Lesestoff. Mit Erinnerungen

Eine bedruckte Stofftasche ist oft viel mehr als nur ein Werbeträger – sie ist ein Statement. Von einigen Buchmenschen weiß ich, dass sie Taschen mit literarischen Motiven leidenschaftlich gern sammeln. Ich würde das nicht von mir behaupten, aber trotzdem sind in den letzten Jahren einige davon zusammengekommen. Und jede von ihnen erinnert mich an eine Reise oder ein besonderes Erlebnis, immer im Zusammenhang mit Büchern oder Literatur. Die Stofftaschen sind alle nicht mehr taufrisch, denn sie sind in ständiger Benutzung – meist, um die Bücher darin einzuwickeln, die mich tagsüber begleiten

What are you reading now? Eine Tasche aus der NYPL

New York Public Library

Es ist die Frage der Frage aller Buchmenschen: Was liest du gerade? Manchmal stelle ich sie auf Twitter, schicke sie in die Runde und erhalte die unterschiedlichsten Antworten. So unterschiedlich wie die Menschen sind auch deren Lesevorlieben – und gleichzeitig verbindet uns die Liebe zum geschriebenen Wort. 2018 war ich zum ersten und bisher einzigen Mal in New York, meinem Sehnsuchtsort schlechthin. Eine überwältigende Erfahrung und eines der vielen Highlights war natürlich der Besuch der New York Public Library. Grandios das Gebäude, geradezu paradiesisch der monumentale Lesesaal. Bei alldem ist die NYPL mit ihren Zweigstellen aber viel mehr als eine gewöhnliche Bibliothek, sie ist eine Institution mit einem umfassenden Angebot für Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Sehr zu empfehlen ist der Film »Ex Libris«, der einen spannenden Blick hinter die Kulissen wirft und zeigt, was diese Bibliothek gesellschaftlich alles leistet. Und das ist eine ganze Menge. 

18 Miles of Books – The Strand Bookstore

The Strand Bookstore New York

Noch einmal New York: Mit den sagenhaften 18 Meilen Buchregalen wirbt der Strand Bookstore, den es seit 1927 in Manhattan gibt. Weltweit gilt »The Strand« als eine der berümtesten Buchhandlungen und wird in einem Atemzug genannt mit Shakespeare & Company in Paris, dem in einem alten Theater untergebrachten El Ateneo in Buenos Aires oder dem City Lights Bookstore in San Francisco, einst Weiheort der Beat Generation. Und natürlich durfte beim Flanieren durch New Yorks Straßen ein Besuch beim Strand nicht fehlen. Während ich zwischen den alten, abgestoßenen Holzregalen umherstreifte, senkte sich der frühe Oktoberabend auf die Stadt, draußen gingen die Lichter an, und als ich die Buchhandlung verließ, tauchte ich ein in den Strom der unzähligen Menschen auf den Gehwegen, die überall unterwegs waren. Ein langer Spaziergang bis hoch zum Hotel in der 48. Straße folgte, das alles in der Tageszeit, die ich in einer Stadt neben dem frühen Morgen am meisten liebe: Wenn der Nachmittag in den Abend übergeht und eine Mischung aus Spannung und Ausgeglichenheit über allem liegt. Selten habe ich mich so im richtigen Moment am richtigen Ort gefühlt wie an diesem Abend. 

