Jörg Magenau hat ein neugieriges und neugierig machendes kleines Buch geschrieben. Es widmet sich einer skurrilen Klassenfahrt: der Reise der Gruppe 47 nach Amerika im Jahr 1966, um in Princeton ihre Jahrestagung abzuhalten. Der Charme dieses Unternehmens, den Magenaus Buch amüsant einfängt, speist sich aus der Spannung der Großen Fahrt auf der einen und der literaturbetrieblichen Routine auf der anderen Seite. Abenteuer trifft auf Alltag. Große Gesten, Erwartungen, Befürchtungen treffen auf: nichts Neues. Denn zuallererst hatte die Gruppe 47- wo immer sie tagte – sich selbst im Gepäck.
Bereits die Reisevorbereitungen hätten auf US-amerikansiche Literaturstudent_innen in den Sixties wahrscheinlich hilarious gewirkt – eine literarische Sitcom mit clumsy German writers. Ein Großteil der Komik liegt darin, dass die Protagonisten sich bei der Einschätzung der Wichtigkeit nahezu aller Dinge systematisch vergreifen. Die Maßstäbe sind immer etwas zu groß oder etwas zu klein. Die Reisenden zerbrachen sich den Kopf über mögliche Einflussnahmen Washingtons und Bonns oder wollten nicht als offizielle Delegation der Bundesrepublik erscheinen. So mancher ging davon aus, seine Anwesenheit in den USA sei gar nicht anders denn als welthistorisch bedeutsames Geschichtszeichen unter den Bedingungen des Kalten Kriegs zu interpretieren (Looking At You, Günter Grass!). Peter Weiss wollte keine Presse dabei haben und innerhalb der Universität nur mit „denjenigen Kräften“ in Beziehung treten, die sich gegen die US-amerikanische Vietnampolitik richteten. Der junge Peter Handke sorgte sich um die Preise der Flugtickets. Heinrich Böll blieb zu Hause, weil er nicht zum „Exportartikel“ werden wollte.
Und dann erst die Provinz. Princeton hatte zwar durchaus etwas von einer gemütlichen kleinen Welt, stand aber für „Amerika“, für das Große und Raumgreifende – und kollidierte so mit dem programmatischen und faktischen Selbstverständnis der deutschen Literaten, das freilich Mitte der 1960er Jahre langsam bröckelte.
„Das Verharren in der Provinz war gewissermaßen ein deutscher Selbstschutz. Solange man unter sich und auf irgendeinem abgelegenen Gasthof blieb, konnte nichts passieren, und die Großmannssucht erhielt qua Abgeschiedenheit keine Chance.[…] So eine Reise nach Princeton könnte doch auch dazu dienen, die Gruppe aus ihrer selbstgewählten Provinzialität herauszuholen. […] Deshalb waren sie ja hierher gereist, im seltsamen Versuch, die Provinz in die große weite Welt zu verlagern […]. Dass man die Welt dann aber auch einlassen müsste, fiel Richter nicht ein. Dass die deutsche Provinz womöglich eine aussterbende Region war, setzte der Literatur zu.“ (S. 23-25)
In „Amerika“ fremdelten die 47er. Sie ignorierten, was zu ignorieren war. Was sollte man auch an intellektuellen, künstlerischen und popkulturellen Impulsen der mittleren Sixties aufnehmen, wenn man eh schon wusste, dass „Amerika“ Krieg in Vietnam führte und „Amerikaner“ immer nur nach Unterhaltung gierten? Welchen Einflüssen sollte man sich da öffnen? Was war zu holen für das eigene Bemühen um eine andersdeutsche Literatur, die zwar anders, aber eben unbedingt deutsch sein wollte? Bereits ‚zu Hause‘ hatte es ja Tradition, das Schreiben ‚rein‘ zu halten – schon vom „Emigrantendeutsch“, über das Hans Werner Richter noch in den frühen 1950er Jahren ohne Irritation schimpfen konnte. Weltläufigkeit, so schreibt Mark Terkessidis im freitag (11/2016), war eben jenen Teilen der „deutschen Intelligenzija“ verdächtig, „die monolingual und provinziell meinten, der eigene Ort sei der Mittelpunkt des Kosmos“.
Jörg Magenaus Buch ist auch eine konzise Geschichte der Gruppe 47. Ausgehend von der Princeton-Episode beschreibt er zentrale Themen, Konfliktlinien und Dynamiken. Wer, wie ich, nicht sonderlich vertraut ist mit den Details dieser bundesrepublikanischen Institution, liest das mit viel Gewinn und einigem Schmunzeln (Magenaus bevorzugtes Stilmittel ist der süffisant-sympathisierende Kommentar – gern auch in den Bildunterschriften). Allerdings erliegt Magenau selbst ein wenig der Faszination von Provinz und Provinzialität. Auch ihn interessiert nur auf wenigen Seiten, was es mit Princeton auf sich hatte – und es interessiert ihn nur aus der Perspektive der 47er. Das Buch spiegelt die Selbstbezüglichkeit der Gruppe 47, in der die Reisenden stets wichtiger sind als die ‚Bereisten‘. Detailliertere Schilderungen aus der Sicht derjenigen, die die Ankunft dieser schriftstellerischen Missionare des Deutschen organisiert und beobachtet hatten, wären sicher nicht von Nachteil gewesen. Die Andeutungen, die sich im Buch finden, legen zumindest nahe, was mit einer etwas amerikabezogeneren Recherche und Erzählperspektive möglich sein könnte. Vor allem aber ist es etwas enttäuschend (weil erwartbar und Ausdruck unnötiger Selbstprovinzialisierung), wenn ein spannendes und thematisch überraschendes Buch dramaturgisch alles auf die Wutrede Peter Handkes über „läppische, beschreibungsimpotente Prosa“ zulaufen lässt. Die Pointe ist in diesem Fall weit langweiliger als der Weg zu ihr.
Jörg Magenau: Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Klett Cotta 2016; 223 Seiten.