Fritz Henne: Tagebuch / Aufzeichnungen 1917 bis 1919

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Im Sommer 2001, mit 18, ließ ich mir von meiner Großmutter aus Bad Pyrmont (Niedersachsen) ein handgeschriebenes Buch zuschicken, in dem ihr Vater, Fritz Henne, Mitte der 1920er Jahre seine Zeit als Soldat im ersten Weltkrieg festhielt.

Ich tippte das Buch damals ab, schickte das Original zurück und habe die Daten seitdem gespeichert. Vielleicht macht es Sinn, sie zu teilen: Mit 18 las ich das mit Gewinn. Es ist das einzige längere Schriftstück aus meiner Familie, und mir war alles recht neu, als Teenager.

Das handgeschriebene Buch hatte Illustrationen und Karten, doch ich hatte damals keinen Scanner. Falls ich das Original noch einmal sehe, wird dieser Post entsprechend ergänzt.

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Munsterlager

 

Vom 1.7.1917 bis 20.2.1918

 

 

Die Kompagnie-, Bataillons- und Regimentsübungen waren beendet. Zum allerletzten Male rollten wir unseren Dreht beim manchmal mit Recht verdammten „Stand 13“ ab. Seit 5 Uhr 30 lagen wir bei hohem Schnee und grimmiger Kälte im „Gefecht“ und erst gegen 1.30 Uhr nachmittags hatten wir den hartnäckigen Gegner „besiegt“. Als wir gegen 2.30 Uhr unser Mittagsmahl, Kartoffeln mit Dörrgemüse, verzehrt hatten und den Befehl „Von 2.30 – 3.20 Uhr Bettruhe, 3.45 Uhr Antritt im Drillichanzug ohne umgeschnallt!“ empfangen hatten, nutzte ich die Zeit, um zu erwägen, ob es ratsam sein, sich schon jetzt auf den allgemein vermuteten „Generalappell“ vorzubereiten und wenigstens meine Eltern von unserem bevorstehenden Abrücken ins Feld zu verständigen. Indessen erfuhren wir durch Unteroffizier Möller, dass wir heute wohl zum letzten Male Holz für unsere verschneiten Baracken sammeln würden. Und nun erst begann die große Vorbereitung auf das große uns Bevorstehende.

 

Hier pfiff ein unlängst einberufener Muskete „die Wacht am Rhein“, dort summten einige Kameraden „In der Heimat, in der Heimat, da gibt´s ein Wiedersehen“, und die wenigen „Alten“, sie dachten vielleicht an ihre Familie, vielleicht an das Große, Schreckliche oder gar an das Schlimmste, den Tod im Feindesland. Und während sich jeder so seinen Gedanken überlässt, greift eine feste Hand auf die Türklinke und Unteroffizier ruft das so unbequem klingende „Kommando: Aufstehen!“ durch die nach verbranntem Papier riechenden Barackenräume. Heute erschien uns dieses lästige Kommando überflüssig, und lässiger wie sonst schlüpfte ein jeder in seinen Drillichanzug. Eine Stunde später krochen wir im dichtesten Heidegesträuch unter Fichten und kahlen Birken herum, um Holz zu sammeln. Dies war der angenehmste Außendienst von allen anderen, wenn man die Urlaubstage nicht mitrechnet! Am Abend nach Ausgabe der Parola hatten wir Gewissheit, dass wir hier im verlassenen Munsterlager bald ausgedient hatten und ein jeder befasste sich wohl mit Vorbereitungsarbeiten – Flicken, Putzen, Schreiben, Absenden nutzloser Gegenstände usw. …

 

Am andern Morgen hatten wir große Barackenreinigung und gar manch braver Floh fand den Tod im tiefsten und schmutzigsten Schnee. Nachmittags empfingen wir unsere bis dahin unbekannten „eisernen Portionen“, und im Anschluss hieran war großer Regimentsappell.

 

Gegen Abend telegrafierte ich meinen Eltern, dass unser Abtransport ins Feld bevorstehe. Mein Vater besuchte mich, und etwa 8 Tage später, am 18.2.1918, befand sich unser Regiment in Alarmbereitschaft. Am 20.2.1918 sollte die Abfahrt von Münster – Bahnhof – erfolgen, und fast alle waren froh darüber, obwohl die letzten 14 Tage weniger anstrengenden Dienst erforderten.

 

Am 19.2.1918 war das Regiment transportfertig und am anderen Morgen sahen wir die Sonne im Munsterlager zum letzten Male aufgehen. Der Mittagsappell war gut ausgefallen, und nun konnten wir den Befehl zum Heraustreten abwarten. Um 6.00 Uhr verließen wir unser Lager, und gegen 7.00 Uhr erfolgte unsere Verladung in die bereits bereitstehenden 3.-Klasse-Wagen. Nach erfolgter Aufstellung durften wir unser Abteil besteigen und manchem wurde es neben allen anderen Sorgen nicht leicht, mit dem schweren Tornister, Futterkiste, Gewehr, Schanzzeug, Stahlhelm usw. überhaupt in seinen Wagen zu kommen. Vor dem Bahnhof spielte die Regimentskapelle das bekannte Abschiedslied „Muss i´ denn, muss i´ denn…“ und den ebenso bekannten Zusatz „Die Vöglein im Walde, die sangen so wunderschön, in der Heimat…“ usw.. Die letzten Melodien verschlang die schnaufende Lokomotive, dann setzte sich der Zug in Bewegung. Munsterlager, Stand 13, das Dörrgemüse und der strenge Dienst im hohen Schnee waren vergessen.

 

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Im Feindeslande!

 

 

Nach rund 81-stündiger Eisenbahnfahrt langten wir gesund und munter in Lamouilly an. Nur manch braver „Alter“ war in seinem Wagenabteil so steif geworden, dass er Mühe hatte, seine Kisten und Kästen, Tornister usw. die hohen Wagenstufen herunterzutragen oder überhaupt glücklich aus seiner Hausung zu kommen.

 

Als wir auf der Station zusammengetreten und alle Häupter als vorhanden gemeldet waren, als wir unsere Futterkisten hervorholten und sich die schwere Lokomotive mit den vielen leeren Wagen in Bewegung gesetzt und bald in Richtung Sedan den primitiven Bahnhof von Lamouilly verlassen hatte, wussten wir, dass wir im Feindeslande waren. Eigentlich war es jetzt sehr ruhig hier draußen, nur in unbestimmter Ferne singt der Krieg ein uns unbekanntes Lied: ruu…ruu…ru..ruuu…ruru…. „Artelleriefeuer an der Front“, erklärte ein alter Unteroffizier, und aß sein Abendbrot, wie wir alle. „Interessant, was?“ fragte ein junger Gefreite, und so fragte und sagte man sich allerlei, dabei still das ungewohnte Lied verfolgend, bis wir antreten und unser Quartier aufsuchen mussten. Die durchweg alten Häuser, ihr interessantes Inneres und neben vielen anderen Neuigkeiten die uns bekannten, bereits vor acht Tagen ins Feld gesandten Kameraden, die wir hier begrüßen konnten als ehemalige Munsteraner, lenkten unsere unsicheren Gedanken ab.

 

Als wir unsere Sachen in unsere Quartiere gebracht hatten – in einem Dachraum war ich untergebracht – unternahm ich es in Begleitung mehrerer Kameraden, mir die neue Heimat einmal gründlich anzuschauen, um von vorneherein den richtigen Eindruck zu gewinnen, wenngleich ein solches Unternehmen nicht immer sehr lohnend ist, wie ich später erfahren sollte. Aber Lamouilly ist ein kleines Dörfchen, und das einzig Unangenehme, das mir hier widerfahren ist, war der unbeschreiblich dickflüssige Straßendreck. Ich suchte nunmehr mein Quartier wieder auf, in welchem man soeben einen neuen Schlager einstudierte. Ich hatte aber noch nicht den rechten Mut gefunden, mir schon jetzt – etwa 7.00 Uhr – mein Nachtlager zu bereiten und stolperte wieder die alte schmale Bodentreppe hinunter auf die dreckige Straße. Als eben die Straße von einigen Lastkraftwagen wieder frei war, tauchte im Halbdunkel ein Korporalschaftsmeister auf. Er witterte mich bald und schrie mich an: „Macht mal schleunigst das Licht da oben aus, oder hängt die Laden zu!“

 

Was war nun wohl geschehen? Zufällig hatte ich´s recht geraten. Feindliche Flieger besuchten nicht selten die Etappengebiete, hier die Festung Longwy, die sich in friedlicher deutscher Hand befand, in der Belgier und Deutsche Kriegs- und Friedensarbeiten leisteten, und es war auch kein Zufall, wenn unser nicht minder friedliches Lamouilly von solchen Turteltauben in stillster Nacht beim Mondenschein oder klarem Sternenhimmel überflogen wurde. Nun war jeder Befehl heilig, und in wohl kaum zwei Minuten war Lamouilly dunkel.

 

Die wenigen Tage, die wir in L. verleben durften, waren eigentlich nicht die besten: „Antreten zum Appell“, „Heraustreten zum Exerzieren!“ usw., und nie etwas gutes darunter. Aber wenn dann „weggetreten“ war, sann man neue Unterhaltungsgelegenheiten. Eines Tages wollte es der Zufall, dass ich einen alten Kameraden – Musk. Bielau – traf, mit dem ich 1917 zusammen war (B.K. Hildesheim!). Auf diesen Zufall wurde natürlich erst ein guter Tropfen genommen. Der Dienst war dem armen, später in einem Nahkampf am Fichtelgebirge vor Reims gefallenen Kamrad Bielau durchaus nicht angenehm, zumal er so wie so kein großer Militärfreund war. So fand man einen kleinen Trost.

 

 

Am 29.2.1918 morgens um 6.30 marschierten wir mit unserem gesamten Gepäck ab. Geländeübung, oder…? Es war ja gleich, wir marschierten. „Thonelle“ las man auf einem Brett am Dorfeingang, „Le petit Verneul“, „Fresnos“, „Econviez“, „lamorteau“, „Dammcourt“, „St. Mard“ und „Virton“ durchwanderten wir, hier auf einer großen Wiese rastend, dann mit frischem Mut über Latour, Ville Houdlemond – hier hatten wir die ersten „Schlappmacher“, die aber mit Rücksicht auf die eintretende Dunkelheit nicht beneidet wurden – und schließlich landeten wir abends um 10.20 Uhr in Gorcy. Mit einem leisten „Gott sei dank!“ strauchelten wir über einen Düngerhaufen auf die schiefe Dorfgasse nach Cussigny. Hier landeten wir in einem recht anschaulichen Hause, in dem ein weiches Stroh- oder Holzwollenlager auf uns wartete. Die Fenster waren dicht verhangen, und unsere Karbidlampen durften wir ruhig anzünden, bis uns der abgearbeitete Körper auf unsere Lager riss.

 

Der Dienst änderte sich hier insofern, als wir anstatt zweimal jetzt dreimal Appell und anstatt einmal jetzt zweimal am Tage Exerzierdienst hatten. Nacht etwa achttägigem Dienst änderte sich meine Kriegslaufbahn vollkommen. Wir exerzierten nördlich von Cussigny, und als wir gerade zu einer Fünfminutenpause unsere Gewehre zusammengesetzt hatten, nahm unser Kompagnieführer, Leutnant der Reserve Schwier-Langshelm, Gelegenheit, sich mit den Zeichenkünstlern unserer Kompagnie bekannt zu machen. Er wendete sich also an seine Leute mit der Aufforderung, alle Zeichner möchten vortreten. Wir hatten aber mehrere Lehrer unter unseren Unteroffizieren und Mannschaften, denen man in Anbetracht ihres Berufs diese Zeichenkunst zumutete, und dennoch wollte es der Zufall, dass ich auf Wunsch meiner Kameraden mit vortrat, und, nachdem ich unter die Lupe genommen war, als „tauglich“ bezeichnet und „Kompagniezeichner im Nebenamt“ wurde. „Im Nebenamt“ wiederholte ich vorsichtig und fast lautlos. „Eine Arbeit mehr!“, meinte mein Hintermann, und ich glaubte es selber.

 

Am anderen Nachmittag nach Essensempfang kam der Bursche unseres Kompagnieführers und bestellte mir also: „Du sollst mal sofort zu unserem Alten kommen!“ – mal sofort zu unserem Alten kommen? – gerade heute Nachmittag? – sofort? – während wir Bettruhe haben? – Na, jeder Befehl ist heilig und ich war in den nächsten 5 Minuten in seinem Quartier. Der Bursche hatte mir in dem schlichten engen Hause sehr vorsichtig die Wohnung unseres „Alten“ gezeigt, und ehe sich derselbe Bursche wieder an die Arbeit schickte, war ich in einem niederen, niederen Stübchen, die Hacken zusammenreißend, verschwunden. Herr Leutnant Schwier saß vor einem alten Schreibtisch, und während er mit seiner Linken seine lange Pfeife hielt, gab er mir mit seiner Rechten ein deutliches Zeichen, näher heranzukommen, ließ mich „rühren“ und meinen Lebenslauf erzählen. Dann machte er ein anscheinend befriedigtes Gesicht, drehte sich auf seinem Stuhle etwas zu mir herum und machte mir plausibel, aus welchen Gründen er einen Zeichner brauche. Dann holte er aus seinen Akten eine bunte Landkarte hervor, in die er mit einem Blaustift verschiedene Ornamente hineingezeichnet hatte. Dabei wurde mir meine Arbeit vorgeschrieben, und indem ich erklärte, auf welche Arte und Weise ich die Zeichnung und etwa 20-fache Vervielfältigung der Karte ermöglichen würde, wurde ich unterbrochen, und erhielt etwa folgende Aufträge: jeder Kartenzeichnung besondere Sorgfalt zuwenden – durch niemanden stören lassen, ohne vorherige ausdrückliche Genehmigung – nur morgens den Dienst mitmachen wie bisher, der Nachmittag wird zum Zeichnen, und, wenn Zeit übrig bleibt, zur Hilfeleistung bei den Fourierarbeiten verwandt! Diese erste Arbeit muss in zwei Tagen beendet sein!

 

Ich sagte zu, riss die Hacken zusammen, empfing meine „Heimarbeit“ und verschwand.

 

Als ich in meinem Quartiere niemand antraf, zog ich meine Uhr und stellte fest, dass die Kompagnie soeben wieder zum Nachmittagsdienst zusammengetreten war. Ich lief zur „Mühle“ hinunter, erstattete dem sonst so freundlichen Unteroffizier Grube Bericht über den Grund meines Fernbleibens und durfte mich dann wieder „nach Hause scheren“. Gott sei dank!, dachte ich, und am Nachmittag künstelte ich an der Kartenzeichnung herum. Meine Zusage wollte und musste ich halten, trotzdem war mir eigentlich erst jetzt die schwierige Arbeit klar geworden, und, dass ich außer meiner Schulzeit und während meiner ¾-jährigen Tätigkeit in der Syker Jugendkompagnie noch nie in meinem Leben eine Geländekarte gezeichnet hatte. Und dennoch wagte ich es und arbeitete, als ginge es um Existenz – oder Konkurrenz? – Ja, auch um Konkurrenz ging es. Herr Schwier war selber Lehrer von Beruf und wusste wohl auch sehr gut, wie eine Kartenzeichnung aussehen und wer von seinen Berufskollegen auch solche Arbeit verstehen musste. Aber ich hatte Glück! Nach der ersten, gut und sauber ausgefallenen Arbeit, wurden mir weitere übertragen, und ich war froh, wenigsten von dem Nachmittagsdienst frei zu sein.