Norsk Litteraturfestival in Lillehammer

Norsk Litteraturfestival Lillehammer

2019 war Norwegen das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Für die norwegische Literatur, die aufgrund der Bevölkerungsgröße des Landes sehr auf Übersetzungsrechte angewiesen ist, bedeutete das eine riesige Chance, sich einem weltweiten Publikum exklusiv zu präsentieren. Geplant wurde der Auftritt von NORLA, einer Institution, die ausgeschrieben Norwegian Literature Abroad heißt. NORLA lud vorab zu verschiedenen Pressereisen nach Norwegen ein und ich hatte die Ehre und das große Vergnügen, Ende Mai 2018 mit einer Pressedelegation nach Oslo und zum Literaturfestival Lillehammer zu reisen. Es waren drei inspirierende Tage, vollgepackt mit wunderbaren Gesprächen, beeindruckenden Erlebnissen und jeder Menge Literatur. Hier im Blog habe ich ausführlich darüber berichtet. Während ich dies schreibe, wirkt eine solche Reise gedanklich schon fast unwirklich. Aber gleichzeitig sind diese Erinnerungen ein Trost und ein Ausblick auf Zeiten, die wiederkommen werden. 

Beim Suhrkamp Verlag auf der Leipziger Buchmesse

Suhrkamp Verlag

Auch das Gedränge auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt kommt einem gerade irreal vor. All die Menschen, die Gespräche, die Treffen, die inspirierenden Begegnungen, das Wiedersehen mit alten Freunden, die schon fast zur Tradition gewordene Wohnzimmerlesung – ich bin zuversichtlich, dass dies wiederkehren wird, doch die Durststrecke ist sehr mühsam. Diese Tasche erinnert mich an einen der letzten Gesprächstermine, die ich am Suhrkamp-Stand mit Demian Sant’Unione geführt habe, der bei Suhrkamp das Onlinemarketing verantwortet. Zum Abschied gab es – natürlich – ein Buch und eben diese Tasche. Eine Erinnerung an gute Messezeiten. Und seit einem Tweet auf Twitter muss ich als Tolkien-Leser dabei auch stets an Mittelerde denken, auch wenn dies mit Suhrkamp nichts zu tun hat. 

The Notting Hill Bookshop

The Notting Hill Bookshop

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie oft ich den Film »Notting Hill« schon gesehen habe, aber an dieser Stelle muss ich gestehen, dass ich bei Filmen aus irgendeinem Grund sehr nah am Wasser gebaut bin. Und wenn in der Abschlussszene Julia Roberts sagt: »Indefinitely«, dann bekomme ich auch bei der gefühlt dreißigsten Wiederholung feuchte Augen. Das war mir früher peinlich, aber warum eigentlich? Es ist, wie es ist. Und es war eine Selbstverständlichkeit, dass ich bei einer London-Reise den Notting Hill Bookshop besucht habe, der in der Realität keine Reiseführer-Buchhandlung ist, sich aber trotz des Rummels um den Film einen angenehmen Charme bewahrt hat. Das war im Februar 2020, das Wort »Corona« existierte schon, aber zu diesem Zeitpunkt war es für mich noch irgendeine dubiose Seuche in China. Keinen Monat später hatte sich die ganze Welt verändert. 

Die Kölner Literaturnacht

Koelner Literaturnacht

Der Verein Literaturszene Köln e.V., in dessen Vorstand ich mich seit dessen Gründung 2018 engagiere, ist der Ausrichter der Kölner Literaturnacht. Das Ziel des Vereins ist es, die vielfältige Arbeit Kölner Literaturschaffender sichtbarer zu machen, Netzwerke zu bilden und letztlich die Arbeitsbedingungen für das Entstehen von Literatur in Köln zu verbessern. Vor diesem Hintergrund war die erste Kölner Literaturnacht unser erstes großes Projekt. Anfang Mai 2019 fand sie statt, mit 137 Veranstaltungen an 42 Orten – ein Abend, eine Nacht, in der Menschen zusammenkamen, um die Literatur zu feiern, die in ihrer Stadt entsteht. Es war eine wunderbare Erfahrung und eigentlich sollte es 2020 eine zweite Kölner Literaturnacht geben. Die Fördermittel waren geklärt, das Programm kuratiert, die Programmhefte gedruckt und die Webseite fertiggestellt. Dann kam Corona und wie so viele andere Veranstaltungen musste auch diese abgesagt werden. Doch diese Tasche erinnert an das bisher Erreichte und zur Zeit arbeiten wir an einem Nachholtermin für 2021. 

