SteglitzMind

Stefan Mesch dreht eine Extrarunde: Sind bibliophile Blogger Nostalgiker?

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Stefan Mesch war mir ein unbeschriebenes Blatt. Bis zu jenem Tag im November 2012 jedenfalls, an dem er in einem Gespräch mit Johannes Schneider vom Berliner Tagesspiegel einen Stein ins Rollen brachte, der die ‚bibliophile‘ Szene im Netz vor den Kopf stieß.

Abermals auffällig wurde mir der bloggende Autor/Kritiker vor einigen Tagen, und zwar als auf SteglitzMind verlinkender Rekordhalter. Hier beziehe ich mich auf diesen Artikel in Stefans Blog.

Dass ich ihn nun eingeladen habe, sich ebenfalls zur Frage zu äußern, ob bibliophile Blogger Nostalgiker sind, hat ebenfalls einen speziellen Hintergrund. Nämlich diesen: Gestern hatten zu der besagten Frage von LiteraturFutur hier einige Bloggerinnen und Blogger Stellung bezogen. Statements, die Stefan für wischi waschi hielt, wie er baldigst in einem sozialen Netzwerk kundtat. – Jetzt, sagte ich mir, jetzt ist er dran! Und zu meiner Überraschung ließ er sich nicht lange bitten …

Nun freue mich, dass er prompt angebissen hat, und bin auf unsere persönliche Begegnung bei LiteraturFutur – neue Formen der Literaturvermittlung – in Hildesheim am 24./25. Mai doch sehr gespannt …

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Für Streber wie mich waren Bücher „wertvoll“, „richtig“, „gut“ – mein Leben lang:

Kindergärtnerinnen, Lehrer freuten sich, wie viel ich las.

Verkäufer, Schreibwarenhändler ließen mich für Stunden blättern, stöbern.

© Stefan Mesch

Meine Großeltern bezahlten Comics, Magazine.

Meine Mutter entschuldigte / erlaubte / ermöglichte jeden Tag, den ich mich hinter Büchern und Geschichten vergrub.

Sogar mein Vater hatte einen gewissen… Respekt: Er las in 50 Jahren keinen einzigen Roman. „Für sowas habe ich keine Zeit.“ Doch dass ich MEINE Zeit, so lange ich denken kann, mit Büchern „verschwende“, machte er mir nie zum Vorwurf.

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„Sind bibliophile Blogger Nostalgiker?“, fragt das Team der Hildesheimer Literatur- / Medien-Konferenz lit.futur Gesine von Prittwitz. Gestern leitete Gesine die Frage weiter, an eine größere Runde Blogger. Doch viele Statements erschienen mir mau, nichtssagend, unfertig:

Wären die Antworten weniger defensiv ausgefallen, wenn…

…stattdessen jeder Blogger persönlich gefragt worden wäre: „Bist DU Nostalgiker?“

…die Frage gedreht, gewendet worden wäre: „Bloggst du darüber, wie sich Lesen und Literatur verändern? Kuckst du nach vorne? Mit welchem Gefühl?“

Ich bin 30 Jahre alt. Ich las knapp 1.200 Romane, 700 Comics.

Ich schreibe über Bücher für ZEIT Online und den Tagesspiegel, bin auf Seite 300 meines ersten eigenen Romans, „Zimmer voller Freunde„, und durfte mir mein ganzes Leben lang sicher sein, dass jemand anerkennend nickt, sobald ich sage: „Gestern habe ich fünf, sechs Stunden lang gelesen.“

Lesen, sagte meine Welt fast 30 Jahre lang, ist wertvoll. Geschichten sind wichtig. Kultur stiftet Sinn. Literatur ist gut. Bücher sind ein Weg, die Welt zu verstehen. Lektüre „installiert neue Software in unserem Gehirn“:

Wenn ich viel Zeit damit verbringe, zu lesen, werde ich zu einer klugen, weisen, reifen, gebildeten, entfalteten, tugendhaften Person: Bücher bringen uns weiter. Bücher tun uns gut.

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Doch aller Kitsch, alle Streber-Arroganz beiseite: Bücher brauchen absurd viel Zeit – und Menschen, die ihr Leben so einrichten (können), dass sie Romane lesen können statt kurzer Artikel, Sachbücher (oder einfach nur pragmatisch, kurz die Radio- und TV-Nachrichten verfolgen), haben – keine Frage! – eigene Prioritäten. Ein besonderes… Gemüt.

Wenn ich schnelle FAKTEN will, sauberen Überblick, spröde ‚Wahrheit‘ oder Nutzen, Service, sind Dutzende anderer Medien / Formate schneller, dichter und effizienter.

