Fast hat es den Anschein, als setze die öffentliche Wahrnehmung die digitale Kommunikation mit Bashing und Shitstorm gleich. Wie oft hören wir, dass im Netz die Hemmschwellen gering seien und die Kommunikationsstile entsprechend rau. Da werde mit harten Bandagen gekämpft und Andersdenkende im Schutz der Anonymität gemobbt. Woraus Konsequenzen in Form von anhaltenden Diskussionen um Netiquette, Fairness und Zivilcourage im Netz gezogen werden.
Natürlich gibt es das dort auch: Schmähreden, Hasstiraden, Verunglimpfungen Andersdenkender. Mein Eindruck ist allerdings, dass es im Netz eher sittsam zugeht. Bisweilen vielleicht sogar zu sittsam!? Hitzige Debatten, bei denen sich die Gemüter erregen und die Stimmen laut erheben, erlebe ich bei Facebook und anderen Communities oder Blogs so gut wie nie. Man geht sich nicht an den Kragen. Im Gegenteil: Angesagt ist Wohlfühlen. Und deshalb passt man sich lieber an. Da man weder auffallen, noch anecken und zudem mit seiner Meinung nicht alleine bleiben mag, richtet man seine Statusmeldungen nach dem Massengeschmack. Mainstream galore! Mit populärer Musik, niedlichen Katzenbildern, rotglühenden Sonnenuntergängen, einem Instagrambild vom leckeren Mittagessen, Sinnsprüchen und Albernheiten oder Schmeicheleien hält man seine Claqueure bei der Stange.
Und wer Themen postet, die ein gewisses „Geschmäckle“ haben oder problematisch sind, der versucht sie zu entschärfen. Zur verpatzten Abschlussarbeit passt ein Song von Gloria Gynor („I will survive“), zum Refugee-Camp am Brandenburger Tor ein Sinnspruch. Und für den Darmvirus, an dem man laboriert, hält ein Markenzwieback her, den man mittels Fotoapp gekonnt ins Licht gesetzt hat. Zum schönen heilen Kosmos, den Netzwelten suggerieren, gehören auch Selbst-Inszenierungen mit dem Zweck, sich möglichst vorteilhaft in Szene zu setzen. Wir Helden, die wir keine Ängste noch Sorgen kennen! Ohne Fehl und Tadel und zudem mit allem ausstaffiert, was die Konsum- und Warenwelten hergeben.
Ich frage mich, warum die eindimensionale Sicht, die das Netz vielfach abbildet, und die Heile-Welt-Mentalität, die dadurch befördert wird, nicht weiter verstören. Problematisch sind nicht allein die „schönen“ Bilder und Texte, die vermittelt werden, sondern besonders auch die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen bzw. nicht umgegangen wird. Partizipation im Netz, allemal bei Facebook, erschöpft sich mehrheitlich in Akklamation.
Symbolkräftig ist der „gefällt-mir“-Button, der vielfach arglose und inflationäre Verwendung findet. Problematisch sind Empfehlungsbuttons auch, weil sie per se eine kritische oder differenzierte Stellungnahme obsolet machen. Man mogelt sich quasi mit einem Klick drumherum. Und weil der „gefällt-mir“-Button so massenhaft in Gebrauch ist, wäre natürlich auch darüber nachzudenken, ob die äußerst bequeme Art, Affirmation zu bekunden, nicht Auswirkungen auf Diskurse haben könnte, die sich in der realen Welt vollziehen …
Wollen wir Claqueure haben, die den Mund halten? Natürlich nicht. Deshalb wünsche ich mir bei den Diskussionen um Netiquette, Fairness und Zivilcourage im Netz gelegentlich ein wenig mehr Weitsicht. Lediglich eine Minderheit dürfte in Abrede stellen, dass ein respektvoller Umgang bei der digitalen Kommunikation keine Notwendigkeit ist. Was es neben einem Knigge auch braucht, ist ein Coach, der aufzeigt, wie man sich im Netz differenziert einbringt oder dort konstruktiv-kritisch Stellung bezieht. Pluralismus braucht Reibung und kritische Partizipation, keine Lobhudelei und Schönfärberei.
An die Adresse der Projektgruppe Medien, Kultur, Öffentlichkeit der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft gerichtet: Wer die Frage stellt „Was geht (gar nicht) in Netz?“ sollte auch darauf Obacht haben …