Die Liebeskind Verlagsbuchhandlung – ein Andenken

Liebeskind Verlag

Nicht aus Stoff, sondern aus Papier, dafür aber eine Rarität. Der Liebeskind Verlag in München ist einer meiner absoluten Lieblingsverlage. »Winters Knochen« von Daniel Woodrell, »White Tears« von Hari Kunzru, »Graben« von Cynan Jones oder »McGlue« von Ottessa Moshfegh, natürlich »Das finstere Tal« von Thomas Willmann – alleine schon diese fünf Romane gehören zu meinen Lesehighlights der letzten Jahre.  In den Anfangstagen firmierte das Unternehmen als »Liebeskind Verlagsbuchhandlung« mit eigenen Verkaufsräumen. Leider sorgten Gentrifizierung und drastische Mieterhöhungen dafür, die Buchhandlung zu schließen und sich ausschließlich auf den Verlag zu konzentrieren, und diese Papiertasche ist eine der letzten aus jener Zeit. Ich habe sie vom Verleger Jürgen Christian Kill bekommen, als ich bei einem Besuch in München mit ihm und seiner Kollegin Susanne Fink über die verlegerische Arbeit, das Entdecken neuer Autoren und über Bücher und Literatur gesprochen habe. 

 Die Buchhandlung meiner Lesesozialisation

Buchhandlung Wendelin Schmid

Plastiktüten halten ewig. Das ist global gesehen ein riesiges Problem, aber in diesem einen Fall bin ich dafür dankbar. Denn diese vermutlich über 35 Jahre alte Tüte ist eine ganz besondere Erinnerung. Eine Erinnerung an die Buchhandlung in meiner Heimatstadt, in der ich das erste Buch meines Lebens selbst gekauft habe. Es war »Das Rätsel von Burg Schreckenstein« von Oliver Hassenkampp;  in den folgenden Jahren meiner Kindheit und Jugend habe ich einen Großteil meines Taschengelds und zusammengejobbten Verdienstes in dieser Buchhandlung gelassen. Beim Ausräumen meines Elternhauses vor einigen Monaten habe ich diese Tüte gefunden und die ganze Atmosphäre der Buchhandlung mit ihren dunklen Regalen und dem Geruch nach bedrucktem Papier stand wieder vor meinen Augen. Die Buchhandlung gibt es schon lange nicht mehr, aber sie hat neben dem Vorlesen und den permanenten Besuchen in der Stadtbibliothek meine Lesesozialisation maßgeblich mitgeprägt. In einem anderen Beitrag hatte ich bereits darüber geschrieben – und erhielt eine E-Mail von einer Leserin meines Blogs, die in den Achtzigerjahren die letzte Auszubildende in genau dieser Buchhandlung war. Da hat sich auf grandiose Weise ein Kreis geschlossen – ich liebe dieses Internet. 

Es hat Spaß gemacht, in diesen Tagen, in denen man auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen ist, die ein oder andere Erinnerung hervorzukramen. Das alles in der Hoffnung, in absehbarer Zeit wieder neue sammeln zu können – bei Besuchen von Literaturfestivals, beim Reisen oder dem unbeschwerten und maskenfreien Bummeln durch die Buchhandlungen. 

Hoffen wir das Beste. 