 

 

Nach etwa achttägigem Aufenthalt in dem kleinen Dörfchen Cussigny bezogen wir in dem nahegelegenen Gorcy, einer kleinen Stadt an der belgisch-französischen Grenze, Quartier. Die neuen Quartiere unterschieden sich in mancher Hinsicht wesentlich. In Cussigny hatte man den deutschen Soldaten sogar eine richtiggehende Bedürfnisanstalt errichtet, während man in Gorcy auf das Knüppelklosett angewiesen war. Andererseits bot uns aber auch Gorcy seine nicht zu unterschätzenden Vorteile. Allein der „Brunnen“ in unmittelbarer Nähe unserer Quartiere, der uns bei der Reinigung der Schuhe, Stiefel, Kochgeschirre und Wäsche gute Dienste zu leisten vermochte, verdient seine Erwähnung. Aber auch unsere neuen Quartiere waren erheblich besser. Während wir in Cussigny mit ca. 14 Mann in einem Stübchen lagen, verteilte sich diese Kopfzahl in Gorcy auf zwei gleichgroße Wohnräume.

 

Ostern stand vor der Tür, und ich hatte erst vor einigen Tagen meine Arbeiten wieder voll übernommen, weil ich wegen Diphteritisverdacht acht Tage lang im Revier zur Beobachtung zubringen musste, als ich eines abends selten große Zahnschmerzen bekam, die meine Vorstellung bei dem Zahnarzt in Longwy (Deutsche Militärzahnstation) erforderlich machte, und einen vier- bis fünfstündigen Marsch durch die Wildnis zur Folge hatte. Nachdem ich für den nächsten Tag antragsgemäß vom Dienst dispensiert wurde, machte ich mich am anderen Morgen auf und wanderte an Hand einer guten Geländekarte nach Longwy, wo ich gegen 11.30 Uhr anlangte. An jenem Tage machte es mir fast den Eindruck, als sei alles in bester Ordnung, und man vergaß beim Anblick der Industriestadt – das verrieten mir allein die zahlreichen, qualmenden Schornsteine, die großen eisernen Hallen, in denen deutsche Arme den Hammer schwangen – dass man dem Kriege, dem Feinde, den vielen Ruinen, ja, der ganzen waffenstarrenden Welt für eine geringe, kurze Zeit den Rücken zuwende.

 

In der nächsten Stunde saß ich in einem abgenutzten Lehnsessel vor einem etwa 40jährigen Zahndoktor. Eigentlich hatte ich gar keine Zahnschmerzen mehr. „Was haben Sie denn und woher kommen Sie?“ – „Aus Gorcy, dieser Zahn müsste wohl plombiert…“ Ich wurde unterbrochen. „Plombiert?! Wieviel Mal wollen Sie denn den Weg von Gorcy hierher und zurück machen? Übrigens ist der Zahn krank, er ist das Ausziehen wert und ihr Weg war unter Umständen nicht vergebens!“. Im selben Augenblick, also ehe ich mir eine Ausrede ersonnen hatte, fühlte und sah ich die kalte Messingzange im Munde und im nächsten Augenblick krachte es, wie wenn die alte Festung über der Stadt herunterstürzte. Der Arzt fluchte, und ich versuchte, mich zu erholen. Aber im nächsten Augenblick hatte er schon wieder seine Zange am rechten Fleck und nach kurzem, aber umso deutlicheren Schmerz hatte ich alles überstanden. Nach einigen Spülungen hieß er mich schleunigst nach Hause gehen, woran ich natürlich nicht im geringsten dachte. Sechs Stunden war ich ohne weiteres Essen und Trinken unterwegs gewesen. Als ich die Hauptstraße überqueren wollte, erkannte ich ein großes Gebäude als deutsches Lazarett. In dieses Lazarett ging ich, bekam dort von einer deutschen Krankenschwester ein selten gutes Mittagessen und unterhielt mich mit einigen Verwundeten, die ihre Behandlung lobten. Gegen 2 Uhr machte ich mich auf den Rückmarsch, und ehe ich die Stadt verließ, traf ich unseren allgemein beliebten Unteroffizier Grube, der sich nicht weniger als ich darüber freute, Gesellschaft gefunden zu haben. Als wir die alte zerstörte Feste wieder hinter uns hatten, zogen wir Dampf in Richtung Vaux, östlich Gorcy, durch den knospenden Wald der alten Quartierstadt Gorcy zu.

 

Als wir in Gorcy ankamen, war es fast dunkel geworden, und im Westen, wo vor etwa einer halben Stunde die letzten sonnenbestrahlten Wolken am Horizont erkennbar schienen, leuchteten jetzt klare Sterne. Ein schöner Tag war wieder dahin.

 

 

An den nächstfolgenden Tagen schossen wir auf den markierten Feind und auf künstlich betriebene Tanks südöstlich von Gorcy und hatten nach Aussage der Offiziere sehr gutes geleistet. Auch auf dem Schießstande an der Straße Gorcy-Longwy hatten wir gut abgeschnitten, sodass wir uns auf „anderweitige Verwendung“ vorbereiten konnten.

 

 

Die letzten Tage in Gorcy verbrachten wir in unseren freien Stunden, Sonntags und bei allen anderen Gelegenheiten entweder im Quartier im Kameradenkreise oder beim Glase deutschen Biers in der Kantine. Nur die Zeit vor dem Osterfest brachte für mich manche Nebenbeschäftigung. Die Unteroffiziere der Kompagnie und gar manch braver Kamerad, der in meiner Nähe wohnte, nahm Gelegenheit, sich von mir Osterkarten zeichnen zu lassen, wodurch ich natürlicherweise sehr oft am Biergelage meiner Kameraden verhindert wurde. Wenn mich dann in meinem einsamen Quartier die Zeichenkunst verließ, dann ging ich mit meinem Kriegsatlas ins Nachbarhaus und besuchte eine ruhige und insbesondere gesellige Franzosenfamilie, legte auch zuweilen meinen Atlas auf den kleinen schmalen Tisch und versuchte ihnen klar zu machen, wo sich unsere Frontsoldaten aufhielten. Und wenn sie dann fast übereinstimmend ein „Versteh, versteh!“ stotterten, wurde es mir leid, insbesondere, wenn sie – vielleicht an die friedlich in ihrer Hütte verbrachten Stunden, Tage, Jahre, Ehe und Jugend denkend – ernst und bedächtig auf die von mir gehaltene Karte starrten. Gewöhnlich fing ich dann an, den schulpflichtigen beiden Kindern etwas vorzumalen oder fragte in umständlichster Art und Weise, was sie zu verkaufen hätten, und nicht selten kam es vor, dass sie mir guten Reis, auch Bohnenkaffee und Tee, den sie an der belgisch-französischen Grenze gekauft hatten, besorgten. Eines Abends saß ich wieder in ihrem Kreise, und ich konnte es nicht unterlassen, in Anbetracht der allgemein vermuteten Offensiven unseres Westheeres auf die Möglichkeit einer Eroberung der Reichshauptstadt Paris hinzuweisen. Da sahen mich die beiden Alten – Mutter und Großmutter – entrüstet an und meinten, dass ich irre, Paris werde nun von Deutschen nicht mehr erobert werden können. Und sehr oft habe ich an diese beiden Franzosenfrauen denken müssen.

 

Als ich an jenem Abend in mein Quartier zurückkehrte, fand ich die meisten Kameraden mit Briefeschreiben beschäftigt vor, und Kamerad Deister rief mir in anscheinend aufgeregtem Tone zu, dass wir fortkämen, wahrscheinlich an die Front. Auch ich besorgte noch in größter Eile einige Karten und Briefe, alsdann legten wir uns schlafen, und ich verlebte im Traum meinen ersten Urlaub aus dem Felde.

 

 

Es war so, wie Kamerad Deister erzählt hatte, nur kamen wir nicht sofort an die Front, sondern zunächst als Reserve in unmittelbarer Nähe der arg bedrohten 19. Reserve-Division, die sich auf dem westlichen Kriegsschauplatze aufhalten sollte. So werden nun die nächsten Aufzeichnungen den Krieg schildern, wie er sch vor meinen Augen abgespielt hat. Leider ist es mir nicht möglich, aus verschiedenen kritischen Momenten Skizzen beizubringen, über solche Merkwürdigkeiten, die es jedem Frontteilnehmer nicht gestattet hätten, sich auf irgend eine Art Gelegenheit zu verschaffen, diese auf dem Zeichenblock festzuhalten.

 

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Flandern

 

– 19.4. bis 9.5. 1918 –

 

 

Am 16. April 1918, vormittags 6.00 Uhr war die Kompagnie in der Hauptstraße Gorcys zum letzten Male feldmarschmäßig angetreten. Nachdem die Kompagnie verlesen war, und niemand fehlte, marschierten wir den uns bekannten Weg über Ville Houdlemont bis Virton, woselbst unsere Verladung in Viehwagen erfolgte. In Gorcy waren etwa noch zwanzig Mann als Revierkranke zurückgeblieben, von denen sich wohl 60 % ärgern mochten, dass sie sich des strengen Dienstes wegen künstlich krank gemacht hatten und heute nicht mitkommen durften, obwohl ein Transport von etwa 240 Mann in 7 Viehwagen und einem Dritte-Klasse-Wagen höchst wenig Vergnügen versprach.

 

Im herrlichsten Sonnenschein halten sich die Offiziere und Mannschaften aufgestellt vor ihren „Wagenabteilen“ und sich dann auf den Befehl zum Einsteigen gefasst gemacht. Als dann endlich der erwartete Befehl gegeben war, polterten fast alle in der Erwartung, in dem Wagen einen „Fensterplatz“ einnehmen zu können, los. Da jedoch in jedem 42 Mann einschließlich Gepäck enthaltenen Viehwagen nur zwei Gucklöcher vorhanden waren, mussten sich etwa 30 Mann mit fast dunklen und nicht wenig nach Kavalleriepferden riechende Ecken verschieben lassen. Aber sie vertrugen sich gern darum. Schon am Abend des 16., als wir längst unser Kommisbrot und den aus Wasserleitungshähnen im Bahnhof Sedan empfangenen süßen und sogar lauwarmen Tee verdaut und uns unser Nachlager bereitet hatten, baten die Fenstergucker um etwas mehr Platz, da es am Guckloche sehr kühl geworden sei!

 

 

Gegen Mitternacht befangen wir uns in der Nähe Hirsons, in der nächsten Nacht in der Nähe von Lens-Ath, ohne jedoch erfahren zu können, wohin man uns bringen will. Als wir am dritten Tage erwachten, waren wir in Belgien und die bisher im Wagen geübte Unterhaltung, Kartenspielen, drei- und mehrmaliges Durchlesen der Eltern- und Liebesbriefe usw. flaute wesentlich ab. Hier, im teilweise sehr fruchtbaren Süden Belgiens, war der Frühling eingezogen. Die Felder waren von deutscher Hand bestellt und alles landschaftlich Schöne konnten wir in größter Ruhe und Erhabenheit an unseren neugierigen Augen vorüberziehen lassen. Städte, Dörfer, einzelne Bauerngüter, Windmühlen auf kleinen Anhöhen, belgische Zivilisten, hier und dort deutscher Landsturm bei der Arbeit, belgische Viehherden, die von einem alten Greis oder auch von Kindern geführt und bewacht wurden, boten den vielen Fremden im rastlos, fast ziellos dahinrollendem Zuge reiche und stimmungsvolle Abwechslung.

 

 

Am 18. mittags befangen wir uns auf der Strecke St. Eloi – Ideghem, und als wir Rousselaere verlassen hatten, die zerschossenen Häuser, Infanterie und Artillerie gesehen hatten, waren wir allgemein der Ansicht, dass wir unserem Ziele nicht mehr allzu fern seien. Tornister, Kisten und Kästen wurden gepackt, geschriebene Karten und Briefe gesammelt, um sie bei sich bietender Gelegenheit befördern zu lassen. Dann wurde es still im Wagen! Tack-tack-tack-, tack-tack-tack fuhr der Zug dahin. Dort wieder eine Mühle, da ein kleines Häuschen, hier ein Schild, „ein Schild!“ – „Was stand darauf?“ – „Lichtervelde!“ sagte ein Lochgucker. Jetzt konnte man einige Häuser durch die schmalen Spalten aus dem Hinterteil des Wagens erkennen.

 

Der Zug fährt jetzt langsamer; ein Haus, im Hintergrunde ein Dorf und dort… zwei Kirchtürme… Im nächsten Augenblick fahren wir an einer Fabrik, dann an Häusern, Straßen, Gärten vorbei, und während der ganze Zug gebremst wird, erkennen wir das Schild am Bahnhofsgebäude: „Thourout!“. Der Zug hält, etwa zehn Minuten, dann kommt ein Unteroffizier vom Leutnant Schwier und kräht in jeden Wagen: „Alles raus hier!“. Schnell ward dieser Vefehl ausgeführt und bald stand die ganze Kompagnie auf ihren steifen Beinen zum Abmarsch bereit. „Ohne Tritt marsch!“, kommandierte Lt. Sander, und dann marschierten wir etwa gegen 6 Uhr in die Stadt bis zur Stadtkirche, auf deren hohem Turme man eine Blink- und Funkstation errichtet hatte. Während man sich seitens der Führung um Unterkunft bemühte, setzten wir uns auf unser Gepäck und ich war froh, dass ich meine Futterkiste, die sich auf Märschen usw. nur hindernd zeigte, bereits in Gorcy nach Hause geschickt hatte. Nun gings weiter die Straße entlang bis zur Schule – ein dreistöckiges, massives Gebäude. In dieser Schule, die von unsern Vorgängern „Altmännelehaus“ getauft worden war, wurde die ganze Kompanie untergebracht, mit Ausnahme der Offiziere, die in unmittelbarer Nähe Unterkunft gefunden hatten.

 

 

Im neuen Quartier fühlten wir uns ganz wohl. Bald hatten wir uns an alle Neuigkeiten im und am Hause gewähnt, und am bald folgenden Sonntag unternahm ich es, mir wie gewohnt, die nähere Umgebung von Thourout anzusehen. Die Neuigkeiten in der Stadt ließen mich jedoch nicht allzu weit kommen. Geschäfte, fast zu jeder Zeit geöffnet, Gasthäuser, ja, sogar ein Kino für deutsche Truppen sah man hier mal wieder. Aber auch verschiedene Bauten, so die Stadtkirche von Thourout, die Ortskommandatur usw. waren ihre Besichtung wert! Im Kino gings lustig her, wie ich beim Einblick in den Saal feststellen konnte. Das Rauchen war anscheinend nicht verboten, denn der Saal war mit Rauch sehr gefüllt, und die Hinein- oder -ausgehenden hatten sich entweder erst ihre Pfeife, Zigarre oder Zigarette angezündet, oder sie waren im Begriff, dies bald nachzuholen. In den Straßen sah man bis zu bestimmten Stunden Zivilisten, an deren interessanter Sprache (flämisch, dem deutschen Platt ähnelnd) wir uns ergötzten. Beim Einkauf von „Hoonickauken“ kam mir meine platte Sprache, die ich einigermaßen beherrsche, gut zustatten und ich machte bei sich bietender Gelegenheit nicht selten von ihr Gebrauch. Sehr oft kam es vor, dass ich mir die holländischen gemahlenen Hülsenfrüchte zwecks Selbstbereitung einer Suppe kaufte und mit dem mit Anweisung versehenen Paket in ein mir zusagendes, von Zivilisten bewohntes Haus ging, das Paketchen vorzeigte und dabei auf Wasser, Herd und Teller hindeutete. Eine alte Mutter kannte mich im Laufe der ersten vierzehn Tage so genau, dass ich ihr nur mein neugekauftes Päckchen geben brauchte, um die fertige Suppe etwa 40 Minuten später essen zu können. Dabei lachte sie herzlich und war öfters und war öfters nicht abgeneigt, mir beim Essen dadurch behilflich zu sein, dass sie selbst ihren Teller füllte und mitaß. Im übrigen waren die Belgier den deutschen „Eindringlingen“ sehr gut gesinnt!

