Wozu WordPress? Wozu Bloggen? [kurzes Essay]

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„Du hast 2003 begonnen, in Hildesheim „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ zu studieren. Damals war die Anzahl von kasualisierten Blogs noch überschaubar – wie kamst Du auf den Gedanken, Dich mit der Blogosphäre zu beschäftigen?

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…fragt Freund K. im Rahmen seiner Diplomarbeit über Blogger und ihre Konzepte / Poetik.

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meine Replik:

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Stöbern. Sammeln. Schreiben. Schachteln.

Warum ich blogge.

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von Stefan Mesch

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Einen Blog einrichten, vor zehn Jahren – 2003?

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Das hätte ich kaum geschafft. Das machte keinen Sinn.

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Das hätte ich mir nie angemaßt.

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Damals verstand ich – und jeder, den ich kannte – einen Blog als ein „Web-Logbuch“: eine Sammlung von Links, Fundstücken, besonderen Entdeckungen aus einem klar begrenzten, präzisen Expertengebiet oder Themenfeld.

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In Blogs protokollierten Fachleute für Solartechnik, Ziegenkäse oder die Liverollenspiel-Kampagnen im Südwesten Norddeutschlands (…oft: jeweils nur für ihre eigene enge, kleine, super-kritische Peer Group), welche aktuellen Texte, Websites und interne Debatten ihnen beim täglichen Surfen durch noch obskurere, unbekanntere Nischen-Websites begegneten:

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Blogs waren 2003 Fahrtenschreiber durchs Internet. Und zwar: durch die Elite- und Experten-Nischen des Internets. Geführt von Fachleuten und Freaks, die in diesen Nischen heimisch genug waren, um nicht ständig zu stolpern oder sich zu verirren.

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Ich war froh, wenn ich selbst in einem Fachgebiet mal überhaupt nur qualifiziert genug war, einen Blog zu lesen (z.B. Sascha Becks US-Serien-Blog sablog.de). Aber einen eigenen Weblog starten? Und damit in die ganze (Fach-)Welt schreien: „Ich bin Experte und Anlaufstelle für ALLE tagesaktuellen Fragen und Debatten in diesem EINEN Themengebiet! UND ich traue mir dabei zu, fast täglich Neuigkeiten und Quellen zu entdecken und für Leser aufzuarbeiten“…?

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Das machte keinen Sinn. Das war keine Option.

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Das hätte ich mir nie, NIE angemaßt.

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2005 – viele Freunde waren bei Livejournal, Blogspot oder auf redaktionell betreuten Plattformen wie jetzt.de – war das schon leichter, denkbarer: Blogs wurden exzentrische, zwanglose, oft sehr persönliche Sammlungen. Versuche, Spielereien.

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2007 oder 2008 hätte sich die Frage schließlich gar nicht mehr gestellt: persönliche Websites waren passé. Jede Art von Material / Content wurde in Blogs gespeist. Wenn Internet, dann Blog.

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Aber 2003…? „Stefan Meschs Web-Log“? Die Hemmschwelle, mir eine Ladenfront in einer Fußgängerzone zu mieten, wäre niedriger gewesen, als mich selbst „Blogger“ zu nennen und als „Fachmann“ und „Ansprechpartner“ „Experten-Links“ für meine virtuelle „Anlaufstelle“ zu sammeln:

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Ich hätte keinen Blog „verdient“. Mir fehlte die Kompetenz. Die Disziplin. Die dicke Haut. Die Hybris.

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stefanmesch.wordpress.com gibt es seit Mai 2011 – und aus ganz anderen Gründen: Ich habe Tagebuch geführt, seit ich 14 war, oft zwei, drei Stunden pro Tag, sieben Jahre lang. Ich habe für Schülerzeitungen geschrieben, ein Sailor-Moon-Fanzine betreut (1998), dann Filmkritiken ins Netz gestellt (1999) und für Lokalzeitungen gearbeitet in der Oberstufe (2000 bis 2002) und später, im Studium, all meine Begeisterung und Energie in Literaturkritik, studentische Projekte, Redaktionsarbeit, Themen-Radiosendungen, E-Zines gesteckt:

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Wenn mich Kultur oder Menschen interessieren, will ich über sie schreiben.

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DAMIT ich schreibe, brauche ich klar markierte Orte.

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Orte wie… Schachteln, an denen diese Texte von Lesern gefunden werden.