#SupportYourLocalBookstore

Das Leuchten der Schönheit

Donna Tartt: Der Distelfink

Nur widerstrebend habe ich den Roman »Der Distelfink« von Donna Tartt wieder zurück ins Regal gestellt. Denn das fühlte sich an wie ein Abschied; schweren Herzens musste ich Theodore Decker ziehen lassen, nachdem ich ihn 1022 Seiten lang auf der Reise durch sein Leben begleiten durfte. Es war ein Sonntagabend, an dem ich das Buch zu Ende gelesen habe; der Abend eines grauen Dezembertages. Einer dieser Tage, an denen es kurz nach Mittag wieder dunkel wird. Was wiederum perfekt zum Beginn des Buches passte: ein Hotelzimmer in Amsterdam kurz vor Weihnachten, alles ist grau, kalt und nass. Und die Autorin schafft es, mit nur wenigen Sätzen eine unfassbar trostlose Stimmung zu beschreiben, die uns Leser hineinkatapultiert in eine Geschichte voll dunkler Tiefen, überraschender Wendungen und einem hoffnungsvollen Leuchten, das stets zwischen den Zeilen zu erahnen ist. „Das Leuchten der Schönheit“ weiterlesen

Acht Generationen, zwei Kontinente

Yaa Gyasi: Heimkehren

Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Sklaverei. Egal wann oder wo auf der Welt, stets wurden Gefangene als Arbeitskräfte eingesetzt, die nicht viel kosteten und jederzeit ersetzt werden konnten. Doch der massive Sklavenhandel des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit seinen Millionen von Verschleppten hatte noch einmal ganz andere Dimensionen: Er prägte gesellschaftlich und politisch den afrikanischen und die beiden amerikanischen Kontinente bis heute – egal, ob es sich um strukturellen Rassismus oder das blutige Erbe europäischer Kolonialherrschaft handelt. In ihrem Roman »Heimkehren« erzählt Yaa Gyasi eine von diesen Entwicklungen geprägte Familiengeschichte über acht Generationen, die auf beiden Seiten des Atlantiks angesiedelt ist. „Acht Generationen, zwei Kontinente“ weiterlesen

Ein Buch wie ein Rocksong

Joseph O'Connor: Die wilde Ballade vom lauten Leben

Als ich das Buch »Die wilde Ballade vom lauten Leben« von Joseph O’Connor gekauft habe, wusste ich noch nicht, auf was für eine atemlose und sehr persönliche Gedankenreise mich dieser Roman schicken würde. Der Klappentext versprach die Geschichte einer Rockband mit ihren Höhen und Tiefen, die sich nach ihrem Überraschungserfolg zerstreiten würde; alles sei erzählt mit schrägem irischem Humor. Etwas für Zwischendurch, dachte ich. Etwas zur Entspannung, dachte ich. Doch weit gefehlt: Als ich das Buch nach fünf Jahren im Bücherregal endlich zur Hand nahm, fand ich darin viel, viel mehr als entspannende Unterhaltung. Und was ich am Ende bekommen habe, war nicht nur eine Romanhandlung, sondern ein Buch wie ein Rocksong aus Papier, Gänsehaut-Feeling inklusive. „Ein Buch wie ein Rocksong“ weiterlesen

Der Weg in die Dunkelheit

Volker Kutscher: Olympia

Im Jahr 2007 startete Volker Kutscher seine Buchreihe um den Kommissar Gereon Rath, den es 1929 von Köln nach Berlin verschlägt und der dort den Weg in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« miterleben wird. Ich weiß noch, wie ich den ersten Band – »Der nasse Fisch« – zum ersten Mal sah und durch das Buchcover sofort meine Neugier geweckt wurde: Eine Straßenszene aus den Zwanzigerjahren, eine Limousine, die am Bürgersteig parkt und von Kindern bewundert wird, daneben eine Litfaßsäule, die wie eine Reminiszenz an »Emil und die Detektive« wirkt. Seitdem begleite ich Gereon Rath und Charlotte Ritter auf ihrem Weg durch die immer finsterer werdende Geschichte und auch dreizehn Jahre später ist meine Begeisterung für diese Reihe ungebrochen; der im November 2020 erschienene achte Band »Olympia« spielt im Jahr 1936. Und Gereon Rath ist inzwischen ein desillusionierter Polizist, der sich Gedanken macht über den Sinn von Mordermittlungen in einem Land, das von Mördern regiert wird. „Der Weg in die Dunkelheit“ weiterlesen