 

 

Bis zum Ablauf des 21.4. hatten wir anstrengenden Dienst gehabt. Fast alle Tage marschierten wir nach Griete, nördlich von Thourout, um daselbst von morgens bis abends den Krieg zu üben. In der heißen Mittagssonne trafen wir dann gewöhnlich in unserer Quartierstadt durstig wieder an, labten uns am frischen Wasser und aßen dann erst das meistens sehr heiße Mittagessen, das natürlich selten dem hungrigen Soldatenmagen bekam. Und nicht selten klagten viele über Magenbeschwerden, die zuweilen auch unruhige Nächte mit sich brachten. Fast jede Nacht konnte man die „Nachtwandler“ laufen sehen und nur den hellen Mondscheinnächten durften es viele Kameraden verdanken, dass sie ihr Leben – oder vorsichtiger gesagt: ihre heile Haut – nicht aufs Spiel setzten oder setzen mussten. Nämlich auch hier wie in dem vorerwähnten Städtchen Gorcy musste sich wohl der Kompagniebestand einer nach Soldatenart errichteten Bedürftnisanstalt bedienen, und nur der ehemalige Feldsoldat vermag ein Urteil darüber abzugeben, wie riskant es war, sich in der Nacht überhaupt in die Nähe einer solchen Einrichtung zu begeben.

 

 

In der nächsten Nacht machte der Engländer oder Franzose dieser Nachtwandelei, die auch uns übrigen Schlafenden nicht angenehme Störungen verursachte, ein Ende; wenigstens wurde man nicht mehr so oft, und wenn, dann ordentlich, gestört. Es mochte etwa halb eins sein, als plötzlich eine riesige Sirene ertönte. Im nächsten Augenblick mochten wohl fast alle Fremdlinge sich aufgerichtet haben, um die nächsten Sekunden abzuwarten – um ihre Gedanken zu sammeln – um überhaupt verstehen zu können, was eigentlich wohl passiert sei – da springt die Tür aus der Klinge – – „Flieger, feindliche Flieger!“ – –

 

Dann hörte man Stiefelanziehen, draußen im Flur ein Laufen, Stürzen, Rufen, Türeschlagen und so weiter, dann lässt die Sirene nach und wohl ehe die Flugzeuge die Stadtgrenze überschritten hatten, setzte ein uns mehr als furchtbar erscheinendes Fliegerabwehrfeuer ein, und während wir uns über den Flur huschend in den Keller begaben, härte man etwa eine viertel Minute lang die Luftmaschinen über uns surren. Dann herrscht Kirchenstille – – Jetzt mögen sie über der Stadt sein, dann ein dumpfer, dröhnender Krach, noch ein… noch ein Kra- – „Junge!“ ruft ein Grauer hinter mir, und dann – – ein Ruck, das Altmännelehaus zittert, ein donnerndes Getöse – Volltreffer?

 

Alles ist stumm! Durch die Kellerlöcher lacht der Mond mit seinen Sternen; alles ist wieder still, nur die feindlichen Flieger hört man. Im nächsten Augenblick kracht es noch mal – noch dreimal, dann ziehen sie ab.

 

Die Fliegerabwehrabteilungen geben ihnen schonendes Geleit und die Kompagnie begab sich wieder zur Ruhe. Gustav Deister, unser Flügelmann, heiterte und wieder auf; er war kein Witzemacher und gerade deshalb vermochte er uns dadurch, dass er sich in der Eile so selten interessant angezogen hatte, wieder zum Lachen zu verhelfen. Er hatte nämlich beim Alarmieren nur einen Hausschuh und einen Langschäftigen erwischen können und hatte in Anbetracht der Not und seines ernstlich bedrohten Lebens selbst vergessen, seine Beinkleider anzuziehen. Aber fast die halbe Kompagnie war nur notdürftig gekleidet. Viele hatten sich sogar ohne jede Fußkleidung in den kalten Keller geflüchtet, vielleicht um ihrer Hühneraugen willen; denn noch nie sind letztere so bedroht und vielleicht auch bearbeitet worden, als hier im Altmännelekeller, in dem eine 250 Mann starke Kompagnie Schutz suchte. Wie wir bald erfuhren, war oben im Hause noch alles ziemlich heil geblieben.

 

 

Nach etwa einstündigem unruhigen Schlaf wiederholte sich das soeben da gewesene. Diesmal hatten es die Flieger wohl auf den Bahnhof abgesehen. Sie zogen nach 7 oder 8 Bombenabwürfen wieder ab, wie vor einer Stunde. Nun blieb der aufgeregten Kompagnie nur noch eine verhältnismäßig kurze Zeit zum Schlafen, wenn es mit den Fliegerbesuchen so fortging. Aber es war inzwischen wesentlich dunkler geworden, und der Mond ging hinter grauen Wolken zu bett. Sie kamen in der Nacht nicht noch einmal.

 

 

Am andern Morgen 5.45 Uhr war die Nacht „endlich“ vorbei und die Sonne stieg immer höher, bis sie schließlich die Eisenstücke, die die Fliegerabwehrkanonen in die Luft geschossen hatten, in ihren Strahlen spiegeln ließ. Später waren die scharfen, zuweilen faustgroßen Eisen- und Stahlstücke verschwunden. Sammler hatten sie vielleicht zur Erinnerung mitgenommen – sie lagen ja auch in allen Straßenrinnen herum.

 

Gegen 10 Uhr exerzierten wir in nordwestlicher Richtung der Stadt. „Furchtbares“ glaubten wir in der vergangenen Nacht erlebt zu haben, aber etwas noch Schlimmeres stand uns heute bevor: Wir waren gerade damit beschäftigt, eine sogenannte Läuferkette zu bilden. Der linke Flügel hatte den Anfang machen müssen und etwa 2 mal 2 oder 2 mal 3 Mann hatten sich dabei unmittelbar an der mit Pappeln gezierten Straße, unmittelbar vorm Ortseingang, aufstellen müssen. Nachdem die Wichtig-, Zweckmäßig-, Notwendig-keit usw. entsprechend erläutert worden war, und einige Proben genügt hatten, dem Rest der in zwei Gliedern angetretenen Kompagnie ein praktisches Bild vorzuführen, meinte Leutnant Sander zu Lt. Schwier, während er im Schatten seiner rechten Hand in südwestlicher Richtung den Horizont absuchte: „Freunde oder Feinde?“. Leutn. Schwier lugte durch seinen Feldstecher: „Nicht zu erkennen, s´werden Deutsche sein“ – sagte er, und während er noch sein Glas mit herabhängendem Arm hält, ruft Lt. Sander: „Feindliche Flieger!“. Die Sirene beginnt zu heulen. „Alles hinlegen!“. Dann lag Lt. Sander ebenfalls und Lt. Schwier versuchte vergebens, die nahe Stadt noch zu erreichen. Es mochte eben 12 Uhr sein, als das aus drei Doppeldeckern bestehende Bombengeschwader im hellsten Sonnenschein die Stadt überflog und vergeblich von unserer Abwehr beschossen wurde. Dem ersten Keise folgte ein zweiter, und beim dritten Kreisfluge begonnen sie ihr dreistes Werk. Die erste Bombe ging fehl, die zweite brachte der Wohnung und Vorratskammer unserer Küchenbediensteten einen Volltreffer, zwei weitere folgten mit entsetzlichem Krach in unmittelbarer Nähe des Lazaretts im Pastorenhause und des Pferdelazaretts. In diesem Augenblick kehrte Lt. Schwier wieder um und suchte ebenfalls vergebens Schutz auf dem flachen Gartengelände. Dann kam das Schlimmste: in kürzester Zeit hatten uns die Flieger nicht weniger als 8 schwere Bombenabwürfe vorgeführt, und es war uns bislang möglich gewesen, das Schauspiel teilweise zu verfolgen, bis wir ein Flugzeug fast direkt über uns sahen, das gerade einen schweren Eisenklotz leichter geworden war. Mit einem unvergleichbaren Geheule näherte sich das Ungetüm der flachen Erde, um im nächsten Augenblick 50 m von der jetzt stumm und bleich – mit fest in den weichen Sandboden gedrücktem Gesicht – da liegenden Kompagnie mit entsetzlichem Geschrei zu krepieren. Eine zweite, nein, schon die dritte war unterwegs, während der Stahl- und Eisenregen sich über uns ergoss. Alles liegt noch still – still wie Tote, und wehr- und machtlos verfolgen wir das Surren der noch über uns kreisenden Flugzeuge, jetzt das Einschlagen der beiden nächsten und – letzten? Wem war wohl nicht der Rücken kalt, das Gesicht weiß geworden.

 

 

Es waren die beiden letzten schweren Bomben gewesen und wir waren sehr froh. Mit einem halblauten Seufzer erhoben wir uns, wischten an unseren Nasen, am Helm und lösten die festgeklebten Hosen vom Knie und schauten verstört den Angstmachern nach. Dann hieß uns Lt. Schwier sammeln. Niemand war verletzt – doch, da laufen ja einige Leute von der Kompagnie zusammen! Dort kommt ein Mann und Meldet: „Herr Leutnant, Musketier Engelke ist tot, Musketier Kruse verwundet!“. Lt. Schwier begibt sich zur Unglücksstelle und wir laufen befehlsgemäß in unsere Quartiere. Rechts und links die Bombenlöcher, dort am Dorfeingang die ersten Verluste.

 

Als wir unser Essen empfingen, erfuhren wir, dass außer unseren beiden Kameraden Engelke und Kruse dreizehn Pferde, einiges anderes Vieh, etwa vier Hausdächer und eine Wohnung, die unsere Küchenbediensteten inne hatten, den Fliegern zum Opfer gefallen waren. Am Nachmittage des 23.4.1918 wurden die Opfer ordnungsmäßig bestattet. Musketier Kruse kam ins Lazarett; ob er noch lebte, konnte ich beim Verlassen der arg zugerichteten Stadt Thourout leider nicht feststellen.

 

So hatte uns unser Aufenthalt in dem sonst friedlichen Thourout den ersten Toten und den ersten Verwundeten gebracht.

 

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In Anbetracht dessen, dass die ganze Kompagnie in der Schule – dem Altmännelehaus – untergebracht und der kleinste Raum zur Unterbringung der 250 Mann verwandt werden musste – also auch Dachräume, die Bomben zum mindesten sehr schlecht vertragen können – wurde die Aufstellung eines um 1 Uhr abzulösenden Fliegerposten befohlen und ich rechne es mir nicht als eine besondere Leistung oder sogar Ehre an, wenn ich bemerke, dass ich die erste Wache haben sollte und auch gehabt habe. Dieser Posten wurde mir deshalb übertragen, weil ich noch nie im Feindeslande Wache gehabt hatte und zum Glück vieler Unglücksraben nun endlich an die Reihe kam. Länger wie gewöhnlich saß ich an diesem Abend über meinem Tornister gebeugt, um meine angefangenen – in diesem Buche wiedergegebenen – Skizzen zu vervollständigen, insbesondere aber auch, um die präzise 10.00 Uhr beginnende Wache (Fliegerposten!) zu übernehmen.

 

Im Bau war es still geworden. Die Fenster waren dicht verhängt, und wo außer in unserem Stübchen noch eine Karbidlampe oder Kerze am Bett brannte, konnte ich beim Absuchen der Fensterfronten nicht feststellen. Alles war also in Ordnung, nur ein immer noch mehr an Stärke und Umfang zunehmendes Gemurmel, das später zum regelrechten und nun kurz vor eintretender Mitternacht deutlich vernehmbaren Trommelfeuer wurde, lenkte mich ab von dem mir vorgenommen Plan, meine Wachaufgaben, die insbesonders darin bestanden, verdächtige Geräusche in der Luft schleunigst zu melden und mich in der Nähe der schlafenden Kompagnie aufzuhalten, prompt auszuführen. Da kommt ein Kamerad aus der Hoftür, bleibt stehen, horcht, dann geht er, seinen Schritt beschleunigend, über den Hof, und als er zurückkam, rief ich ihn an und wir gingen auf einen kleinen Hügel, wo wir in der Ferne (Kemmel) den Funken und Feuer sprühenden Berg erkannten. Unaufhörliches Aufblitzen der Kanonen, immerwährendes Trommelfeuer! – – – „Brüllend umwölkt mich der Dampf der Geschütze, sprühend umzucken mich rasselnde Blitze!“ murmelte jener mir fremde Kamerad vor sich hin, dann ging er wieder zurück und verschwand im Halbdunkel, mir viel Spaß wünschend. Ab und zu wurde ich von „Nachtwandlern“ aufgesucht, die alle neugierig fragten, wo und seit wann wohl das Trommelfeuer sei. „Seit wann?“, das konnte ich nicht wissen, dass es aber in der Nähe des Kemmelberges war, darüber wurden und waren wir uns schnell einig. Dann horchten sie gewöhnlich noch einmal, zogen die kaltdurchrieselten Schultern hoch und verschwanden mit einem „Brr…“ im Hinterhause.

 

 

Nun noch etwa 20 Minuten, und auch ich konnte mich schlafen legen. Ob Franzmann überhaupt noch in dieser Nacht einen Fliegerangriff beabsichtigte? Wer konnte das wissen. Jetzt kommt wieder so ein Nachtwandler an, vielleicht aus Neugierde, dann noch vier, fünf Mann. Alles horcht! „Doch gut, dass wir noch nicht dazwischen sind!“, meint der eine, der sich schaudernd und gähnend an die Stallwand gelehnt hatte und wohl durch das frische Grün nach dem nahen, hohen Kirchturm schaute. Keiner antwortet, und als gerade einer wieder sprechen will, unterbricht ihn ein Dritter: „Still, das ist die Sirene in Rousselaere!“ – Totenstille! Die hohe Turmuhr verkündet dreiviertel eins. Als sie ausgeklungen war, begann die Sirene zum zweiten Male. Wer wußt´s, was geschah? Der eine meinte, es sei ein Alarm für die Reserven, wir übrigen dachten nur an feindliche Flieger – Jetzt hörten wir sie, sehr hoch mussten sie sein. „Sie kommen hierher, sie kommen!“ rief der eine, schnell ins Hinterhaus huschend und mit einem brennenden Streichholz in der Hand den Kellereingang suchend. Dann wird er angeschrien, das Licht zu löschen, und ich überlegte, ob ich die Kompagnie wecken solle oder nicht. Nun liefen mir auch meine vorerwähnten Gesellschafter davon in den Keller und ich wartete jetzt sehr auf die Thourouter Sirene, deren Beobachtungs- und Bedienungsmannschaft sicherlich schlief. Doch jetzt, gerade, als ich mich entschlossen hatte, schnellstens zu alarmieren, hub sie an, und dann mochten sie aber auch kurz vor der Stadt sein. „Feindliche Flieger!“ gröhlte ich ins Treppenhaus und in meine Bude, springe noch einmal in den Hof und laufe ebenfalls in den Keller. „Licht aus!“ schreit jemand durch das Treppenhaus. „Schnell, schnell, sie sind ja schon da!“, „Au, ich habe mich festgehakt, nicht drängen, nicht drängen!“, „Schneller da unten!“ und so fort stürzen sich die 250 Mann die Treppen hinunter in den Keller. „Rurumm!“ „Bum-bum-bum!“ „Immer weiter durchgehen!“ ruft einer, und allmählich hat sich die ganze Kompagnie in dem knapp 1.60 Meter hohen Keller zusammengepfercht, wie Heringe in der Tonne. „Bum, Bum-bum-bum – – – bum-bum!“ „Sie sind wieder am Bahnhof!“ sagte einer, und im selben Auenblick krachte es furchtbar. Der saß!, dachte ich, noch zwei folgten, dann zogen sie ab, abermals in Begleitung der „tapferen“ Abwehr.

 

Dann zog der andere Posten auf und ich ging mit der wieder im verdienten Schlaf gestörten Kompagnie zu Bett. Die meisten Kameraden hatten nun aber ihre Ruhe verloren. Dieser schimpfte, jener wälzte sich auf seinem Lager, ein anderer erzählte Witze und ein kleiner Hamburger fragte sogar bei seinen Nebenleuten an, wie´s mit einer Partie 66 wäre, in wenigen Stunden sei doch die Nacht eh vorbei. So mochten wohl einige noch lange gewacht und zugleich damit gerechnet haben, dass wir wohl noch einmal Besuch bekommen würden, aber alle waren darüber eingeschlafen.

