
Screenshots: https://www.instagram.com/nypl/
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„Alice im Wunderland“ oder Kafkas „Die Verwandlung“ lesen – als Instagram-Story?
Am 8. November 2018 sprach ich auf Deutschlandfunk Kultur (14.40 Uhr) über die „Insta-Novels“ der New York Public Library.
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Auf Instagram gibt es Fotos.
Und, als neueres Feature (…ursprünglich Merkmal der App Snapchat): Stories.
Jeder mit Instagram-Account kann Fotos, Animationen, Videos etc. zu einer persönlichen Story collagieren: ein Zusatz-Feature, auf dem oft mehr passiert als im normalen Foto-Stream/-Profil. Denn während viele Instagram-FOTOS oft sehr poliert, überbelichtet etc. sein wollen, sind Stories ein Ort, an dem auch große Accounts oft etwas rotziger, privater, schnappschussartiger erzählen.
Stories löschen sich nach einem Tag von selbst – falls man sie nicht explizit im Profil als „Highlight“ speichert.
Ich kenne viele, die „Das muss perfekt sein!“ bei jedem bleibenden FOTO sagen… doch bei Stories denken: „In ein paar Stunden ist es weg.“
Ein entkrampftes Format – das viele Leute z.B. zum Einschlafen im Bett durchschauen: Stories bestehen aus einem bis ca. 40 kurzen [15 Sekunden langen] Segmenten. Jedes Segment lässt sich pausieren, indem man den Touchscreen gedrückt hält.
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Insta-Novels:
Die NYPL – Betreiber aller ca. 90 städtischer New Yorker Büchereien – zeigt seit August vier bleibende Insta-Stories im Profil: öffentlich zugänglich (auch am Rechner und ohne eigenen Instagram-Account):
„Insta-Novels“, in denen Klassiker oder Auszüge jeweils als Insta-Story lesbar sind; mit kleinen Animationen.
- Edgar Alan Poes „The Raven“ [neu, seit Halloween]
- zwei längere Passagen aus „Alice im Wunderland“
- Charlotte Perkins Gilmans feministische Novelle „The Yellow Wall-Paper“ (1892)
- auch Kafkas „Die Verwandlung“ ist angekündigt.
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Der Slogan: „Some of the greatest stories ever told. Told in Instagram Stories“.
Ein Erklärvideo:
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Pressesprecherin Carrie Welch sagt, „[with these insta-novels, the library is] completely transforming the way people look at this popular social media platform.“
…und tatsächlich
a) verstehe ich, dass die NYPL sagt: „Instagram Stories zeigen bisher vor allem Fotos von den Babys eurer Freunde. Fotos von den Hunden. Fotos von den Babies der Hunde. Wo sind die STORIES“?
b) folgten über 100.000 Instagram-User dem NYPD-Account neu, seit August (jetzt: über 300.000 Fans)
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Ich liebte die Idee – und stellte mir die Umsetzung vor wie ein Daumenkino:
Alice wird schrumpfen, wachsen etc.
Besonders „The Yellow Wallpaper“ ist eine tolle Wahl – weil die Novelle davon handelt, wie eine nervöse Mutter, isoliert in der Sommerfrische, auf eine ekelhafte Tapete starrt, die sich zu verändern scheint… so lange, bis sie zweifelt: Ist In der Tapete eine Frau gefangen? Ist die Frau gerettet, sobald jemand die Tapete von den Wänden reißt? Gothic-Grusel, Feminismus… Klischees über „hysterische“, unzufriedene Frauen… Ein Klassiker, den in Deutschland zu wenige kennen.
Ich war gespannt, wie subtil oder dramatisch sich die animierte Tapete der Insta-Novel verändern wird.
Leider sind die Animationen sehr simpel, spärlich. Ästhetisch ca. 1998.
Nett gesagt: minimalistisch, schönes Understatement.
Doch z.B. das wiederkehrende „Nevermore“ im Poe-Gedicht schien mir so stümperhaft… Ich fands unfreiwillig komisch. #lowbudget
Ich hatte eine liebevollere, dynamischere Umsetzung erwartet: Überraschungen, Spielereien, Avantgarde.
Ich bin kein Kunstkritiker – doch ich liebe Graphic Novels, und sehe einfach DAUERND tollere Illustrationen. Lieblingsstücke z.B. hier: https://twitter.com/smesch_thetic
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Eine große Sache?
ja, weil:
- Die NYPL mit gemeinfreien Texten des Projekt Gutenberg arbeitet und damit nochmal klar macht: es GIBT diesen Riesenschatz an Klassikern ohne Copyright.