Über das Unterwegssein

Ueber das Unterwegssein

Die Qualität dieses Beitragsphotos mag nicht besonders gut sein, doch es gibt nur wenige Bilder, die mir so viel bedeuten wie dieses hier. Entstanden ist es im Mai 1993, irgendwo mitten in Australien zwischen Alice Springs und der Ostküste. Ein Vierteljahr lang war ich auf dem fünften Kontinent unterwegs, ließ mich treiben, hatte kein Ziel, keine Verpflichtungen und keine Pläne. Es war für mich die Zeit der großen Freiheit, und die einzigen beiden Fragen, mit denen man sich täglich auseinandersetzen musste, lauteten: Wo schlafe ich heute Nacht? Und wie komme ich dorthin?

Das alles ist inzwischen 27 Jahre her und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an diese drei grandiosen Monate denke. Vielleicht ist es nicht nur jene Freiheit, die in Erinnerung geblieben ist, sondern auch das belebende Gefühl des Wegseins. Weit weg von allem. Es war ein Unterwegssein ohne Tripadvisor, ohne Booking.com, ohne Travel-Blogs und ohne Instagram-Selbstinszenierungen; meine einzige Informationsquelle war ein zerlesener Lonely Planet »Australia«, den ich in einem Hostel aus dem Regal der zu verschenkenden Bücher gefischt hatte. „Über das Unterwegssein“ weiterlesen

Ein Diktator im Fadenkreuz

Geoffrey Household: Einzelgaenger, maennlich

Als der Diktator im Fadenkreuz auftauchte und der Zeigefinger des Schützen am Abzug lag, kam ein leichter Wind auf. Dieser Luftzug zwang ihn, das Präzisionsgewehr nachzujustieren und in diesen wenigen Sekunden wurde er von den Sicherheitskräften überwältigt. Damit beginnt der Roman »Einzelgänger, männlich« von Geoffrey Household. Jener Schütze ist der Ich-Erzähler, der berichtet, wie er anschließend in das große Anwesen gebracht und gefoltert wurde. Ohne Fingernägel und mit einem zugeschwollenen, stark verletzten Auge wird er eine Felswand hinabgeworfen, um seinen Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen. Denn anhand seiner Papiere identifizierten seine Peiniger ihn als einen prominenten Angehörigen der englischen Oberschicht, den sie nicht einfach so verschwinden lassen konnten. Wie durch ein Wunder überlebt er den Sturz und es beginnt eine dramatische Jagd. 

Es ist immer wieder spannend, beim Stöbern im heimischen Bücherregal verborgene Leseschätze zu entdecken; viele Bücher lagern dort schon seit Jahren. »Einzelgänger, männlich« hatte ich mir irgendwann quasi im Vorbeigehen gekauft, weil mir Titel und Cover gefielen – und weil der Verlag Kein & Aber es schafft, bibliophile Taschenbücher herzustellen. Ich mag diese Gestaltung mit dem schlichten Cover und dem bei Paperbacks außergewöhnlichen Farbschnitt sehr. Und auch wenn ich normalerweise versuche, den Kauf von Taschenbüchern zu vermeiden, mache ich bei dieser Reihe gerne eine Ausnahme. Auch dieses Mal wurde ich nicht enttäuscht. „Ein Diktator im Fadenkreuz“ weiterlesen