 

Als am anderen morgen geweckt wurde, lachte fast die Sonne ins Lager. „Exerzierdienst fällt aus, um 9 Uhr mit Wäsche und Mantel antreten!“ sagte ein Kamerad zum ersten der Tür nächsten Musketier, und während er sich die Augen rieb, wiederholte er die angenehme Anordnung und fügte ein „Machen wir“ hinzu.

 

Eine Stunde später standen wir hinter dem flachen Bahndamm Thourout-Lichtervelde vor einer Badeanstalt. „In Reihen gesetzt rechts um!“ kommandierte Lt. Sander, und dann waren wir in der Badeanstalt, um neben einer gründlichen Reinigung auch eine für nötig erachtete Entlausung vorzunehmen. Herrlich und wohltuend war´s.

 

 

Später hatte ich die Gelegenheit, zu erkunden, was alles in der Stadt passiert war. Als ich durch die Hauptstraße kam, sah ich sehr viele Verwundetentransporte, und mir wurde auf Anfrage von einem Sanitäter erklärt, dass sie alle von dem Kemmelberge, an dem soeben die Angriffe unsererseits beendet sein müssten, hierher und auch zum Teil in andere Orte transportiert würden, um ihnen daselbst erste ärztliche Hilfe bringen zu können. Im schnellsten Tempo rasten die Automobile mit ihren Anhängern an mir vorbei, sämtlich zum Lazarett Thourout, das am selben Abend zu überfüllt war von Verwundeten und – – Toten.

 

 

Nun war ich am Ende meines Rundganges, nämlich in unmittelbarer Nähe des Altmännelehauses. Hier stand ich zwischen Lazarett und der kleinen Kirche. Das Lazarett war an der nördlichen Seite durch die hier in den beiden vorhergegangenen Nächten und am Morgen des 23.4.18 niedergegangenen Fliegerbomben arg beschädigt. Der Turm der kleinen Kirche war abgedeckt und das nackte Gerüst, das sich über das Kirchenschiff gelegt hatte, bot einen höchstseltenen, interessanten Anblick. Das Innere der Kirche war fast verschont geblieben. Aber vor der Kirche konnte ich mir erst ein klares Bild machen von der Wirkung einer schweren Fliegerbombe. Hier stand ich vor einem mindestens zwei Meter tiefen und eineinviertel Meter breiten Trichter, an dessen Rande man große und kleine Granatsplitter liegen sah. Eigentlich wollte ich auch noch die Unglücksstelle vor dem Ortseingang am Exerzierplatz besichtigt haben, aber meine Lust war mir heute dazu vergangen. Später sah ich zufällig noch einmal die erwähnte Stelle, die an den zerschlagenen Pappeln leicht auffindbar war.

 

Das war also das Erste, was ich vom Kriege sah; wäre es aber das Schrecklichste vom Erlebten geblieben, so hätte sich´s nicht gelohnt, ein Tagebuch über Kriegserlebnisse zu führen. Möge dem Leser dieser Skizzen das bislang Geschriebene eine Einleitung oder ein Vorspiel sein.

 

 

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Teil zwei

Die aufregenden Tage vom 22. bis 24.4.1918 waren schnell vergessen. Der Dienst bestand zum größten Teile im Exerzieren und in Feldübungen. Wenn dann mal ein „Richthofen“ – seine Staffel sollte in unmittelbarer Nähe liefen – über das Nachbargebiet flog, verkrochen wir uns ehrfurchtsvoll, damit er uns und wir ihn möglichst nicht sehen konnten. Wer wollte sich noch einmal ins Bockshorn jagen lassen?

Im übrigen schien es aber mit den Fliegerangriffen ein kurzes Ende genommen zu haben, denn in den wenigen Tagen, die wir noch in Thourout verbringen durften, haben wir nur einmal noch einen Flieger über der Stadt gesehen, der wahrscheinlich fotografieren oder sonst etwas auskundschaften wollte.

So gingen die letzten Tage schnell und sorgenlos dahin, bis wir am 28.4. aus der mit Rücksicht auf die am 23.4. begonnene Kemmelschlacht entlassen wurden und am 8./9. Mai unserer vom Kemmel verschobenen 19. Reservedivision folgen sollten, um dann bald den wirklichen Krieg kennen zu lernen. Es war uns ja auch fast langweilig geworden, das ewig „Stellung – Sprung auf – Marsch, marsch!“, „Wir wollten auch noch den Franzmann sehen!

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Champagne – Juniville & Moronvillers

Vom 15.5.1918 bis 31.8.1918

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Der Sturm des Kemmelberges bei Kemmel hatte die Zahl der Kampffähigen der 19. Reservedivision nur noch mehr verringert und es erweckte unter uns, die wir an dieser Division ein besonderes Interesse hatten, den Anschein, als sei und der oft herbeigesehnte Tag einer Zuteilung zu einem Regiment nicht mehr fern. Wir hatten uns auf alles denkbare vorbereitet und warteten nur noch auf den Abmarschbefehl. Die Parole vom 7.5. brachte ihn uns, und am 8./9. Mai 1918 waren wir in Juniville in der Champagne.

Unsere Reise verlief bis auf einzelne Störungen infolge feindlicher Beschießung verschiedener Bahnanlagen glänzend. In Juniville angekommen, wurden wir in den nördlich gelegenen Wald über Bignicourt nach Annelles geschickt und daselbst in Holzbaracken untergebracht. Hier fand man den Mai, wie man sich ihn wohl in der Großstadt vorstellt; Tannen, Kiefer- und Birkenbäume spendeten ihr frisches Grün und verhalten dem müden Soldaten zu neuer Kraft und Hoffnung. Mit den biblischen Worten „Hier ist gut sein…!“ bezogen wir zunächst eine idyllisch zwischen hohen Tannen und jungen Birken aufgebaute Baracke. Links neben dem schattigen Eingang hatten Vorgänger eine für zwei ruhebedürftige Soldaten ausreichende Bank aufgebaut, rechts war ein kleiner Holunderbusch schonend groß und grün geworden, und die Baracke selbst war – wie gewöhnlich – aus Tannen- und Fichtenbrettern gebaut. Das Innere bot uns insofern etwas neueres, als neben dem eigentlichen, für etwa 15 Mann ausreichenden Ruhelager ein solches gleich am Barackeneingang in verkleinerter Form mit hineingebaut war in die übrigens praktisch eingerichtete Baracke. Dieses kleine Lager reichte für 2 Soldaten aus. Musketier Wienecke-Putzer des Sergt. Schloppe und ich bezogen auf Anordnung dieses kleine Stübchen und fühlten uns in den ersten Tagen wohler in ihm als in den letzten. Ein jeder half nun an den Einrichtungsarbeiten, machte sein Lager und sich selbst in brauchbaren Zustand, und dann machten wir uns auf die Suche nach trinkfähigem Wasser. Nach etwa halbstündigem Suchen tragen wir in nordöstlicher Richtung des Waldlagers einige von unserer Kompagnie, die uns auf die richtige Fährte brachten. An einer schmalen Feldhecke fanden wir dann eine Pumpe. Zumeist hatten wir Last mit ihr, überhaupt, aber wenigstens klares Wasser von ihr zu bekommen, und nur derjenige Wasserdiensthabende war am besten dran, der nicht zu früh oder gar als erster dieser antiken Pumpe Wasser zu entlocken versuchte.

Die nächsten Tage wurden dazu benutzt, und in- und außerdienstlich mit allen Ecken und Winkeln des schlecht zu übersehenden Waldgeländes vertraut zu machen. Dabei stellten wir fest, dass außer uns auch noch andere Formationen im südlichen Waldteil lagerten. Größere Fuhrparkkolonnen mit großen Viehherden sollten dort lagern und täglich großes Viehtreiben auf fruchtbaren Waldwiesen veranstalten. „Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew´ger Bund zu flechten – – -„, und der Franzmann erkennt diese Gelegenheit bald aus.

Was sich in Thourout über, vor und hinter uns ereignete, sollte uns auch im Waldlager von Juniville beschieden sein, nur verschont blieben unsere Kompagnie und die Baracken. Schlimm schien es uns nur beim ersten Fliegerangriff, dass niemandem Gelegenheit gegeben werden konnte, in einem Stollen Unterschlupf zu suchen, und so hätte sich im Unglücksfalle die ganze Kompagnie ungeschützt dem schrecklichen Bombentod aussetzen müssen, hätte er die vielen Bomben, die er der nahen Fuhrparkkolonne spendete, unserem Lager zugedacht.

Als Franzmann zum ersten Male im Juniviller Lager seinen Bombenangriff ausführte, waren meinem Kameraden Wienecke und mir alle Möglich- und Unmöglichkeiten hinsichtlich einer einigermaßen sicheren Unterkunft bekannt, und wir hatten, wie es unter Kameraden üblich war, uns über alles uns wichtig und ratsam erscheinende Weitere auseinandergesetzt. So mochte es in jener Nacht eben 1 Uhr geschlagen haben, als uns die am Bahnhof Juniville aufgestellte Sirene aus tiefstem Schlafe rief. Als sie verstummte, und unsere Fliegerabwehr einsetzte, der hier drei Scheinwerfertrupps zur Verfügung standen, hatte ich mich notdürftig angekleidet und wollte gerade zur nächsten Lichtung laufen, um mir das Schauspiel ansehen zu können. Ich riss die Tür auf, horchte, hörte wie über mir die Motore der Flugzeuge arbeiten, hörte die Granatsplitter in allen Richtungen durch und an die grünen Zweige schlagen und sah drei Scheinwerfer, die nervös den fast sternenklaren Horizont absuchten; dann verschwand ich wieder in meinem Lager – da explodiert auch schon die erste-zweite-dr….v…sechste Bombe Wienecke und ich sitzen auf seinem Lager noch ein, zwei Minuten – dachten wir, dann sind wir geretter, oder – vielleicht – – „kraa-aa-aaa-a-bum-bum-bumm-kra—-bum-bu-u-uu-u.“ – – – Totenstille! „Wieviel Bomben waren das?“ „Keine Ahnung!“ „Mensch, de kannst ok hier tellen, hier am Waale!“ sagte ein kleiner Hamburger. Dann waren wieder alle still und zu unserer größten Zufriedenheit stellten wir fest, dass die uns bekannten Baracken noch standen und Franzmann sich zurückgezogen hatte.

Nach einigem deutlich vernehmbaren Gähnen im Nebenraum und Knarren der allgemein bekannten Draht- oder Hindenburgmatratzenbetten kamen wir bald auch über diesen Schreck hinweg und schliefen bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr durch, ohne noch einmal gestört zu werden.

Sonntag ist´s in allen Wipfeln….!“

Wieder ist eine Woche dahin, wieder hat man in den vergangenen sieben Tagen vielleicht manch guten Freund, Kameraden, Sohn oder Familienvater eingescharrt in diesen weißen, vom Frühling beschienenen Champagneboden. In Gedanken ist mancher bei ihnen, sich einen mit dem bekannten Feld- oder Soldatenkreuz geschmückten Hügel vorstellend. Mancher wird vielleicht in Gedanken daheim sein, daheim bei Eltern, Verwandten, Bekannten oder auch bei Berufskollegen, wird mit ihnen in Gedanken den Sonntag verbringen. Aber wer bringt den Sinnenden schneller in die Wirklichkeit zurück, als der altpreußische Unteroffizier Mattner?

„Kaffeeholer raus!“ schallt es durch die Baracke; „Alles gesund?“. Alles war gesund. Dann wendet er sich an die Schläfer in der nächsten Baracke, und bald klirren die Kochgeschirre. Im nächsten Augenblick macht sich im Lager wieder Leben bemerkbar. Dort wird gesungen, hier gepfiffen, eine Mundharmonika gespielt, dann ziehen allmählich die Wasserdiensthabenden auf, möglichst langsam, damit sie nicht die ersten sind. Die Zeit des Kaffee- und Wasserholens nutzt der Stubendiensthabende aus und reinigt schnellstens seine Barackenräume.

Nach dem Kaffee bereiten wir uns auf den um 11.00 Uhr stattfindenden Appell vor. Wir treten an, der „Alte“ lässt durch Unteroffiziere feststellen, ob alles in Ordnung ist, und dann heißt es „Wegtreten! Das Lager ist nicht zu verlassen!“ – „Wer ist denn aufgefallen, Herr Unteroffizier?“ – „Keener!“ sagte er und zieht mit seiner Korporalschaft davon. „Essenholer raus!“ war das nächste Kommando, und dann begann für uns ein sorgenloser Nachmittag. Jeder zum Briefe schreiben sich eignende Platz ist mit Beschlag belegt, und den etwa fehlenden Tisch suchen sich viele auf eben erdenkbare Art und Weise. Dabei ergaben sich zuweilen Bilder, die bei richtiger Betrachtung und Auffassung verdienten, in den „Lustigen Blättern“ wiedergegeben zu werden. Es gab aber auch viele Schreibunlustige unter uns, und wenn alles Zeitvertreiben wie Kartenspielen, Witze erzählen usw. nicht mehr wollte, dann wurde gesungen, unter Umständen auch nicht selten das Lied: „Hab oft im Kreise der Lieben in durftigem Grase geruht und mir ein Liedlein gesungen, und alles war wieder gut…!“

Und alles war wieder gut! In Munsterlager hatten wir es in öder, kalter oder winterlicher Baracke im Chore eingeübt, dann sangen wir es auf der Fahrt ins Feindesland, in Cussigny, Gorcy, Thourout und heute hier, im grünen, frischen Maienwald – zum allerletzten Mal.

Das Pfingstfest rückte näher, und obwohl ich längst nicht mehr für den Kompagnieführer zeichnen brauchte, hatten sich doch wieder – wie damals im schönen Gorcy – mehrere Kameraden bei mir eingefunden, mit dem mir längst bekannten Anliegen, ihnen eine Pfingstkarte zu malen. Dabei fiel natürlich für mich – auch für meinen Assistenten Wieneke, der sehr häufig an stelle einer fettigen Feldpostkarte eine solche aus der nahestehenden Birke schnitt – eine kleine Entschädigungsgabe ab, als da waren: Zigarren, Zigaretten, Kekse usw. Und bei diesem Kameradendienst ging manch fröhliche Stunde dahin.

Wenn dann die Sonne hinter Reims verschwand, machten Wienecke und ich uns auf, die leeren Baracken durchzustöbern. Wie viele mochten hier wohl schon einquartiert worden sein, wer lebte wohl noch von ihnen, und wo mochten die Überlebenden jetzt wohl sein – vielleicht an der nahen Front, vielleicht auch in Russland, Italien oder auf dem Balkan (?). Mit solchen oder ähnlichen Gedanken durchwanderten wir die alten Baracken, die uns vielerlei Gutes und Böses erzählten, bis es dunkel wurde. In unserem etwa 800 m nordwestlich liegendem Lager gings noch lustig her, dort sang man das Weserlied, drüben „Der Mai ist gekommen“ und weiter im Walde klangs mit Mundharmonikabegleitung: „im Monat Mai, ein kleines Mägdelein wa…“ – eine Barackentür wird eben zugeschlagen. „Feldpost!“ schreien einige, dass es wiederhallt. Briefe, Karten, Pakete werden aus dem Sacke hervorgeholt und dann, während verschiedene lesen, verschiedene zugucken, lässt man jemanden hochleben, wahrscheinlich, weil er zu viele Pakete bekommen hat, und Hungernde sich Gedanken machen, dass der Inhalt verdirbt. Dann stehen wir beide wieder vor dem Eingang unserer „Villa Daheim“. „Der Sonntag ist mal wieder dahin“ meinte Wienecke, und wir gingen ins große Lager unserer Kameraden, um uns bis zum Müdewerden bei ihnen aufzuhalten. Wer hätte wohl beim Einblick in diesen trotz ungenügend gelüfteten, mangelhaft erleuchteten Raumes keine Miene zum lachen gemacht? Wer kann sich solch ein Bild – nein, so viele verschiedenen Bilder – vorstellen? Dieser und jener lesen, dort lesen zwei gute Freunde zusammen eine Brief, der eine ist ernst, andere lachen hin und wieder, dort sitzt Kamerad Kappmeier, zählt stumm seinen Paketbestand und lacht, als er eben das dreizehnte zum großen Haufen legte. Und drüben in der Ecke, der mit der Brotrinde in der Hand: er ging wieder leer aus Ein Kamerad dreht sich um und drückt ihm ein Stückchen Wurst in die Hand: „Von meinen Eltern“ sagt er dabei. Jener nahm es und ließ es sich gut schmecken. Ein leises „danke“ spricht er, dann legt er sich schlafen. Und die anderen: hatten sie vom Leben mehr hier draußen?

