaft ausmacht – und hat am Ende zwei, drei progressive Ideen, warmherzige Standpunkte und Thesen. Palmers Leidenschaft für Raumfahrt wird über-deutlich. Doch um das Ende zu erreichen, setzt man sich Textwüsten, Umwegen, Kitsch, lieblosen Lücken aus und wartet pausenlos mit den unwichtigsten, humorlosesten Figuren in bleiern erzählen Besprechungen und Staatsakten. Die einzigen drei großen Rollen, die Mycroft gern „sie“ nennt, sind misogyne Klischees (Hexe, Intrigantin, Stalkerin), während allerlei allergrößte Kaiser und Herren regieren wie vor Jahrhunderten. Weil Technik, Überwachung und ein paar Kameras Palmers Plot verhindern und auflösen würden, ist ihr Jahr 2454 voller gestriger Funk- und Logiklöcher. Eine Zukunft wie ein humanistisches Gymnasium mit Handy-Verbot.

Zwei Qualitäten machen „Terra Ignota“ trotzdem beispiellos: Im kalten Wasser antiquierter Sprache(n) eine Welt verstehen lernen, die mit jedem Satz weniger Sinn ergibt, wird zum literarischen Workout – drei Nummern spröder als bei Proust, „Ulysses“, „Unendlicher Spaß“. Nur wenige Bücher sind härter zu knacken! Und wer keine 2500 Seiten will, in denen Figuren, Systeme und Regelungen doch endlich problematisiert und durch-erklärt werden, kriegt gleich zu Anfang eine – unlogische und absurde, doch sehr gemütlich wirkende – Alltagswelt für Nerds: Weil Flugtaxi-Autos binnen Stunden die Welt umkreisen, pendeln fast alle täglich zu Jobs auf anderen Kontinenten. Statt in der Kleinfamilie leben Leute in (polyamor-queeren? Palmer sagt zu weng dazu) Wahlfamilien-Häusern. Fast jeder Erwachsene lässt sich von einem der sieben Hives regieren: Greenpeace-Mitsubishi liebt Land (und Kimono-Kitsch), Europa liebt den Idealismus der EU (und Weltkulturerbe-Kitsch), Humanisten lieben Ambition (und Olympia-Kitsch), die Cousins lieben Mutter-Theresa-Kitsch, die Maurer Altes-Rom-Kitsch, und nur zwei Hives schauen nach vorn:

Am Brill-Institut in Ingolstadt soll das Gehirn digitalisiert und Menschlichkeit berechenbarer werden. Und auf dem Mond plant Utopia den nächsten Schritt Richtung Mars: Eigenbrötlerische Science-Fiction-Fans, die mit der Erde schon fast abgeschlossen haben. Wer das bezaubernd findet, hat in Band 1 allerlei „Wie Hogwarts, nur queerer, und alle Figuren sehen aus wie androgyne 17jährige in schicken Uniformen!“-Schauwerte; und wer das fadenscheinig und schief findet, wird durch Mycrofts wachsende Systemkritik ab Band 2 etwas versöhnt. Nur sind da noch: das Wunderkind und der Gott. Denn Mycroft beschützt einen 13jährigen, der alle Dinge aus dem Nichts erschaffen kann – und glaubt, weil so ein Kind existiert, muss auch Gott existieren. Und Mycroft bewundert einen Maurer-Spross, Jehovah Mason, der spricht und denkt wie ein Alien. Oder ein fremder Gott, Kollege unseres Schöpfers?

An keiner Stelle hat Ada Palmer Lust, durchzudenken, was die Existenz solcher zwei Figuren für die politischen Kartenhäuser ihrer Welt bedeutet: Statt dass Figuren überlegen, wo sie in einem Kosmos stehen, in dem Götter und Wunder existieren, gehts zur Olympia-Eröffnung oder in einen Kostüm-Puff. Beide Wunder-Figuren bleiben Chiffren (und reden vor allem über die Ilias oder auf Latein). Dass ein Gott, Schöpfer hier wohl mitmischt, schluckt Mycroft lapidar wie eine Figur aus religiösen Trash-Bestsellern wie „Left Behind“:

„Terra Ignota“ stapelt alte, oft reaktionäre Bilder. Verklebt in leblos pseudo-poetischer, elitärer Sprache. Manchmal kommt eine Nonne. Manchmal Odysseus. Immer kommt die nächste Konferenz: heute mit dem Flugtaxi zum Vatikan. Wer sagt: „Der frischeste, schwungvollste Comic, den ich las, war Asterix auf Latein, in Klasse 9“ sagt auch: „Palmer macht progressive, feministische SciFi.“ Immerhin aber: Wer sonst zieht so idiosynkratisch-unverschämt sein Ding durch, literarisch? Wo sonst kriegt nin solche Sätze zu lesen?

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Ada Palmer: „Dem Blitz zu nah: Eine Erzählung der Ereignisse aus dem Jahr 2454“

aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Kern

Panini Verlag, Stuttgart 2022

672 Seiten. 19 Euro

viele Figuren sind of Colour, und beinah alle genderqueer – doch die Kostüme und Ästhetik, die Palmer oft feiert, erinnert mich an militaristische Historien-Space Opera-Animes wie „Macross“ oder „Legend of Galactic Heroes“