Vom Denkmalsockel geholt

Lea Singer: Anatomie der Wolken

Das beginnende 19. Jahrhundert war ein Zeitalter der großen Umbrüche. Politisch veränderten die Feldzüge Napoleons die Landkarte Europas gravierend, gesellschaftlich sorgten die Ideen der französischen Revolution und das erstarkende Bürgertum für frischen Wind, wirtschaftlich stand die industrielle Revolution in den Startlöchern. Und kulturell wurde die Epoche der Klassik abgelöst durch die Zeit der Romantik. Zwei der bedeutendsten deutschen Künstler verkörpern wie kaum jemand sonst die Gegensätze, die damals aufeinandertrafen: Johann Wolfgang von Goethe und Caspar David Friedrich. Sie mochten sich nicht – und waren doch fasziniert voneinander. In ihrem Roman »Anatomie der Wolken« schildert Lea Singer, wie sich die beiden begegneten, beschreibt ihre Lebensumstände, lässt eine längst vergangene Zeit äußerst lebendig wiederauferstehen und holt den Dichter und den Maler mit fein dosierter Ironie von ihren Denkmalsockeln. „Vom Denkmalsockel geholt“ weiterlesen

Zuhause: Ort oder Gefühl?

Daniel Schreiber: Zuhause

Noch nie hat mich die Lektüre eines Buches emotional so aufgewühlt, wie es der schmale Band »Zuhause« von Daniel Schreiber geschafft hat. Schon das Nachdenken über den Begriff »Zuhause« kann die Gefühle auf eine Reise weit zurück in die eigene Vergangenheit schicken, doch in meinem Fall kam noch eine besondere Situation dazu. Und wenn es für jedes Buch den passenden Moment geben sollte, dann traf das auf eine schmerzhafte Weise zu wie niemals zuvor.

Gelesen habe ich es im Zug; ich war auf der Rückfahrt nach Köln, nachdem ich für ein paar Tage die Stadt am Bodensee besucht hatte, in der ich aufgewachsen bin. Es war kein normaler Besuch, denn es ging darum, mit dem Ausräumen des Elternhauses zu beginnen, Photos und Dokumente zu sichten, alte Briefe in verstaubten Kartons zu finden, drei Generationen tief in die Familiengeschichte einzutauchen – und herauszufinden, wie wenig man eigentlich von seinen Großeltern und Eltern gewusst hat. Von denen niemand mehr da ist. „Zuhause: Ort oder Gefühl?“ weiterlesen

Leichtigkeit im Belagerungszustand

Hilmar Klute: Oberkampf

Nicht das Ende zu verraten fällt mir bei diesem Roman außerordentlich schwer, denn die letzte Seite in »Oberkampf« von Hilmar Klute ist wie ein Schlag in die Magengrube. Eine Seite, die dem gesamten Buch eine überraschende, im Rückblick aber konsequente Wendung beschert; ein Finale, das einen schaudernd und hoffend zurücklässt. Und sich ins Gedächtnis einbrennt. 

Das Photo auf dem Umschlag des Buches zeigt die Metro-Station Oberkampf im 11. Arrondissement von Paris. Keiner der ultraschicken Stadteile, aber eine sehr lebendige Gegend mit vielen Cafés, Restaurants und Bars. Das Bild hat mich gedanklich sofort in die wunderbare Stadt an der Seine katapultiert, fast meinte ich, den typischen Geruch der Pariser Metro in der Nase zu haben. Jonas jedenfalls hat ihn in der Nase, als er spätabends sein neues Viertel betritt. Sein Gepäck und ein paar Kisten Bücher, die wenige Tage später mit der Post eintreffen werden, sind alles, was von seinem alten Leben in Berlin übriggeblieben ist. „Leichtigkeit im Belagerungszustand“ weiterlesen

Schwarzer Gott und roter Schienenbus

Bov Bjerg: Serpentinen

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, um den Roman »Serpentinen« von Bov Bjerg einen Bogen zu machen. Die Themenkombination Familiengeschichte, Depression und Suizid schien mir zu heftig – ich war mir nicht sicher, ob ich mich tatsächlich damit auseinandersetzen wollte. Aber wie der Zufall so spielt, liegt das Buch nun doch ausgelesen neben mir. Denn »Serpentinen« steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. Und als einer von zwanzig Buchpreisbloggern, die jeweils einen der Longlist-Titel auf ihrem Kanal vorstellen, erhielt ich diesen Roman zugeteilt. Mit etwas banger Erwartung habe ich mich an die Lektüre gewagt – und sie war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Um es vorweg zu nehmen: Enttäuschend anders. „Schwarzer Gott und roter Schienenbus“ weiterlesen