Es war inzwischen spät geworden, und höchste Zeit zum Schlafengehen.

Ohne Tritt marsch!“ ging´s durch den grünen Wald. Nach einer ausgemessenen Pause gings an die Arbeit: „Sprung auf, marsch, marsch, Stellung!“ und so weiter, bis die Sonne ihren Höhepunkt zu überschreiten begann. Dann ertönte das beliebte Sammelkommando, und wenn wir dann wieder im Lager anlangten, dampfte unsere Feldküche, die von allen modernen militärischen Einrichtungen wohl den größten Anspruch auf Beachtung und Soldatenlob erheben konnte. Wie kamen sie aus allen Ecken und Winkeln hervor, um möglichst schnell zu ihr zu eilen, zu riechen, zu kosten von dem wunderbaren – jawohl: wunderbaren – Dörrgemüse – ach: Stacheldraht – nein, immer mordern und doch militärisch bleiben: „Drahtverhau!“ – und was gab´s da noch, im Kochgeschirrdeckel, da (?) [Trigger: N-Wort. Markieren, um zu lesen:] Blutwur… halt: Neger… ja, Negergurken. Diese Gurken hatte zwei seltene Eigenschaften: einmal waren sie dem gern sich Raufenden eine fast unentbehrliche Schutzwaffe (sie vertrat in jeder Hinsicht den sogenannten Gummiknüppel!), ein anderes Mal hatte die Natur vorgesorgt, weil es galt, solch einer Gurke den zwar nicht allzu rosigen, aber dennoch vorgeschriebenen Weg durch den Magen zu zeigen, denn nicht selten halfen dabei kleine – zuweilen auch größere – Heinzelmännchen mit, den Inhalt der Negergurke auf ihrem Weg, der immerhin durch zahlreiche unterirdische Gänge führte, entsprechend vorzubereiten.

Ob es nun richtig war, diese eigenartige Frucht, an deren Gedeihen viele Pferde nicht zu unterschätzenden Anteil hatten, „Negergurke“ zu taufen, vermag ich nicht klar zu beurteilen. Denn dass jede mir vor Augen gekommene Negergurke bei ihrem Anblick im Tageslichte etwas negerartiges Äußeres (abgesehen von dem Inneren!) zeigte, konnte und habe ich nicht eingesehen. Wenn man diese öfters genannte Frucht meinetwegen „internationale Gurke“ getauft hätte, dann wäre man der richtigsten Bezeichnung schon wesentlich näher gerückt, da unter diesen Früchten auch solche in größerer Anzahl vorhanden waren, die sich – insbesondere, wenn es sich um ausgewachsene, abgelagerte Früchte handelte – hinsichtlich der Farbe von den deutschen grünen Salatgurken wohl kaum unterscheiden ließen. Allerdings hätten Franzmann, Thommy, der Russki und die elf anderen kriegführenden Staaten diese vorgeschlagene Namensänderung schwerlich anerkannt, denn diese Frucht ist deutschen Ursprungs und ist von allen anderen Ländern und Mächten weder als Wurs… – – als Negergurke, noch als „Internationale Gurke“ eingeführt worden, vielleicht, weil sie sonst in jedem anderen als deutschen Lande Vaterlandsverrat hätte hervorrufen können.

Also diese Frucht stellte außer einer seltenen – später öfteren – Verpflegungsaufbesserung zugleicht einen Ersatz für Wu… ja, diesmal Wurst dar, und wer lange Genuss und Vergnügen an solch einer Wur- – Gurke haben wollte, der bewahrte sie zweckmäßig an einem fliegenreichen, aber ratten- und mäusearmen Platze auf. Also weiter: Das Dörrgemüse – „Drehtverhauh“ – schmeckte eigentlich reichlich so gut we in Thourout, Gorcy, Cussignie, Lamouilly und wie i… („Schweinefressen!“ sagte Heinrich!“) in Munsterlager und Hameln. Und dann: „Deister, wo willst Du hin?“ – „Ek katuliere, eben kew eck en grööteret Stücke Flaisch drinne funn!“ Heinricht war entrüstet, verschenkte seine eben an einen Bettpfosten gehängte „Negergurke“ und zog seine an den Knien festgeklebte, beim Exerzieren feucht gewordene Hose vorsichtig ab. Dann hatten wir ausnahmsweise Bettruhe, anschließend Appell, Sportstunde usw. So ging´s jeden Tag bis zum 15. Mai und dann hinein, hinein in den Kampf, in den Schützengraben.

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Über allen Gipfeln

Ist Ruh

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch.

Die Vögel schweigen im Walde,

Warte nur, bald

Ruhest Du auch!

Am Abend des 14. Mai erhielten wir Kenntnis davon, dass wir am 15 der 19. Res.-Division als Ersatz überwiesen werden sollten. Die Freude, die begreifliche Erregung und auch die vereinzelnd erkennbaren traurigen Gemüter, die durch den dämmernden Wald zogen, vermag ich nicht näher zu beschreiben; ich war selber froh, wenn ich meine Sachen noch ordnen und meinen Tornister packen konnte. Hier lag der längst nicht mehr gerollt gewesene Mantel, dort lagen die drei Decken, an der Wand hingen Seitengewehr, Schanzzeug, Gasmaske, Handtuch, Brotbeutel, ein kompletter Drillichanzug und eine fast neue Unterhose. Ausser diesen Sachen und den langen Stiefeln war also alles übrige im Tornister – halt, dort stand noch das Kochgeschirr, Strümpfe, Wäsche und sonstige Sachen waren im Paket. – alles war gepackt.

„Wer weiß, wo wir morgen um diese Zeit sind?“ – keine Antwort! „Johannes, gib mir einen von Deinen Kartons, ich möchte meine Briefe darin mitnehmen, vielleicht diesen!“ – „Ja, hier.“ Sagte Johannes, und ich gab ihn – gern! Jener las die befleckte Hand- und Anschrift auf dem Deckel, schaute dann i den kleinen Karton, schüttelte die Wursthaut- und Papierreste heraus und las fast geistesabwesend eine Gebrauchsanweisung, dann suchte er seine Briefe und Karten zusammen, legte sie hinein und band den Karton auf seinen Tornister. „Der hält seine Liebesbriefe in Ehren“, meinte der Hackfeld, der ebenfalls bereits fertig war mit seinen Packarbeiten und eine Zigarette rauchte. Jener aber ging hinaus und kam erst wieder, als wir uns schlafen legen wollten. Ich hatte mir vorgenommen, ihn einmal gründlich danach auszufragen, was ihn quälte, aber ich kam nicht mehr dazu. Vielleicht war es nur Liebeskummer.

„Gustav, wenn es sich machen lässt, dann bleiben wir zusammen, was?“ fragte Johannes Kappmeier. „Sicher, wenn´t man geit!“ sagte Gustav Deister. Beide genannten Kameraden waren Landwirtssöhne und ihre parallelen Interessen hatten sie einander näher gebracht. Diese beiden, die eigentlich lieber zu Fuß nach Hause gegangen wären, als am nächsten Tage vor den Feind, bauten noch lange Luftschlösser, bis sie, wie ich in meinem Nebenraum hörte, von einem im Schlaf Gestörten zur Ruhe angehalten wurden. Noch einmal ließ ich die Neuigkeiten, die wir heute erfahren, durch meinen Kopf gehen, und als ich dann schließlich daran dachte, dass erst um 8.00 Uhr Kaffeeempfang und um 11.00 Uhr Essensempfang war, schlief ich bald ein und stand früh wieder auf. Heute stand noch vieles vor uns, und die wenigen Vormittagsstunden gehen besonders in solchen und ähnlichen Fällen schnell dahin.

Draußen wehte ein kühler Maiwind durch den frischgrünen Wald, bis die Sonne aufstieg. Alles schläft noch! Dort, in der großen Baracke, schnarcht einer, hinter meiner Baracke kommt ein Grauer in Unterhose und Langschäftigen zum Vorschein, dann hustet einer drinnen, leise wird die Barackentür zugeschlagen, und dann ist alles wieder still. In der Ferne brüllt eine Kuh, etwas später ist die Küchenbedienung an der Arbeit, die Küchenschornstein beginnt zu rauchen, allmählich wird es lebendig in dem grünen Walde, den soeben die ersten Sonnenstrahlen erreichen. Der große Tag hatte den Anfang genommen.

Nun wurden die restlichen Sachen verpackt, der Unteroffizier vom Dienst machte hier und da noch einige Stichproben, ließ sich auch wohl die Erkennungsmarke vorzeigen, fragte nach den „Eisernen Portionen“ und anderem mehr und ließ präzise um 8.00 Uhr den Kaffee empfangen – zum letzten Mal im Waldlager von Juniville.

Nach dem Mittagessen versammelte sich die ganze Kompagnie auf einer schmalen Waldwiese. Hier sollte die Verteilung der Mannschaften und Unteroffiziere auf die einzelnen Regimenter erfolgen. Noch schnell einen Blick in die Hütte, in den kleinen, engen Raum, dort die Ansichtskarte vom Hamelner Klüt mag hängen bleiben, mag Nachfolgern verraten, was für Formationen hier gewesen sind. Nu schnell hinaus! Klapp, schlägt die Tür; „Villa Daheim“, auf Nimmerwiedersehn!

Ade, Du schöner grüner Wald. Ein Feldweg führt uns nach dem nahen Bignicourt. Wir durchqueren diesen Ort in südlicher Richtung, gelangen auf die alte Römerstraße und biegen von dieser links in die Verbindungsstraße Juniville – la Neuville. „Dort, auf dem weißbeflecktem Höhenzuge Pöhlberg, Hochberg und Keilberg, liegt der Franzose“, sagte Lt. Schwier, mit seiner rechten Hand in südöstlicher Richtung zeigend. Eine sonderbare Stimmung beherrschte die Kompagnie. Alles schaut auf – da drüben also – dann sind wir heute Abend sicher am Ziel! Der melierte Höhenzug versteckt sich hinter nahem Gehölz. Der Tornister drückt sehr, wir schwitzen am ganzen Körper. Die Sonne meinte es gut. La Neuville liegt vor uns, ein kleines, dreckiges Dörfchen. Dann marschieren wir teils im Walde, teils auf offenem, offenem Gelände – immer näher heran den Feind!

„Dort muss die Division liegen“ sagte ein Unteroffizier, indem er auf den etwa 500 m vor uns beginnenden Wald deutete. In dem sich nähernden Walde machte sich ein reges Treiben bemerkbar. Dort fuhr eine Feldbahn, Feldgraue durchquerten die Waldlichtung, jetzt sahen wir die ersten Baracken, und dann erfolgte bald das Kommando: „Kompagnie halt, setzt die Gewehre zusammen!“. Eine Kunstpause! „Die 92er bleiben hier, der Rest marschiert in 10 Minuten in Richtung links weiter!“ rief jemand. Ich hatte mein Gepäck wie alle anderen abgelegt, und ehe ich recht zur Besinnung kam, stand Musketier Bielau, ein treuer Kamerad, der mit mir eingetreten war, vor mir. „Zu welchem Regiment kommst Du, 92er?“ – „Ja, und Du?“ – „78er!“, und so fädelte sich ein Gespräch zwischen uns beiden ein, dass eigentlich das uns Bevorstehende gar keine Rolle mehr spielte. Noch einmal wanderten wir unsere Wege zurück, zurück bis ins Münsterlager, bis in die Stube 28 im B.K. Hildesheim, und dann mussten wir uns trennen. Unter warmen Händedruck wünschten wir uns ein gegen- und beiderseitiges herzliches Lebewohl. Und dann ging er fort mit den Worten: „Auf Wiedersehn – hoffentlich – ich glaub´ es nicht!“. Ehe ich ihm antworten konnte, war er verschwunden.

Seine letzten Worte, die er zu mir mit ernster Miene gesprochen hatte, gingen mir noch manchmal durch den Kopf. „Na, alter Schwede, leb wohl, schreib bald mal, und, wenn es geht, immer selbstgezeichnete Karten“, mit diesen Worten und Wünschen reichte mir Kamerad Krüger aus Hameln die Hand, und Gustav Deister, Johannes Kappmeier, Hackfeld und Karl Sander und andere Bekannte schlossen sich den Worten und Wünschen an. „Me´ schrifste aber auk!“ sagte Gustav, und dann liefen alle schnell an ihre Plätze. Erst kam ich mir so recht verlassen vor, aber das kleine Häufchen zeigte besten Kameradschaftsgeist, und wir kamen erst wieder so recht zu Verstande, als auch wir an unsere Plätze mussten.

„Fernsprecher, Blinker, Funker, die zur Infanterie-Nachrichtenabteilung wollen, vortreten!“, sagte ein älterer Unteroffizier, und wir traten mit etwa 12 bis 15 Mann vor. Der Unteroffizier zog sein Notizbuch und notierte uns. Amende, Hackmeister, Heinrich, Freytag, Berkemeyer, Griewing usw.. Dann gings durch den Wald über Feldgeleise, zerfahrene Straßen, Gräben und so fort, bis wir an einer unbelegten Baracke landeten. „INA“ stand an der Vordertür geschrieben, und bedeutet nichts weiter als „Infanterie-Nachrichten-Abteilung“. Hier verbrachten wir eine Nacht und einen Tag. Die Baracke war geräumig und geschützt gebaut. Sie lag unmittelbar an dem nach Betheniville führenden Waldwege, und gegenüber einem abgeholzten Platze. Von diesem Platze aus konnte man den Fesselballon der Division beobachten. Auf dem freien Platze war reger Verkehr: Fuhrparkkolonnen, Infanterie, Artillerie, alles war hier vertreten. Einige Landstürmer suchten Erdbeeren in einem Kochgeschirrdeckel, Infanteristen sammelten Holz usw.. Wir begaben uns bald in unsere Baracke und bereiteten unser Nachtlager vor, das erste im Mühlheimer- und Magdeburger-Lager. Ehe wir uns schlafen legten, kam ein uns fremder Ina-er und machte uns darauf aufmerksam, dass das Lichtanzünden nach eingetretener Dunkelheit streng untersagt sei und in Anbetracht der Fliegerfahren in unserem Interesse liege, auch etwaige Nahrungsmittel sollten wir vor Ratten und Mäusen sichern. „Das ist gut!“, sagte Hackmeister, und wir überlegten mit ihm, wie wir uns gegen diese Viecher sichern konnten. Da es keine Spinde oder sonst geeignete Kisten in dieser Baracke gab, hängten wir unsere Brot- und Wurstvorräte an einem Bindfaden am Dachbalken auf. Dann legten wir uns schlafen. Es mochte halb 9 Uhr sein. Trotz der schlechten Drahtunterlagen, trotz des immer noch regen Verkehrs, schliefen wir alle infolge des anstrengenden Marsches, bald ein. Plötzlich ruft Gustav Freytag entsetzt: „Na, nun aber langsam!“, und ehe jemand gefragt hatte, was los sei, merkten wir, wie die Ratten über uns hinwegliefen. Was machen? – – – – wumm – wum –wum – „Was ist das?“ „Sicher an der Front“, sagten Amende und ich, und dann waren wir alle wieder wach und horchten – – – nichts mehr zu hören. Wir schlafen weiter. Einige Stunden mochten verschlafen sein, als ein Ruck durch die Erde, dem ein Krach nach dem anderen zu folgen schien, uns abermals störte. Flieger waren an der Arbeit. Wir zogen uns unsere dünne, schon gestopfte Schlafdecke über die Ohren und schliefen, nachdem Franzmann abgeladen hatte, wieder ein. Am anderen Morgen schien bereits die Sonne durch die hohen Tannen, als wir erwachten, aber zum Kaffeeholen war´s noch nicht zu spät. Während einer Kaffee holte, ein andere eine Pumpe suchte, bauten wir uns einen Kaffeetisch- Nun waren bald Kaffee und Wasser da, nur die Hauptsache fehlte: das Brot – – da hatte es gehangen – – über unserem Kopfe. Gustav Freytag und ich hatten am besten abgeschnitten. Unsere Sandsäcke und das hineingebundene Brot, welches jetzt kameradschaftlich geteilt wurde, waren zwar auch, aber unerheblich angefressen. Glück im Unglück, dachte ich, und wir tranken unseren lauwarmen Morgenkaffee. Unsere Gedanken waren bald in der Heimat, bald im Juniville-Lager, und nicht selten bei unseren Kameraden da vorne in der Front. Und dann wurden wir gleich nach dem Morgenkaffee, dem letzten im Kriege, zur Schreibstube gerufen: die Personalien wurden festgestellt, und dann erklärte mir der Feldwebel, dass ich zur 5. Kompagnie gehöre und der Nachrichten-Abteilung zugeteilt bliebe! Wir sollten uns bei der Küche melden, die nächste Nacht beim Essenbringen uns mitnehmen würde. Der wiederholt erwähnte Gustav Freytag wurde mir heute – an jenem heißen Maitage – ein treuer Leidensgefährte. Wir teilten unser Brot und unsere Arbeiten und wir freuten uns später jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen.