- Hier nochmal breitenwirksam gezeigt wird: man kann auf Smartphones literarische Texte lesen; und das sogar in einem recht unhandlichen Format wie „Instagram Stories“, wo sich a) die Schriftgröße nicht ändern lässt, b) man den Bildschirm gedrückt halten muss, damit das Segment länger als 15 Sekunden zu sehen ist.
- Man von z.B. einem Buch sieben Mal gehört haben muss, bevor man es kaufen will – und hier reichweitenstark, (halbwegs) originell und verspielt Bücher angeboten werden auf einer RIESENPlattform, niedrigschwellig und umsonst
- Aufwand und Kosten nicht besonders groß sind und das auch jederzeit alle ANDEREN Kulturvermittler oder Privatmenschen versuchen & einspeisen können
- Die Textauswahl einlädt: Texte, die jede*r mal gelesen haben sollte.
- Dieses doch recht billige, sperrige und schüchterne Projekt jetzt SO erfolgreich ist. Und damit zeigt: es gibt Interesse, einen Bedarf!
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Trotzdem wirkt alles etwas enttäuschend auf mich. Weil:
- Hier technologisch nichts Interessantes passiert, entwickelt wird o.ä.
- Die spärlichen und lieblosen Illustrationen dem Text echt NICHTS Besonderes hinzufügen
- Es nervt, den Bildschirm gedrückt zu halten beim Lesen
- Ich jetzt noch kein „neues Format Insta-Novel“ erkennen kann, das aus Text & Bild etwas Neues formt, oder Möglichkeiten und Community von Instagram besonders nutzt: minimale Animationen, und nichts, das besonders „social“ ist.
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und weiter: drüber hinaus?
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Ich suche immer nach…
a) Social-Media-Profilen fiktiver Figuren. Geschichten, die z.B. erzählt werden, indem man mehreren Twitter-Accounts folgt. Beispiele hier: https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/CharacterBlog
b) „Log Fics“: Geschichten, die ALS Chatprotokoll etc. erzählt werden – z.B. Dennis Coopers Planetromeo-artiger queerer Dating-Roman „The Sluts“ oder Senthuran Varantarajahs „Vor der Zunahme der Zeichen“ (Roman, erzählt als Chatprotokoll):
https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/LogFic
c) Reclam-Klassiker etc. als Gratis-Hörbücher bei Spotify: https://hamburg.mitvergnuegen.com/2016/11-tolle-buecher-die-du-dir-auf-spotify-anhoeren-kannst
d) japanische Cell Phone Novels, die in den Nuller-Jahren oft als SMS-Kette Geschichten erzählten: https://en.wikipedia.org/wiki/Cell_phone_novel
e) Flash Fiction wie z.B. Drabbles: literarische Kürzestformen. https://en.wikipedia.org/wiki/Drabble
f) Fanfiction- und Genre-Story-Websites wie Wattpad – die als App überzeugen sollen und in denen Literatur-Kapitel oft so kurz sind, dass man sie häppchenweise beim Pendeln lesen kann/soll.
Auch der deutsche Verlag Mikrotext startete mit eBooks voller Häppchen & Kürzestformen – damit Leute auf dem Handy Literatur lesen.
Persönlich wünsche ich mir ENDLICH eine Art Spotify oder last.fm für Lyrik: Ich lege ein Profil an, bekomme ein Gedicht vorgeschlagen… kann nach dem Lesen ein Herz vergeben und kriege dann weitere Gedichte, die der Algorithmus passend findet, eingespielt.
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Fazit:
Ich glaube, Literatur ist ALS LITERATUR stark. Literatur zu vermitteln, indem an sie in z.B. Comics oder Kurzfilme übersetzt, nimmt ihr oft viel. Ich brauche keine trojanischen Pferde, keine Illustrationen, kein mediales Drumherum. Wenn ich lesen will, will ich lesen.
(Deprimierend z.B. auch: Apps, die aus Comics eine Art Trickfilm machen wollen, indem sie möglichst filmisch von Sprechblase zu Sprechblase springen und ein paar kleine Animationen einstreuen.)
Trotzdem: Wo hörte ich von E.A. Poe, mit 13? In der TV Movie – wo mir Poe-Verfilmungen mit Vincent Price empfohlen wurden. Heute entdecke ich viele Bücher… auf Instagram. Social Networks sind SO präsent, flexibel und offen: Literatur muss da rein / hin / drauf.
Ich merke nur: als man mir sagte „Stefan? Es gibt jetzt Insta-Novels“ hatte ich die absurdesten Ideen, was das heißen mag – technisch, literarisch (z.B. nonlinear?).
An eine Handvoll biederer, gestriger Animationen dachte ich nicht.
Das MUSS besser gehen!