Architekt des Umbruchs

Hilary Mantel: Woelfe | Falken | Spiegel und Licht

In den drei Bänden »Wölfe«, »Falken« und »Spiegel und Licht« erzählt die Autorin Hilary Mantel die Lebensgeschichte Thomas Cromwells, jenes Mannes, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts den Verlauf der englischen Geschichte entscheidend prägte. Zwar handelt es sich um Romane, doch sie beinhalten nur wenig Erfundenes. Das ist auch gar nicht notwendig, denn Cromwells Biographie ist so unglaublich, dass sie bereits wie eine Romanhandlung klingt – vom Sohn eines Schmieds zu einem englischen Earl, zum Architekten der englischen Reformation, die das Land bis heute geprägt hat. Dazwischen ein Leben voller Höhen und dunkelster Tiefen. Und Hilary Mantel hat dieses Leben spannend und unglaublich vielschichtig in Szene gesetzt – herausgekommen ist dabei ein wahrhaft epochales Werk. „Architekt des Umbruchs“ weiterlesen

Schreiben, um zu leben

Lily King: Writers & Lovers

Der Roman »Writers & Lovers« von Lily King beginnt mit einem starken ersten Satz: »Ich verbiete mir strikt, schon am Morgen an Geld zu denken.« Schon hat man als Leser eine Person vor Augen, die vollkommen mit dem Rücken zur Wand steht. Diese Person, diese Ich-Erzählerin ist Casey, die einen ganzen Sack voll heftiger Probleme mit sich trägt; ihr einziger Trost, ihre einzige Hoffnung, ihr einziges Verlangen ist das Schreiben. »Ich schreibe, weil sich ohne das Schreiben alles noch trostloser anfühlt.« Casey ist Autorin, 31 Jahre alt, pleite, Halbwaise mit einem gebrochenen Herzen und gelegentlichen Angstattacken, und sie schreibt seit sechs Jahren an ihrem ersten Roman. „Schreiben, um zu leben“ weiterlesen

Buchpreisbloggen 2020

Es ist wieder Buchpreiszeit. Und auch wenn die Verleihung des Deutschen Buchpreises am 12. Oktober 2020 unter erschwerten Bedingungen stattfinden wird, lenkt das Procedere auch dieses Jahr wieder den Fokus auf die aktuelle deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Die Longlist besteht wie immer aus zwanzig Titeln, sechs davon stehen  am 15. September 2020 auf der Shortlist – und einer von ihnen wird von der Jury zum Roman des Jahres gekürt werden. „Buchpreisbloggen 2020“ weiterlesen

Vier Jahre Kaffeehaussitzers Netzrückblick

Kaffeehaussitzers Netzrueckblick

Irgendwann im Sommer 2016 hatte ich einen beruflichen Termin mit Christian von Zittwitz, dem Gründer und Herausgeber der Zeitschrift BuchMarkt. Dabei unterhielten wir uns über das Bloggen und über die Welt der Literaturblogs, die zu dieser Zeit gerade dabei waren, sich einen Platz im Literaturbetrieb zu erarbeiten. Er fragte, ob ich mir vorstellen könnte, regelmäßig für die Online-Präsenz seiner Zeitschrift eine Auswahl lesenswerter Texte zusammenzustellen. Damit war sie geboren, die Kolumne »Kaffeehaussitzers Netzrückblick« und am 31. August 2016 ging sie zum ersten Mal online. „Vier Jahre Kaffeehaussitzers Netzrückblick“ weiterlesen