Der Abend des 16. war allmählich ins fremde Land gezogen, und in zwei Stunden hatten wir uns bei unserer Küche zu melden. Diese beiden Stunden gingen schnell dahin; bald war es 9.00 und bald 10.00 Uhr, und dann gings hinein, hinein in den Schützengraben. –

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Zehn Uhr abends – wir haben uns in der Feldküche pünktlich eingefunden! „Nehmen Sie also diese Leute mit bis zum Regimentsgefechtsstand!“ befahl ein Ina-Feldwebel dem Küchen-Unteroffizier. Letzter bestätigte den Befehl und fügte hinzu, dass alles weitere wohl Leutnant Cramer veranlassen würde. Der Feldwebel nickte, und wir nahmen Gelegenheit, unsere Hacken zusammenzureißen. Dann zogen die Pferde an, die Küche fuhr ab, und wir marschierten hinter ihr her.

Freies Feld, hier und da Bäume, dann sind wir wieder im Walde – die Adolfhöhe – immer weiter geht’s! Die Küche und die acht Hufe singen ein- und dasselbe Lied. Ab und zu glauben wir, Granateneinschläge zu hören. Immer weiter. 1 ¾ Stunden mochten wir jetzt unterwegs sein. Halt dort stehen Leute, eine Zigarette glüht in einer Handhöhle – die Küche hält, und der Krieg ist jetzt nahe. Maschinengewehre knattern. Einer kurzen Vorstellung folgt ein ebenso kurzer Gespräch über dieses und jenes. Hinter uns kramte man den Feldpostsack um – hiiiuuoooou – – wumm… Scheu sahen wir zur Seite, ein Fremder lachte – – – „Etappe“ sagte er, jetzt kommt wieder einer – wir gucken fast alle unwillkürlich hoch – – – viuviuviu – – – „Einer mit Zünder!“ sagte ein Kenner. Dann gingen jene in ihre Unterstände, und uns brachte ein Ina-Unteroffizier weiter nach vorne. „In einer halben Stunde sind wir alle an Ort und Stelle“, sagte unser Führer, und dann gingen wir ab. Unser Weg führte uns bald aus dem hohen Walde in zwei Meter hohes, später allmählich höher werdendes Kieferngehölz, durchmischt von Borken und hohen Tannen; unter unseren Stiefeln und auf freien abgeschossenen Plätzen erkennen wir einen festen Fußweg. „So“, sagte unser Führer, „Freytag“ – bum-bum…bum…bum (der Führer wirft sich nieder, wir bücken uns verlegen…) schuuiii, rat raa…um, räätsch – diese Salve hatte Franzmann etwa 100 Meter vor uns ummittelbar über eine Lichtung führenden Fußweg gesetzt, und wir wussten nicht, wie uns geschah, als wir die Eisen- und Stahlstücke – die Granatsplitter – in der Luft surren hörten. „Also, schnell jetzt. Freytag, Sie bleiben hier, da, etwa 150 Meter im Gebüsch, ist Posten IV, so, nun weiter!“ Schnell wünschten wir uns ein baldiges Wiedersehen, und dann liefen wir über den freien, soeben beschossenen Platz in reichlichen Abständen. „Vorsicht – Graben!“, rief unser Führer. Graben? Dachte ich, und dann wackelte ich auch schon die Böschung hinunter. „Posten III“, wieder wurden wir zwei Kameraden weniger. Warm empfing ein alter Inaer seine jungen Hilfsarbeiter und wanderte mit ihnen die unten erleuchtete Stollentreppe hinunter. Wir gingen weiter, der Laufgraben wird etwas tiefer – – – „Halt!“. „Wir kommen jetzt aus dem Graben und müssen über eine Fahrstraße, den sogenannten Großen Stern – die Straße kann teilweise eingesehen werden und liegt unter MG-Feuer. Wenn ich wieder im Graben bin, kommt der nächste!“ Jetzt waren wir am Waldrande, alles fast still vor uns. In der Ferne rattern M-G (Maschinen-Gewehre!). Zwei waren glücklich aus dem Graben heraus- und in den anderen hineingekommen, und ebenso wir. Noch etwa 200 Schritt, und wir waren beim Posten II angelangt. „So, und Sie kommen nach dem K.T.K., werden auch froh sein, noch 20 Minuten!“. Gott sei dank! Wir sind etwa 350 Meter gegangen. „Vorsicht, Brücke!“. Dann gings wieder weiter durch den Graben; schließlich wurde er etwas niedriger, noch 10 bis 15 Meter, und wir standen an den Abhängen des Pöhlberges. Dann führte uns ein schmaler Weg an einzelnen Stollen bis in den für uns bestimmten. Nachdem man sich von seinem schweren Gepäck freigemacht, mit den wachenden Kameraden einige Worte gewechselt und sich ein Lager zurecht gemacht hatte, war es 2.00 Uhr und Zeit zum Schlafengehen geworden. So begann für mich eine selten ruhige Nacht – die erste und ruhigste an der Front. Ich erwähne dies besonders, weil mir die Zukunft keine ebenso ruhige Nacht wie diese Erleben ließ, solange unsere Ina in Tätigkeit gewesen ist.

Der Morgen des 17. Mai graute. Zum Ausschlafen fehlte mir die Ruhe: ich musste erst mal schauen, wie´s hier draußen aussah. Ich ging also durch einen langen, gut abgestützten Stollengang, sah mir den Eingang zum Stollen genau an, um ihn von den übrigen unterscheiden zu können. Aber die reichlichen Fernleitungen und ein Schildchen, „K.I.K.“, boten hinreichenden Anhalt. Ich stand jetzt vor dem Stolleneingang und schaute, schaute hinter mir die hohen grauen Felsen, vor mir die Schlucht zwischen Pöhl- und Keilberg. Und in der Schlucht: Granatlöcher, Mienenlöcher, Holz, Stricke und anderes Zeug. Drüben am Keilberg liegt – nein, lag einmal das kleine Dörfchen Moronvillers – und wo mag den der Weg sein, der nach M. hier durch die Schlucht führte? Entweder die Karte stimmt nicht, oder… halt, da kommt einer. „Morgen!“ „Morgen. Ach, weißt Du vielleicht, wo Moronvillers liegt?“. Er besann sich anscheinend und fragte, wo das Dings denn liegen könne. Auf meine sich später bestätigende Antwort verneinte er meine Frage und fügte halb lachend hinzu, dass da zwar unsere Front, aber keine Moronvillers sei. Merkwürdig, dachte ich, und wollte auf den nächsten Kameraden warten, als Unteroffizier Haase, den ich in der Nacht kenne gelernt hatte, mich rief, um mit mir eine Leitungspatrouille zu machen, die erste an der Front. Es kam in dieser Stellung selten vor, dass unsere Leitungen zerschossen wurden, und wenn man gerade den richtigen Augenblick erwischt hatte, dann hatte man auch den Krieg einen Augenblick vergessen. Nur wenn Franzmann unruhig wurde, wenn er anfing, seine „Bierfässer“ (schwere Mienen!) auf den sowieso arg beschossenen Pöhlbergrücken zu senden, wenn seine MG-Nester sich bemerkbar machten und seine Artillerie sich anstrengte, die Hauptrolle zu behalten, war´s mit der Strippenflickerei faul. Aber gerade dann gab´s Arbeit für uns.

Die erste Patrouille war allerdings aus solchem Grunde nicht erforderlich, sie diente insbesondere meiner unbedingt notwendigen Informierung, um insbesondere auch während der Nacht alle wesentlichen Punkte auffinden und im erforderlichen Falle Unterschlupf, Verbindung usw. finden zu können. Denn auch hier wie überall an der Front gab es allnächtlich Arbeit, und wer nicht das Gelände kannte, war unter Umständen sein eigener Feind. Auch hätte man in solch einem Falle z.B. eine Taschenlampe nicht verwenden können, da natürlicherweise solche Hilfsgeräte zu den schlimmsten und unabwendbaren Folgen führen können, wenn der Feind einsehen kann. Letztes war hier teilweise der Fall. So lernte ich den Weg von Posten I bis Posten II und die bestehenden Verbindungseinrichtungen bis zur Brigade bzw. bis zum Nachrichtengeschäftszimmer aufs genaueste kennen.

Der Fernsprecher im Kriege hatte große Erfolge zu verzeichnen. In wenigen Minuten oder sogar fast Sekunden war es möglich, sich mit allen möglichen Stäben, Kommandeuren, Abteilungen usw. zu unterhalten, jedoch nicht in der Weise, wie wir es in der Heimat gewohnt sind. Die lange Kriegsdauer brachte Freund und Feind auf neue Ideen, insbesondere natürlich solche, die Gegenmaßnahmen gegen technische Neuerungen darstellten. Eine unserem Kriegsfernsprecher unangenehme Idee verwirklichte der Franzmann mittels eines mir im übrigen nicht näher bekannten Apparates, der es dem Bediener desselben in geeignetem Gelände ermöglichte, unsere Gespräche am Telefon abzuhören – besser: mitzuhören. Als Ver- beziehungsweise Übermittlungsobjekt wurde die Erde – die auch wir benötigten, vom Franzmann benutzt und so durchprobiert, bis man unserem Apparat am nächsten war. Beim bekannt werden dieses neuen und jedenfalls bedeutenden Vorsprunges in der Kriegstechnik wurden daher Gegenmaßregeln ergriffen. Unsere Kompagnieführer mussten künftig ohne Telefon fertigwerden, erst die K.T.K.s (Kampftruppenkommandeure) behielten ihre Stationen, und als Ersatzverbindung zwischen K.T.K. und Kompagnieführer wurde eine Meldehundverbindung geschaffen, ferner standen wir Fernsprecher in besonderen Fällen als „Läufer“ (auch: „Läuferposten“) zur Verfügung. Aber auch in der ganzen Bedienungsweise des Feldfernsprechers trat eine wesentliche Änderung ein, insofern, als jedes Wort durch Zahlen und Nummern durchgesprochen werden musste.

Dieses Verfahren, das übrigens auch bei den Blinkern Verwendung fand, hatte, wie nun einmal jedes Ding in der Welt, Schattenseiten: wenn nämlich ein Decknamenverzeichnis oder ein Schlüsselheft verloren ging oder vom Feinde erobert wurde, war die Fernsprecherei unterbrochen; eine neues Verzeichnis musste herausgegeben und neu eingeführt werden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1918 wurden die Änderungen selten oder gar nicht beachtet, da unsere Division seit dem am 15.7.1918 beginnenden großen Offensive wieder am Bewegungskrieg teilnahm.

Wenn ich nun zum Schluß dieses Themas noch etwas über Fernsprecher selbst sage, so will ich damit zum Ausdruck gebracht haben, dass dieser Soldatenberuf nicht viel schlechter ist, als der des Infanteristen. Wer den Fernsprecherdienst an der Westfront kennt und zugleich sich ein zusammenfassendes Urteil über den Dienst des Infanteristen zu bilden vermag, wird mit mir dahingehend übereinstimmen, dass er lieber im vordersten Graben sitzt und den Angriff abwartet, als Frontfernsprecher zu sein, der nur dann im Stollen sitzt, wenn sein Draht heil ist, und dann nicht im Stollen sitzen kann, wenn der Feind Granaten herüberschickt.

Anders ist es natürlich mit den Fernsprechern hinter dem Kampfgelände. Sie wurden mit Recht beneidet. Morgens, mittags und Abends so ein bisschen „Fernsprechern“, bald hie, bald da nach dem neuesten vom langweiligen Tage fragen und so weiter, das ist ein weit besseres Leben, als im Frieden in der Heimat den Kasernenplatz messen. Aber dann und wann haben auch sie wertvolle – vielleicht auch anstrengende – Dienste geleistet.

Der erste Tag an der Front ging schnell dahin. Die ganze Umgebung bot dem Fremdling so viel Neues, Merkwürdiges und Interessantes, so selten schöne Stimmungen, dass fast Essen und Trinken vergessen werden konnten. Flieger, Fesselballons, Minenwerfer, Geschütze, Signalwerfer, MG-Nester, Feldbahnen, Meldehunde bei der Arbeit, Brieftauben im Fluge zur Division, Drahtverhau, Reiter, Unterstände, Granatlöcher, Stollen usw. usw. . Und wenn uns Franzmann einmal verschonte mit seinen Zweizentnerminen sowie seine Granaten auf einen der unbewohnten und nicht begangenen Hügel des Pöhl- oder Keilberges schickte, wenn ab und zu ein MG-Nest sich bemühte, einen kleinen weißen Dreckhaufen in der bunten Blumenwiese am Großen Stern zu beschießen, dann fühlte man sich wohl, aber…. aber….., schildern kann die böse Seite nicht der berühmteste Schriftsteller, obwohl diese Stellung wohl bis zur später erfolgten Offensive die ruhigste des Regiments war.

Als ich mir diese vorhin aufgezählten Sehenswürdigkeiten soweit und so oft wie möglich angesehen hatte, spendete ihre letzten goldgelben Strahlen die hinter den Hügeln vor Reims untergehende Sonne. Und dann wurde es allmählich kühl, die Nacht brach an. Jetzt wird es draußen auch wieder unruhiger. Artillerie, Minenwerfer und so weiter sind in Tätigkeit, bis auch schließlich unsere Granaten rübergeschickt werden. „Trommelfeuer“, dachte ich, und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten, und stellte mich vor den schweren Zementblock, der eine Schutzwand vor dem Stolleneingang der Offiziere darstellte. Der Pöhlberg dröhnte!

Das Artillerie- und Minenfeuer nahm beiderseits zu. Drei oder vier schwere Minen krepierten jetzt statt über mir auf dem Berge – vor mir in der Schlucht. Ein gewaltiger Luftdruck, ein entsetzliches krachen – Erdstücke fliegen in der Luft herum, schrecklich – schnell in den sicheren Stollen.

