Lieber stationärer Buchhandel!
Ich schreibe Dir diesen Brief sozusagen von Krankenbett zu Krankenbett. Wenn wir ehrlich sind zu uns selber: von Sterbebett zu Sterbebett. Denn wir liegen beide im Sterben. Dem eignet eine gewisse romantische Schönheit, denn wir sind zusammen gross geworden und werden nun zusammen sterben.
Es gab eine Zeit, da gab es Dich nicht und da gab es mich nicht. Der Verleger war zugleich der Drucker und der Händler seiner Bücher. Zur Buchmesse reiste er, um mit andern Druckern-Verlegern-Händlern seine Produkte zu tauschen. Autoren hatten an so einer Messe so wenig verloren, wie das Publikum. Das bestand aus ein paar Gelehrten, und war kaum der Rede wert. Dann wurden wir beide geboren: Du, indem die heilige Dreieinigkeit Drucker-Verleger-Händler sich aufspaltete als Reaktion darauf, dass ich, der Leser-Käufer, immer immer mehr lesen wollte, weil ich ja unterdessen längst nicht mehr nur Gelehrter war, und weil ich immer weniger Verständnis dafür zeigte, dass der Drucker-Verleger-Händler mühsam Produkte eines Kollegen bestellen musste, ja eventuell erst von der nächsten Messe in einem Jahr mitbringen konnte.
Noch vor 100 Jahren war der Besitz von Büchern nicht selbstverständlich, sondern ein Statussymbol. Wer Wert auf sich und seine Stellung in der Gesellschaft legte, hatte einen Bücherschrank vorzuweisen. Da drin standen dann Klassiker in repräsentativ gebundenen Ausgaben. Man musste diese Ausgaben nicht gelesen haben. Um sich im Small Talk unter Geschäftsfreunden darüber zu unterhalten, ob das „weite Feld“ nun von Stifter oder von Fontane stammte, und ob es nun ein „weites Feld“ der ein „zu weites Feld“ sei, genügte es ja, den Büchmann zu konsultieren. Darin fand man alle Klassikerzitate nachgewiesen. In den Auflagen nach den 1960ern findet sich im Büchmann nur noch Schrott. Aber unter Geschäftsfreunden wird ja auch nicht mehr über Stifter und Fontane diskutiert, und eine Bibliothek besitzen heute nur noch ein paar Freaks.
Heute zählt Effizienz, und Bücher sind nicht effizient. Seit Bologna (oder war es Modena?) ist eine breit gefächerte Bildung, zu deren Erwerb man sich Zeit lässt, obsolet. Selbst der Geisteswissenschafter wird durch sein Studium gepeitscht und lernt bestenfalls die feministische Rolle der Alice Schwarzer diskutieren oder Derrida’schen Nonsense nachplappern, aber nicht ein Gedicht von C. F. Meyer analysieren.
Der technische Fortschritt hat uns beiden dann den Rest gegeben. Ich rede nicht vom E-Book, das ist nur die letzte Ausblühung an einer längst modernden Holzwand. Ich rede auch nicht von Buchhandelsketten und jenem Handelsriesen, der sich (ich weiss nicht warum) nach einem riesigen Strom genannt hat. Auch das sind nur Blüten, die eine Pflanze produziert, wenn sie im Sterben liegt und hofft, wenigstens in ihren Früchten irgendwann einmal wieder auferstehen zu können. Mittlerweile sind einige dieser Blüten bereits am Verwelken und Früchte scheinen sie nicht zu tragen. Wir haben es seinerzeit beide nicht gemerkt, aber die tödliche Krankheit, an der wir nun sterben werden, haben wir uns mit der Erfindung der Rotationspresse zugezogen, und mit der Einführung der Klebebindung. Plötzlich wurden Bücher für jedermann erschwinglich. Der arrivierte Geschäftsmann musste sich andere Statussymbole suchen, und fand sie in seinem Automobil, in seiner Yacht und Ähnlichem. Das war der Anfang vom Ende; aber wir merkten es beide nicht.
Die unheilige Allianz von Käufer, der seine Ware so billig wie möglich zu kriegen wünscht, und Produzent, der des Käufers Wünsche erfüllen möchte oder dies wenigstens vorgibt, wird als erstes Dich, lieber Freund, töten, dann den Produzenten, dann mich. Ich höre immer wieder mantra-artig die Buchpreisbindung loben; ich habe keine Ahnung, was man sich davon verspricht. Die Preisbindung ist kein Palliativ, keine lebensverlängernde Massnahme. In Deutschland existiert sie nach wie vor. Dennoch faulen Deinem Körper immer mehr Teile ab. In der Schweiz existiert sie nicht mehr. Es geht dem Buchhandel deswegen nicht schlechter. Auch nicht besser.