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Ohne meine Filmkritik-Website hätte ich 1999 keine Filme rezensiert. Ohne Lokalzeitungen hätte ich keine Interviews geführt und Menschen portraitiert. Ohne Literaturkritik.de und lit04.de hätte ich keine 200 Bücher besprochen im Studium – und hätte mein privates Offline-Tagebuch 2004 oder 2005 den Sprung ins Netz geschafft, auf irgend eine Plattform und für irgendein Publikum, die / das damals für mich passte, dann (nur dann!) hätte ich dort sicher noch lange weiter geschrieben – zwei, drei Stunden pro Tag.

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„If all you have to solve your problems is a hammer – everything will start looking like a nail“ ist so ein Sprüchlein, das mir als Autor komplett einleuchtet. Nur… umgekehrt. Andersrum:

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Ich bin ein Scout. Ich mag Archive, Sammlungen. Flut, Chaos. Kraut und Rüben. Ein Überangebot. Ich mag Entdeckungen. Reihungen, Listen. Fundstücke. Sortieren. Ich mag Angebote und Empfehlungen und Kuratoren und Begeisterung. Ich mag Kritik. Und Warnungen. Und neuen Kontext.

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Und ich will so gut werden – so viel wissen, so hart arbeiten – dass ich selbst Angebote und Empfehlungen machen kann. Kurator sein darf, Kritiker, Warner und Menschen-für-obskure-Dinge-Begeisterer.

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Nochmal:

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Wenn mich Kultur oder Menschen interessieren, will ich über sie schreiben.

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DAMIT ich schreibe, brauche ich feste Orte.

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Orte, an denen diese Texte von Lesern gefunden werden.

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2003, im ersten Semester in Hildesheim, sprach Hanns-Josef Ortheil darüber, wie wichtig die tägliche Lektüre von Tageszeitungen ist… doch es machte keinen lebenspraktischen / schreiberischen Sinn für mich, damals: Ich holte mir nach viel Zögern ein SZ-Abo und gab mir für zwei Jahre Mühe, die Altpapierberge durchzusehen… doch Spaß hatte ich keinen: Deutschsprachiger überregionaler Tagesjournalismus – das gibt mir nicht besonders viel. Das war die ganze Zeit nur Hausaufgabe. Altpapier. Schlechtes Gewissen.

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Heute lese ich 30 oder 40 Artikel pro Tag, nebenbei und mit großem Vergnügen. Zum einen, weil sie sich digital – handverlesen / auf meine Interessen zugeschnitten, als RSS-Newsfeed – leichter, schneller, bequemer, vielseitiger usw. durch meinen Lese-Alltag schieben lassen als auf Papier. Zum anderen aber, weil ich heute Orte und Leser habe, die auf diese Artikel warten: Das Netz hat mir – erst jetzt, erst heute! – „Schachteln“ (Plattformen zum Sammeln, Teilen, Empfehlen, Diskutieren) aufgestellt, auf denen ich (endlich!) mit Zeitungsartikeln umgehen kann, wie ich (auf anderen Plattformen und in anderen Texten) mit Büchern, Filmen, Musik usw. schon lange umgehe:

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Freund S. mag anspruchsvolle Animationsfilme. Freund M. hat eine Kolumne über Mode-als-Protest, Fashion Statements. Freundin V. wünscht sich ein starkes Urheberrecht und harte Strafen gegen Buchpiraterie, Freundin H. schreibt über Rape Culture, Freundin B. bloggt über Urban Gardening und Mode für nicht-mehr-junge Frauen:

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Wenn ich heute Zeitungen lese, behalte ich diese Freunde, Diskurse, Fachgebiete im Hinterkopf. Durchsuche den „Die besten Animationsfilme 2013“-Artikel nebenbei nach Tipps für Freund S., markiere Freund B. in meinem Artikel über Gärtnern und Do-it-Yourself-Kultur, öffne Fashion-Blogs für Freund M.. Oder Freundin H.. Oder für meine Schwester: Ich bin nicht mehr alleine, isoliert. Ich bin jetzt (auch als Zeitungsleser!) Scout, Entdecker. Ich teile auf Facebook, Twitter, im Blog, per Mail.

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Ich werde so gut – als Leser, Sammler, Scout – dass ich ständig Angebote und Empfehlungen machen kann. Die Plattformen helfen mir beim Kritiker-, Warner- und Menschen-für-obskure-Dinge-Begeisterer-Sein.