Haase steht am Apparat! . „tuuuut….tu….tuuut.“- „Hallo? … Schweinerei, Leitung kaputt!“ – „Hier ist Draht, und nun schnell los! Diese Leitung ist´s. Ja, festhalten!“. Ich verlor den Draht nicht aus der hand. Das Feuer nimmt ab. Wir waren jetzt im Graben, und ich fragte, was die Schießerei zu bedeuten habe: „Ein Feuerüberfall… kommt fast alles Tage vor!“. Wie mochte sich dann wohl so ein Trommelfeuer anhören, und wie sollte man dann durchkommen können – wie oft mochte dann eine Störung in der Leitung vorkommen? – ach, nicht daran denken… halt, da sprachen doch eben…. „Vorsichtig, Brücke.“ – „N´Abend.“ – ein Meldeläufer drängt sich an uns vorbei – Haase probiert jetzt die Leitung: lang-kurz-lang- – – „Ja, in Ordnung – Leitungspatroille!“. Wir kehren also wieder um. Es war inzwischen dunkel geworden. Als ich wieder im Stollen angelangt war, schieb ich meine ersten Karten und Briefe aus der Front an die Heimat, bis gegen halb eins die Küche auftauchte und wir unser Essen vom großen Stern holen mussten. Schnell werden die Kochgeschirre gesammelt; wir wechseln uns mit dem Essenholen vernünftigerweise ab. Draußen herrscht bis auf einige kleine Plänkeleien Ruhe. Wir sind jetzt im Laufgraben. Da – eine grüne – nein, weiße Leuchtkugel! Hat nichts zu bedeuten! Franzmann schickt einige „Mittlere in die Nähe des Cäsarwaldes; hei, wie die Funken… zsching – zsching – pätsch – – – – „Junge,… Kopf runter!“… „Vorsicht, bücken!“…. nach einer Weile kommen wir beim Posten II an, und mir wollte es immer noch nicht so recht in den Kopf, dies zsching-pätsch! „Blaue Bohnen!“ hatte doch der da, der die Post durchsieht, der Gefreite, gesagt; jetzt kommt er die Stollentreppe herauf: „Für Dich!“ sagt er und überreicht mir zwei Briefe und eine Karte. Die nach Verteilung übriggebliebenen Briefe und Karten gehörten also der restlichen K.T.K.-Besatzung. Wir hatten unsere Kübel mit Essen (Erbsen mit Büchsenfleisch) gefüllt und traten den Rückmarsch an. Da bemerkte ich zum ersten Mal einen sogenannten Leuchtposten. Grauenhaft, dachte ich, als der kleine Mann sich mir bemerkbar machte. Wie aus Eisen und Stahl stand er da. In seinem kleinen, schmalen Gesicht funkelten ein paar listige Augen, in seiner Rechten hielt er anscheinend einen Revolver, und – auch das sah ich noch – trug einen Brustpanzer, gefährlich sah er aus.

Gleich beim Eintritt in den Stollen wurde die Feldpost hervorgeholt. Es gab wieder allerlei Neues: Paul Müller-Hoya war jetzt auch ins Feld gekommen – zuhause war alles munter – ein kleines Paket sei für mich unterwegs, in Pyrmont sei wieder der Kurbetrieb aufgenommen und so weiter. Dann schnell essen, und – wenn’s so ruhig bleibt – schlafen, die Nacht ist halb herum, wer weiß, was uns die nächsten Stunden bis zum Tagwerden bringen?

Gegen 4 Uhr vormittags wurde es unruhiger, zeitweise derart, dass man ein leises Dröhnen unserer Stollen beobachten konnte, etwa 20 Minuten später war alles wieder still. Unsere Leitung war ungestört geblieben. Am anderen Tage sollte ich nach Posten II.

Beim Posten II angelangt. Unteroffizier Danjes empfängt ich. „Bringen Sie ihr Gepäck nur unten in den Stollen, Sie können dann das freigewordene Bett beziehen!“ – Ich seufzte unwillkürlich. Das war also die ganze Ablösung. Also hinein in den Stollen. Ein herzliches „Wiedersehen“ trennte mich von meinen weiterziehenden Kameraden. Der Stollen war gut, achtzehn Stufen, zwei Ausgänge, ein Unteroffizier und 6 Mann: die ganze Besatzung. Aber auch die Umgebung war schön.

Mein Lager, wie gewöhnlich (Hindenburg-Matratze) hatte ich mir eingerichtet. Hier gefiel´s mir auch sonst gut. Oben war alles in bester Ordnung; Franzmann schoß längst nicht mehr auf die nahe Wegekreuzung (Grosser Stern!) und im übrigen schien es mir, als dürfe man sich hier viel sicherer fühlen. Aber ich hatte mich geirrt. Als ich mit in der Nacht vom 19. zum 20. 5. ausgeschlafen und meinen in der Nacht empfangenen, kalt gewordenen Kaffee getrunken hatte, wurde mir durch Unteroffizier Danjes Instruktion erteilt. Ich fragte noch so einiges Wichtiges, dann wandte ich mich mit allerlei Fragen an den Posten, mit dem ich mich lange unterhielt, und den ich ablösen sollte. Jetzt schaute ich mir erst einmal den Brustpanzer genauer an, den ich neulich schon einmal zufällig gesehen hatte, weil mir hier im Graben eine kleine Treppe aufgefallen war. Eine halbe Stunde später stand ich auf Posten; Karabiner umgehängt, Stahlhelm, Gasmaske und Pistole am rechten Fleck. Mein Vorgänger markiert den Laufposten. Ich sehe mir die Umgebung an; es ist viel wert, wenn man – – bum, bum, bum und so vier Mal hintereinander „siiii….Krach-krakrach-Kraach in den nahen Wald, – wieder eine Salve – mitten auf den Weg – „Großer Stern“ – noch eine: oben in die nähe der bekannten Waldlichtung, dann ist alles wieder in Ordnung. Vorne rasseln einige Maschinengewehre. Gewiss war es viel wert, wenn man das Gelände kannte.

Meine beiden Leuchtpostenstunden gingen dahin, ohne, dass etwas passierte. Dann übernahm ich den Läuferposten, der im Durchschnitt mehr Arbeit verursachte, als der Leuchtposten; außerdem war es ein nicht gerade angenehmer Dienst.

Sechs Uhr morgens. Der Nebel beginnt zu verschwinden. Wasserholen! Ein zehnminütiger Weg, links am großen Stern vorbei in der Wiese. Schnell die langen Stiefel an, den Rollmopstopf und den verrosteten Stahlhelm her, noch einige Kochgeschirre und dann los; jetzt kann man uns nichts sehen. Im nächsten Augenblick laufen wir durch die feuchte Wiese – „mehr links“ ruft mein Hintermann, und dann erkenne ich vor mir einen kleinen Hügel: hier musste es sein, das Wasser. Eine Pumpe sogar, furchtbar dreckiges, weißgraues Wasser – da… ein alter Stiefel liegt in dem Sumpf…! Wir pumpen noch immer: „Jetzt geht´s aber“, meinte einer, und wir füllten schnell unsere Behälter, horchten und liefen wieder zurück. Nichts passiert. Ein Paar frische Granatlöcher gesehen! Jetzt begann Unteroffizier Danjes, der soeben festgestellt hatte, dass die Leitung wieder in Ordnung sei, sich zu waschen. Er war mit einem nicht gerade angenehmen Ausschlag behaftet und brauchte natürlich recht viel Wasser, was zur Folge hatte, dass wir uns einmal die Woche weniger waschen konnten. Wenn er sich dann seine Füße gewaschen hatte, sonnte er sich. Später erfuhr ich, dass der arme Danjes, der überhaupt diese Unruhen nicht gut zu vertragen schien, wegen seiner Krankheit nach Deutschland gekommen sei.

Was sich in der vorher geschilderten Nacht zugetragen hatte, wiederholte sich am 1. Pfingsttage. Wir hatten uns schon alles schön ausgedacht, hatten in aller Frühe grüne Zweige geholt und unsere Stolleneingänge geschmückt, aber Franzmann zeigte sich unerbittlich. Fliegende „Bierfässer“ waren in hässlichen Mengen zu zählen. Ein selten miserables Pfingstfest, dazu Brennnesseln und Kartoffeln. Ein Paket war auch für mich angekommen. „Ach so, der bereits angekündigte Schinken, wenigstens etwas Gutes“, dachte ich, und öffnete das arg mitgenommene Paketchen, um den Schinken zum Pfingstessen mitessen zu können. Aber… was ist denn… Schinken? Strümpfe sind´s! Der ganze Posten II lachte, und es schien mir fast, als lachten auch die Stollenbretter, die Hindenburgmatratzen mit. Es blieb also so: Brennnesseln mit Kartoffeln. Danjes probierte den Fernsprecher und meinte dann, dass wir uns schlafen lesen wollten, es sei alles in Ordnung. Gesagt – getan!

Der 2. Pfingsttag verlief in der gewohnten Art und Weise. In den nächsten Tagen sollten einige Inaer abgelöst werden. Schade – vielleicht! …

Der 22. Mai! Wieder ein herrlicher Tag! Soeben macht sich die Sonne bemerkbar. An unserer Front ist´s verhältnismäßig ruhig, nur im linken Nachbarabschnitt ist was los. Den Neben im Tal – beim großen Stern – hat die Sonne bald aufgesogen, und wieder blühen die vielen Millionen Blumen, die Marien-, Gänse-, Margarethenblumen. Krieg? – ausgeschlossen; eine Waffen- oder Kunstpause! Das kleine Trommelfeuer im Nachbarabschnitt lässt nach, es nimmt schnell ab, jetzt ist alles vor… bum-bummm-bum….schiiuuuoooo.
Warum? Da, wieder eine Salve; na, Franzmann wird bald antworten. Und er antwortete, als wir abgelöst werden sollten. Abgelöst… ein leises, ganz leises „Schade“, vermischt mit einem ebenso leisen „Gott sei Dank!“ verlockte diese Nachricht dem Munde. Ablösung! Sehr angenehm, aber gerade jetzt, wo er wieder den Pöhlberg und den großen Stern beschießt, gerade jetzt, wo man einige gute Kameraden gefunden hat? Wohin wohl?

Also: Gepäck packen und dann los. Krieg ist überall! Nach einer Viertelstunde waren wir auf dem Wege nach hinten. Vom 22. bis zum 27.5. waren wir im Magdeburger Lager in Betheniville in Ruhe bzw. Alarmbereitschaft. Es waren herrliche Stunden im Lager, im frischen, grünen Wald.

Am 27.5. gings also wieder nach vorne, aber nicht wieder nach Posten I beim K.T.K., sondern in die rechten Abschnitte der 107. Division nach dem sogenannten rechten K.T.K. (K.T.K.-r.). Hier verblieb ich mit meinem Kameraden Haase bis zum 30.5. Schön fand ich die ganzen drei Tage lang gar nichts. Franzmann musste es auf unseren Draht abgesehen haben. Aber etwas sehr erfreuliches ist mir hier in dieser neuen Stellung passiert. Ich stand – wie gewöhnlich – oben im Graben vor unserer sogenannten „Sommervilla“ und war nicht wenig überrascht, als ich in dem etwa zehn Schritt an mir vorbeigehenden Landstürmer, der sichtlich an einer mit Selterswasserflaschen gefüllten Kiste schleppte, einen lieben Landsmann – ja, einen weitläufigen Verwandten – Daniel Hundertmark erkannte. Als ich ihn anrief und er mich näherkommen sah, setzte er schleunigst seine Kiste ab und fragte erstaunt, wer ich denn eigentlich sei, er kannte mich nicht wieder. Als ich mich aber vorgestellt hatte, war die Freude groß. Nachdem er sich mein idyllisches Heim und meine Steinhauerarbeiten angesehen hatte und sich dabei von dem schweren Tragen in der entsetzlichen Sonnenglut erholt hatte, lud er mich ein zum Glase Bier und sorgte dafür, dass ich mir in den nächsten Tagen keine Zigaretten zu kaufen brauchte. Er leitete die Kantine, und so war ich in der angenehmen Lage, mich mit allen möglichen Sachen wieder aufzufrischen. Es war ein Tag, ein Wiedersehen – unbeschreiblich! Da wir hier zur Reserve der Nachberinfanteriedivision gar nicht verlassen. Infolgedessen hatte ich Gelegenheit, Daniel im nahen Gehölz aufzusuchen, was mir jedoch nur einmal möglich war, da unser weiteres Verbleiben sich infolge günstig ausgefallener Angriffe unserer Vizedivision erübrigt hatte. Bevor wir wieder fort gingen, schrieb ich schnell einige Zeilen an alle Verwandten und nach Hause. Wie hatte Daniel doch gesagt: „Dat schreef awer mal gleeik deeinen Aulen kenn; eck will auk noch scheeiben!“. Dann rüsteten wir zum Abmarsch. Als die Sonne unterging, waren wir wieder im Magdeburgerlager und der Ina neu zugeteilt. Noch am selben Tage ging´s wieder in Stellung.

Nach etwa dreistündigem Marsche langten wir am Spätnachmittag des 30. Mai beim K.T.K.-r. „Alberthöhe“ an. Es war ein entsetzlich langer und anstrengender Marsch gewesen. Die Sonne hate es wieder einmal gut gemeint und dafür gesorgt, dass unsere Läuse sich wieder in reichlichen Schweißbächen baden konnten. Nun waren wir wieder in einem ganz anderen Gelände, hoch oben am Hochberg. Da waren also wieder ein paar mächtige Stollen, 18 Stufen der eine, 20 der andere, und dort: „Leuchtposten“ – gerade nicht das allerschlechteste, und etwas weiter ein „richtiges“ Klosett. „Interessant“, dachte ich, und wollte, wie die anderen mit mir gekommenen Kameraden, gerade mein mir lästig gewordenes Gepäck im rechten Stollen unterbringen, als mir über dem Grabenrande noch etwas auffällt: eine Antenne. Dann versuche ich die halbdunkle Stollentreppe heil hinunter zu kommen. Unten waren die Funker am Feldofen zusammen, um sich ihren letzten Kaffee aufzuwärmen, und der alte rohrlose Feldofen qualmte derart, dass man auf den ersten bis mittleren Stufen sich wohl oder übel auf sein eigenes Gefühl verlassen musste. Ich hatte aber glück und kam gut unten an. In einem kleinen ausgebauten Loch saß der Funker an seinem Apparat, ohne mich beim Vorübergehen zum nächsten Loch zu bemerken. Er hatte ja auch Deinst und hätte mich sowieso nicht hören können, weil seine Ohren durch den Apparat in Anspruch genommen wurden. Im nächsten Raum war ich also zuhause. Rechts im Vordergrunde stand ein Tisch, darauf der Telefonapparat mit einem kleinen Hörer, dann sah ich eine kleine Bank, einen kräftigen Nagel in der Felswand und daran einen Sandsack mit trocknem Brot. Auf dem einen Tischbrett war eine Kerze, und in entgegengesetzter Richtung eine selbstgefertigte Karbidlampe aufgestellt. Im Hintergrunde haben unsere „Vorfahren“ ein Nachtlager errichtet, fast wie eine vorgeschriebene Hindenburgmatratze. Das war also die Inneneinrichtung. Unteroffizier Haase hatte die Leitungsaufsicht, und wir einigten uns hinsichtlich des beginnenden Nachtdienstes dahin, dass Haase bis Mitternacht und ich von Mitternacht bis Sonnenaufgang – das heißt bis sechs Uhr morgens – Dienst machten. Unsere Leitung lag fast 600 m nach hinten im Laufgraben, und wenn einmal etwas an ihr passiert war, dann kamen in erster Linie die Artilleristen, die uns gerne ein gutes Stückchen Draht aus unserer schönen Leitung schnitten, in Verdacht, und dann kam die Infanterie, die unseren Draht deshalb nicht leiden konnte und ihn gern durchschnitt, weil sie beim Essenholen in dunkler Nacht nicht selten und infolge ihres wertvollen Transports mit einem besonderen Nachteil darüber stolperten und… fielen. Wer dann gerade einen gutschließenden Essensbehälter trug, durfte auch ruhig mal in ein Granatloch fallen, aber – aber – –

Insofern hatten wir ja zuweilen Ärger, aber dieser Ärger wurde dadurch wieder gutgemacht, dass die Leitung nicht selten durch feindliches Feuer beschädigt wurde. Aber diese Nachtwachen und die Instandhaltung der Leitungen waren nicht die ganze Arbeit, sondern etwas weiteres kam hinzu: Essenholen, ferner Wasserholen, Umlegung der Leitungen aus Zweckmäßigkeitsggründen und so weiter. Vom Essenholen gibt´s viel und doch wenig zu berichten. Es würde zu weit führen, wollte ich hier von einzelnen Fällen erzählen und sie eingehend darzustellen versuchen. Damit ist natürlich nicht dargetan, dass das Essenholen zu den Kleinigkeiten des Krieges gehört hat, im Gegenteil: es war für den Frontkämpfer zuweilen ein Wagnis, durch feindliches Feuer hindurch den meist langen Weg in dunkler Nacht anzutreten und die empfangenen Speisen ebenso wieder an die richtige Adresse zu bringen. Außerdem kam es nicht selten vor, dass hie und da Verluste eintraten, die auf plötzliche feindliche Überfälle zurückgeführt wurden. Ähnlich war es mit dem Wasserholen, und ich bemerke zu diesem Punkte besonders, dass es in en nächsten Umgebungen des Pöhl-, Hoch- und Keilberges irgendwelche natürliche oder auch künstliche Wasseranlagen nicht gab. Erst nach Eroberung des vorgenannten Geländes sind solche errichtet.