A propos „besser“: Früher war nicht alles besser, keineswegs. Schon Goethe musste erleben, dass sein Schwager Vulpius mit seiner Schwarte „Rinaldo Rinaldini“ ein Mehrfaches an Auflagen erzielte, als er selber mit seinen Werken. Klassiker und/oder Lyriker „gingen“ schon immer schwer. Aber wenn ich heute in einer Buchhandlung den neuesten Andreas Brandhorst bestelle, und nicht mehr erlebe, dass die Buchhandlung gleich ein Exemplar für sich mitbestellt hat, das sie ins Regal stellt, finde ich es bedenklich. Es beunruhigt mich wirklich: Selbst Science Fiction, die nie elitär war, führt mittlerweile ein Schattendasein im deutschsprachigen Buchhandel und Verlagswesen. Wo sind die Zeiten, als Jeschke bei Heyne SF-Klassiker im Minutentakt ausstossen durfte? Und meine Buchhandlung die Hälfte eines nicht kleinen Raums voller Science Fiction damit füllte? Heute stehen gut versteckt ein oder zwei Regalmeter SF – oder was halt gerade dafür gilt.
Dafür ist heute der Autor kein Autor mehr, sondern eine Marke, ein Produkt. Und wie jedes Produkt von Zeit zu Zeit mit Werbung auf sich aufmerksam macht, jede Marke von Zeit zu Zeit Neuerungen auf den Markt bringt, von denen dann die meisten binnen Kurzem wieder verschwinden, so sondert unterdessen jeder Autor einmal im Jahr – pünktlich zur Messe, wenn’s geht – einen neuen Roman ab. Ich bedaure ihn, habe mich aber mittlerweile von diesem, eigentlich unserm vierten, Bruder völlig losgesagt. Ich weiss, dass Du, Bruder Buchhandel, ebenso wie der Bruder Verlag krampfhaft an ihm festhaltet, ja ihn zu diesem Verhalten nachgerade zwingt, weil ihr glaubt, mich so bei der Stange und Euch so am Leben zu erhalten. Das ist ein Irrtum: Überfütterung erzeugt Brechreiz, nicht Wolllust. Und unsere Körper werden dadurch noch mehr geschwächt.
Die Ärzte versuchen, unsere Situation schön zu reden. Und manchmal fallen wir selber darauf hinein und reden uns die Situation selber schön. Wir halten für Medizin, was Placebo ist. Um zu vertuschen, wie billig heutzutage Bücher fabriziert sind, hat man den Begriff der „gebundenen Ausgabe“, die ursprünglich eine meinte mit Fadenheftung, über Bord geworfen zugunsten des amerikanisch und deshalb hip klingenden „Hardcover“. Ein Begriff, der versteckt, dass unter dem billigen Pappdeckel ebenso billige Klebebindung verwendet wird. Man zelebriert heute, „Indie“ zu sein, Indie-Autor und Indie-Verlag. „Indie“ – das klingt nach Freiheit und nach Abenteuer. Und wie die Zigaretten-Werbung kaschiert der Begriff einfach, dass wir uns schon lange den tödlichen Krebs zugezogen haben.
Wir waren einst drei Brüder, die ihren Lebensweg gemeinsam begonnen haben: Verleger, Händler, Leser. (Meinethalben auch vier, nehmen wir Bruder Autor wieder ins Boot.) Nun neigt sich dieser Zyklus seinem Ende zu. Wir wollen unserm Tod tapfer entgegen gehen und nicht jammern. Und nicht gegenseitig übereinander her fallen.
In Liebe
Dein Bruder, der Bildungsbürger
(Nach Diktat zur Reanimation auf die Intensivstation verlegt.)
© Herr Sandhofer, einer der beiden Köpfe, die hinter litteratur.ch stecken
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Im Rahmen der losen Gesprächsreihe “Steglitz stellt Buchhändlerinnen und Buchhändler vor” hatte ich vorgeschlagen, dass Ihr Gastbeiträge beisteuern könntet. Schilderungen aus dem Buchhändleralltag oder, was auch immer… Erfahrungsberichte zum Beispiel: Was habt Ihr in Buchhandlungen erlebt? Woran denkt Ihr gerne zurück, was ist Euch aufgestoßen? Den Anfang bestritt Stefan Möller aka @Hedoniker mit seiner Polemik „Lieber stationärer Buchhandel, wir müssen reden!“, die reichlich Wind machte.