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Ich werde so gut – weil es so einfach (geworden) ist.

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„If all you have to solve your problems is a hammer – everything will start looking like a nail.“

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  • Wenn alles, was ich online lese, „Teil mich!“ brüllt…

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  • Wenn alles, was mich interessiert, als Sammlung, Flut, Archiv, Kraut-Rüben-Chaos verfügbar steht und aufs Entdeckt-Werden wartet…

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  • Wenn ich nichts lieber tue, als diese Rüben zu sammeln, zu sortieren, auszuwerten…

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  • Wenn es feste Orte gibt, an denen Freunde und Fremde auf Empfehlungen warten…

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  • Wenn WordPress, Twitter, Facebook, Tumblr, Goodreads Strukturen, Gestaltungsräume und Plattformen schaffen, in denen und für die ich tun kann, was ich jeden Tag am liebsten 14 Stunden tue…

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…greift heute, 2013, endlich etwas ineinander, das vor zehn Jahren, zur Zeit der „Web-Logbücher“, noch nicht klappte:

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Das Web stellt (anders als 2003) bequeme, große, offene Schachteln auf: Also teile ich meine Favoriten aus dem „Die besten Animationsfilme 2013“-Artikel mit Freund S.. Wenn ich auf Reddit Superhelden-Buchtipps gebe, können sie bei WordPress nochmal ordentlich gesammelt und zweitverwertet werden. Meine alten Zuhause-Freunde kriegen zu Weihnachten meine Songs des Jahres auf CD – doch alle anderen Interessierten kriegen sie auch, bequem im Blog.

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Egal, wonach ich suche… ich habe heute (digitale) Orte, um meine Entdeckungen zu sammeln. Tools, Netzwerke, Plattformen, um zu ordnen und zu werten. Fremde und Freunde, die meine Arbeit honorieren.

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If all I want to do professionally, all day, is scout and sift and sort through stuff to put in boxes – the internet has given me 10.000 flexible and customizable boxes, all waiting to be filled.

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2003 hatte ich keinen Grund (und keine Kapazitäten), täglich 30 oder 40 Presseartikel zu lesen. Keinen Anlass, meine SZ zu durchsuchen (wonach?). Keine Plattform, sie zu teilen (mit wem?). Keine Schachtel / Box, die ich mit meinen Fundstücken füllen konnte (wozu?).

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2003 machte die einzige omnipräsente Schachtel / Box, das „Experten-Web-Logbuch“, für meine Arbeit, meine Ziele keinen Sinn.

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2003 hatten meine Essays und Kritiken, meine Kurzgeschichten oder Tagebucheinträge, meine Playlists, Buchtipps, Fundstücke, offenen Fragen, Schnappschüsse, Alltags-Beobachtungen, Link-Listen oft keine passenden Schachteln / Boxen im Netz. Keine Plattformen. Keine Leser, die an einer bestimmten Adresse nach einer (mehr oder weniger) bestimmten Sorte Stefan-Mesch-Beitrag Ausschau hielten. Oder etwas damit anfangen konnten.

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Wenn mich Kultur oder Menschen interessieren, will ich über sie schreiben.

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DAMIT ich schreibe, brauche ich feste Orte.

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Orte, an denen diese Texte von Lesern gefunden werden.

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Meine Welt wurde breiter, tiefer, reicher, in den letzten zehn Jahren. Meine Texte und meine Fundstücke / Empfehlungen als Scout treffen die richtigen Leute – viel schneller, effizienter, bequemer.

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Die Schachteln, Boxen helfen dabei ungemein.

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Wie viel Mühe und Zeit würde ich damit verbringen, zu suchen, sammeln und zu sortieren… gäbe es diese Schachteln nicht? Wer wären meine Leser? An welchem Ort würden sie warten? Und wie würde dieser Ort (wie heute: WordPress, Facebook, Twitter, Tumblr) mein Schreiben und meinen Fokus verändern? Formen? Bestimmen?

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Ich benutzte Blogs. Als Plattform und Werkzeug. Aber diese Plattformen und Werkzeuge verändern mich dabei: meinen Zugriff, meinen Blick, meinen Fokus, meine Zielgruppen, meinen Ton. Ich schreibe 2013 anders als 2003. Denn ich schreibe… in und für… Schachteln.

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