John Updike, glaube ich, nannte Romane mal „Empathy Machines“: Sie saugen uns ein. Und muten uns zu, auch mal 400 Seiten Gedanken oder Figuren zu folgen, die nicht sofort Funken sprühen, Spaß machen, knallen und gefallen. Als Leser / Buchliebhaber braucht man eine Grund-Geduld, Toleranz und Offenheit.

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Ich glaube, das selbe Gemüt, die selben Tugenden (Grund-Geduld, Toleranz und Offenheit) helfen auch beim Bloggen: Wozu die eigenen Texte, Standpunkte völlig FREMDEN Menschen antragen? Wozu sich diskutieren lassen? Kritik aussetzen?

Für mich sind das das „nostalgische“ Werte:

Offenheit, sich auf Texte, Menschen, Standpunkte einlassen. Nicht-zielgerichtetes Denken. So weit verstehe ich die Frage: Sind bibliophile Blogger Nostalgiker? Sehr viele, bestimmt.

Denn Leser lesen „nostalgisch“. Und Literatur-Blogger bloggen „nostalgisch“.

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Die meisten „Nostalgiker“ aber, die ich kenne, sind anders: Sie wünschen sich Struktur, Netze, Sicherheit. Einen gleichförmigen Rhythmus. Und das bieten andere Formate VIEL stärker als Literatur (und Blogs):

Bei „Nostalgikern“ denke ich an starre Genre-Formate und Immer-das-selbe-Muster-Zeug wie „Monk“. An Sitcoms. An simple, feste Spiele. An Gartenbau. An Puzzles. An einen starken, verlässlichen, ordentlichen Rahmen, der vor Veränderungen und Zumutungen schützt.

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„Nostalgiker“ ist ein Reizwort. Und die Debatte ist für mich so wichtig / spannend, weil viele Blogger – in meinem Alter oder älter – in einer Welt aufwuchsen, die Bücher ähnlich lobte, feierte, fetischierte wie meine Lehrer und Eltern:

Bücher bringen Aufstieg, bessere Chancen. Bücher bringen Klassenmobilität.

Bücher bringen uns voran.

Ich bin nicht der einzige Roman-Streber, der über sein Bücherregal, seine Lese-Listen, seine Goodreads-Seite und seinen Terminkalender blickt und denkt: „Sehr gut. Ich habe Stunden mit etwas Sinn- und Wertvollem, Wichtigen verbracht.“

Ich bin nur nicht mehr sicher, ob das stimmt.

Ich bin nicht sicher, ob ich als Leser noch lange „punkten“ kann.

Romane fressen Zeit. Bücher fressen Platz. Leser sind Eigenbrötler, Träumer und Egoisten. Blogger sind selbstverliebt, in ihre Stimme und ihre beschränkte, eigene Perspektive.

Meine jüngeren, pragmatischeren, aggressiveren Freunde schauen auf mein Bücherregal und sehen: ein Grab für Zeit, Geld, Produktivität. Ich hätte die Welt bereisen können. Häuser bauen. Oder Geld verdienen, um mir den Bau von Häusern zu finanzieren.

Was habe ich in der Hand? Ein paar Lese-Erfahrungen. Erinnerungen an Bücher, vor 15 Jahren gelesen, deren Details schon längst wieder zerfallen.

Romane sind ein subjektives, sperriges, störrisches Medium. Eine umständliche Weise, meist „nutzlose“, schwammige Gefühle und Stimmungen zu vermitteln. Wer einen Partner sucht, um eine Familie zu gründen, freut sich über (Hobby-)Gärtner, Bastler, Köche.

Aber Leser… sind Schluffis. Waschlappen. Opfer. Trödler. Spinner. Egoisten.

Nostalgiker – die vielleicht gerade erst verstehen, dass etwas, für das Oma, Papa und der Kindergärtner großen Respekt, Bewunderung aufbrachten…

…immer weniger Achtung, Platz, Respekt findet. Heute.

Ich bin nicht sicher, ob – heute – Kinder gelobt werden, wenn sie sich 100, 200 Seiten lang in einem Buch versenken. Vielleicht verdienen sie mehr Lob, wenn sie abbrechen. Klug suchen. Effizient entscheiden. Sich zielgerichtet informieren.

Geschickt googeln:

Das mit den „Empathie-Maschinen“, merke ich gerade, hat John Updike nie gesagt. Es war Roger Ebert, der Filmkritiker (danke, Suchmaschine!). Und er sprach nicht über Romane. Sondern übers Kino. Ein Massenmedium, das heute noch Massen begeistert.

Bücher, Leser, bibliophile Blogger dagegen sind am Rand.

Beklatschen, loben, bewundern… tun wir uns nur noch selbst.

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BTW: Womöglich war Stefan mit seinem Urteil etwas voreilig? Wie angekündigt, erscheinen in den kommenden Tagen hier weitere Statements von Bloggerinnen und Bloggern zur Frage „Sind bibliophile Blogger Nostalgiker?“

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