Von der Unendlichkeit des Augenblicks


„Zeit, die wie das Band aus einer defekten Musikkassette quillt“ (Foto: Lea M./pixelio.de)

Richard Obermayr seziert in „Das Fenster“ einen Urmoment seiner Familiengeschichte.

Wie rezensiert man einen solchen Roman? Von Handlung keine Spur, stattdessen gedrechselte und mäandernde Sätze, die immer wieder um ein Thema kreisen. Denn soviel gesteht Richard Obermayr seinen Lesern zu: schon auf der ersten Seite ist klar, worum es in „Das Fenster“ geht. Alle folgenden Seiten sind dagegen künstlerisches Wagnis.

Ebenso hermetisch, wie „Das Fenster“ auf den ersten Blick anmutet, scheint auch der Autor ganz in seiner Literatur zu leben. Über seinen Debütroman „Der gefälschte Himmel“ hinaus kann man mit ein paar Klicks leicht herausfinden, dass Richard Obermayr gerne fotografiert. Sonst erscheint die Autorenwebseite im reinen Weiß.

Acht Jahre dauerte es, bis Obermayr mit „Das Fenster“ seinen zweiten Roman vorlegte. Das verheißt einen großen Wurf, einen feingeschliffenen Diamanten. Aber am Anfang steht ein Missverständnis, das bei zu leichtfertiger Lektüre des Klappentextes entstehen kann: es ist keine Mordgeschichte. Die Kugel, die leitmotivisch durch den Roman fliegt, erreicht kein – zumindest kein menschliches – Ziel. Der Erzähler dagegen findet sich am Ort seiner Kindheit wieder und zu seinem Elternhaus hingezogen. In Gedanken oder tatsächlich, wenn er von seinen langen Stadtspaziergängen zurückkehrt. Grandiose Bilder rahmen das ein, was Obermayr zu fassen versucht: die nie vergehende Erinnerung an ein Kindheitsidyll, der Vater mit einem frisch gefangenen Falken am Küchentisch, die Mutter in der Küche, der staunende Sohn in der Mitte.

Ums Aufwachsen, Entwachsen und Erwachsenwerden kreisen die Gedanken des Ich-Erzählers, der in fast nicht aushaltbarer Ausschweifung über sich nachdenkt und seine eigene Anwesenheit bildgewaltig in Frage stellt: „Manchmal ist ihm, als würde einer, wenn er atmet, mit ihm atmen, dass die Luft auch zu ihm gelangt, immer noch, auch durch seine Lungen strömt.“

Der größte Kunstgriff Obermayrs ist indes wohl das Anhalten der Zeit: er friert den Moment seiner Kindheit immer wieder ein, geht durch eine erstarrte Familienanordnung oder die das Haus umgebende Natur hindurch. Zeit wird zum Gegner, ein feindseliges Material, das „wie das Band aus der defekten Musikkassette herausquillt“.

Soviel macht „Das Fenster“ klar. Sprachlich meisterhaft, unendlich bedächtig erzählt, gelingt Richard Obermayr hier der Traum vom Anhalten der Zeit auf dem Papier. Ein Wagnis, das sich lohnt.

Richard Obermayr: Das Fenster. Jung und Jung 2010, 267 Seiten, 22 €

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