Eine weitere Arbeit war das Umlegen von Telefonanlagen. In diesem bereits erwähnten Abschnitt kam es einmal vor, dass eine Erdleitung aus Zweckmäßigkeitsgründen in eine Luftleitung umgewandelt werden musste. Es war am 7.6.18. Ein heißer, klarer Tag. Feindliche Flieger überflogen den ganzen Abschnitt, ohne jedoch die Artillerie zu Beschießungen zu veranlassen. Wir standen in der Nähe des San. Unterstandes und bauten die neue Leitung. Drüben sahen wir den französischen Fesselballon und mussten ununterbrochen damit rechnen, dass unsere Arbeit, die durch den ausgetrockneten Regen sehr erschwert wurde, jeden Augenblick mit uns zusammengeschossen werden konnte, aber es passierte nichts. Nur auf dem Rückwege zum Stollen setzte uns Franzmann einige 10er vor den graben, dass uns augenblicklich Hören und Sehen verging. Im graben beim K.T.K. angelangt, waren auch die Funker dabei, ihre Antenne, die zerschossen zu sein schien, zu flicken. Gott sei dank, wir waren mit unserem Dienst auf freiem Felde ja glücklich fertig, wenn’s nötig wurde: einen guten Sprung, und ich war im Stollen. Ehe ich aber in den sowieso nicht gerade die Gesundheit fördernden Stollen stieg, benutzte ich die Gelegenheit, den nahen, modernen Abort, der übrigens fast vom Drahtverhau eingeschlossen war, zu benutzten, und hernach mich im Grase breit zu machen.

Gegen 10 Uhr gehe ich nach hinten zur Kantine in der Reservestellung, um mir Zigaretten zu kaufen. Gegen 11.30 Uhr bin ich wieder im Stollen. Ich übernahm wieder die Bedienung des Telefonapparats und war damit beschäftigt, meine Tagebuchskizzen zu vervollständigen, als nach einigen den ganzen Stollen durchzitternden Einschlägen jemand die Treppe herunterstolpert. Unteroffizier Haase und ein Funker hatten ihn in Empfang genommen, weil man in diesem Augenblick erwarten durfte, dass wohl etwas passiert sei. Es war aber uns Offz.Stellv.St., der Haase um meine Begleitung zum Kantinenwirt gebeten hatte, obwohl man es St. Ansehen konnte, dass es besser war, wenn er den Kantinenwirt heute Nacht nicht mehr sah. Wohl oder übel musste ich also schon wieder einmal den entsetzlichen Weg mitmachen, den ich bereits zwei Mal gemacht hatte, weil kein anderer Kamerad zur Zeit zur Verfügung stand. Die Ordonanzen waren seit halb 12 unterwegs zum Essensempfang am Fuße der Alberthöhe. Es war jetzt gut 12.30 Uhr. Also schnell umschnallen, Gasmaske umgehängt und – ach so – unbedingt Stahlhelm und Karabiner – und dann los. „Rauchen Sie, Henne?!“ – „hier“, er bot mir eine Zigarette an, die ich nahm, dann gingen wir die Stollentreppe hinauf. „Hier ist Feuer!“ – „Nein danke, rauche hier draußen nicht.“ – „Wir gehen gleich über´s Geld, um Graben ist´s doch so eng und weitläufig!“ „Das geht nicht, oben ist alles voll von Drahtverhauen und Granatlöchern, teilweise liegt das Gelände unter MG-Feuer und Artillerie!“ – „Egal, wir müssen durch!“, und er versuchte, aus dem hohen Graben zu klettern. An einer anderen Stelle gelang es ihm, und wir liefen ohne Deckung und fast ohne Richtung drauflos. „Mehr links!“ empfahl ich, da ich uns schon jeden Augenblick im Drahtverhau hängen sah, aber St. ließ sich nicht bewegen. Pardauz, da lag er: in einem Granatloch. Abwechselndes Stöhnen begleitet seine Worte: „Wo ist mein Stahlhelm geblieben?“. Ehe St. Licht machen konnte, hatte ich ihn wiedergefunden, half ihn, sich aufzurichten und schlug vor, den verlassenen Laufgraben zu suchen. Wir gingen stark links weiter und, da St. die Richtung verloren bzw. vergessen zu haben schien, erreichten wir bald den Graben, hatten uns aber vorher noch im Drahtverhau verlaufen. Dieser Drahtverhau hätte und ins größte Unglück bringen können, wenn wir uns nicht sofort wieder mittels einer kleinen Drahtschere von ihm hätten befreien können. Denn etwa 5 Minuten später lag das verlassene Gelände unter gefährlichstem Artilleriefeuer. Es mochte nun etwa 1.00 Uhr sein, und ich stellte an einigen mir bekannten Grabenteilen fest, dass wir uns zwar im richtigen Graben, aber noch in unmittelbarer Nähe unseres Ausgangspunktes befinden mussten. Eine Uhr besaß ich nicht; meine erste hatte ich in Lamouillie, die zweite erst kürzlich verloren. Als wir endlich in der Kantine ankamen, war es fast 2.00 Uhr. Schnell trank ich mein Glas Bier und trat den Rückweg an. St. War anscheinend wieder nüchtern geworden, denn er machte sogar Miene, als sei es unkorrekt, in solch später Stunde noch den Biertisch aufzusuchen – dazu in solch einem Anzug. Dass uns niemand fragte, ob wir eben einen Sturmangriff mitgemacht hätten, wunderte mich sehr. Es blieb nicht aus, dass man über ein kleines Hindernis stolperte, an einem Leitungspfahl hängen blieb oder auch mit der – wenn auch trockenen, aber nicht sauberen – Grabenwand in Berührung kam. So auch auf meinem angetretenen Rückwege. Die Sterne schienen zu verschwinden, und es wurde merklich dunkler. Jetzt musste der Graben links gleich kommen – – – er kam nicht. Ich ging weiter – immer noch nicht. Ich schaue in einem ruhigen Augenblick über Deckung – merkwürdig, ich bin ja schon oben auf dem Berge, – Pfähle oder abgeschossene Bäume, noch nie hier gesehen! „Wer ist da?!“ – Ich antworte, ein feindliches MG beginnt das Gelände abzusuchen, inzwischen hatte ich meinen Bescheid erhalten – kurz, aber deutlich. Ich müsste etwa 300 m zurück, dann rechts etwa 50 m, wäre ich weitergelaufen, hätte mich Franzmann in Empfang genommen. Dies konnte ich denn erst begreifen, als ich tatsächlich den richtigen Graben wiedergefunden hatte und mir ein Bild machen konnte, wie viel ich zu weit gelaufen war.

In jener Nacht schlief ich noch drei Stunden, um dann den müden Haase abzulösen.

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Teil drei

 

Am 15.6. war ich im Ruhelager bei Betheniville gewesen, um mir ein schlechtes Hemd gegen ein gutes einzutauschen. Neues gab es hinten nicht. Vorne war es schon morgens bei meinem Fortgehen unruhig, und je näher ich der Front kam, desto unruhiger wurde es. Da ich rechtzeitig den Rückweg angetreten hatte, bot sich mir – insbesondere, da ich allein war – eine günstige Gelegenheit, die nähere Umgebung des Kampfplatzes zu besichtigen. Wiese, Wald und Feld wechseln sich hier in der Champagne ab, jede Landschaft für sich hat etwas frisches, buntes an sich. Wenn man die Suippes überschritten hat, kann man fast bis St. Souplet sehen. Landschaftlich ist dieses land sehr schön. Wuchtige Wiesentäler umrahmen die zahlreichen kleinen Wäldchen, in denen wir in jenen Wochen Schutz und Schatten suchten. Tannen, ichten und Buchen, hie und da auch einmal eine Birke stehen meist wild durcheinander. Wege führen wenig oder gar nicht durch die kleinen Wäldchen, dagegen findet man durchweg in jedem Walde eine Lichtung, die von unseren Schipp-Soldaten geräumt wurde und den Weg ersetzte.

 

Fast volle zwei Stunden habe ich das Gelände durchstreift, um dann schleunigst wieder in Stellung zurückzukehren. Das Feuer hatte in der Zwischenzeit wesentlich zugenommen, und ich überlegte schon, wo ich unter Umstände bleiben könnte, falls an ein Durchkommen nicht mehr zu denken war. Ich kam aber bald in die Nähe unseres Regimentsgefechtsstandes und stellte mit besonderem Behagen fest, dass noch alles in bester Ordnung war. Nur im rechten und linken Nachbarabschnitt trommelte Franzmann. Ich konnte wegen des Pumpenwäldchens nur noch nicht übersehen, ob der Laufgraben frei war und ich überhaupt Zugang zu diesem Graben hatte. Aber dennoch wählte ich diesen Weg, da er sicherer und auch nicht weitläufiger war. Als ich den Pumpenwald hinter mir hatte, sah ich, dass der Graben selbst wenig oder gar nicht unter Feuer lag, auf meinem weiteren Wege zu K.T.K.r. wurde ich nur einmal durch eine heftige Granatensalve überrascht, kam aber wohlbehalten wieder im Stollen an. Nur etwas Hochinteressantes erlebte ich auf meinem Heimwege im Graben: Franzmann beschoss plötzlich die Reserve- und Artilleriestellungen, fast das ganze Hintergelände, mit Gas. Dieses Ereignis zu schildern ist, wie so manches im Kriege, nicht nur eine Kunst, sondern etwas Unmögliches Das Interessante ergibt sich zum größten Teile schon daraus, dass man den Abschuss der Gasgranaten wohl hören konnte, aber nicht den Einschlag. Denn bekanntlich puffen Gasgranaten nur, während alle anderen krachen Den Gasgranateneinschlag kann man indessen nur soweit hören, als man sehen kann (d.h. den Einschlag beobachten kann.).

 

So bringt jeder Tag im Kriege etwas Neues!

 

 

Wie überall im Felde, so hatte ich auch in dieser Stellung mit dem Zeichnen nicht nachgelassen. In meinem Stollenstübchen überm Tisch waren allerlei Blei- und Farbstiftzeichnungen von mir aufgehängt, und bei jedem Besuch wurden sie von den Fremdlingen erst besichtigt. Gerade in dieser Stellung war mir Gelegenheit zum Zeichnen geboten, und dass ich gerade dieses Nebengeschäft betrieb, sollte mir, wie ich bald erfuhr, nicht nachteilig sein. Eines Tages revidierte ich die Leitung von Punkt 70 ab bis in die Nähe des Wäldchens, in dem unsere Pumpe steht. Ich schloss mich wiederholt an die Leitung (mittels eines kleinen Hörers) und stellte immer fest, dass ich eine Antwort nur von Haase bekam. Es war also etwas nicht in Ordnung, denn auf meinen Anruf mussten sich beide T.-Stellen melden. Ehe ich den nächsten Posten erreicht hatte, stellte ich fest, dass der Draht gerade an einer Stelle durchschnitten war, die oft unter feindlichem Artilleriefeuer lag. Ich suchte vergeblich nach dem anderen Ende. Oben, auf freiem Gelände, zu suchen, war ein Wagnis, und ich versuchte deshalb, das fehlende Anschlußende im Graben zu finden. Es erscheint ja fast unglaublich, aber es war so: die Artilleristen hatten uns ein beträchtliches Ende Draht gestohlen, und dummerweise den Rest des Drahtes an ihre eigene Leitung wieder angeschlossen. Wenn also Posten 70 anrief, musste sich eigentlich der Artilleriekommandeur melden. Ich war natürlich neugierig, hielt meine Aufgabe auch allein deshalb für erledigt, weil P90 bereits die Lücke auszufüllen beabsichtigte, und ging wieder zurück.

 

Als ich den Blenden nähergekommen war, setzte mir Franzmann einige 10er in den Weg; aus der einen Grabenwand war infolge eines Volltreffers ein 3 Meter langes Stück Draht herausgerissen worden, zwei weitere Funkleitungen schienen gestört zu sein. Da mein mitgenommener Draht noch nicht ausgereicht hätte, lief ich schnell zum Stollen zurück. „Was ist bloß mit der Leitung los?“ meinte Hasse, „Ich rufe an, dann melden sich Infanterie und Artilleriekommandeur; ich bin wiederholt angerufen, aber immer von einer fremden Stelle. Lt. Kramer war auch hier, er hat sich die Zeichnungen angesehen und wollte mir etwas bestellen, er wollte dann aber doch lieber wieder anrufen.“ Ich stutzte zwar, hatte aber nichts verbrochen. „Was machen wir nur mit der verfluchten Leitung?“. Ich berichtete. „Tuuuut-tut-tuuuut-„ – „Aha, jetzt kommen sie!“ – „70?“ – „Ob alles in Ordnung ist?“ – „Ihr habt – – jetzt sind sie wieder weg!“. Wer, fragte ich. „Die Artilleristen!“ – „Wie müssen wohl – – es summt wieder!“ – „Ja, sofort, Schluss!“ – „Die Leitung muss bis zu den Blenden nachgesehen werden, ich gehe mit, ein Funker kann auf den Apparat achten!“. Der Funker war informiert, wir gingen. Nach einer 3/4stündigen Arbeit war alles wieder in Ordnung.

 

Nach unserer Rückkehr hatte ich den Funkern Gesellschaft geleistet, war dann oben im Graben auf und ab gegangen, um die etwas angenehmere Luft noch ein Bisschen zu genießen. Es war eigentlich in letzter Zeit hier auffallend unruhig geworden. Unseren Graben hatte er fast noch gar nicht beschossen, noch nie so ernstlich wie heute Nachmittag. Augenblicklich war´s auch wieder still. Feindliche Flieger überfliegen wieder das ganze Kampfgelände, da hinten wird ein Fesselballon eingezogen. Es will Abend werden. Hundeführer… ein wohlgenährt aussehender Hamburger, steht mit seinem allgemein beliebten Meldehund am linken Solleneingang und genießt die herrliche Abendluft. Wir unterhalten uns über allerlei Kleinigkeiten und ehe wir auch nur das Geringste von feindlichen Absichten bemerken, werden wir, beim Einschlagen fünf schwerer Granaten, lang in den Graben geworfen. Bloß vom unbeschreiblichen Schreck stürzen wir uns auf den Stolleneingang, und ehe wir uns bemühen konnten, hinunter zu kommen, waren wir von einer zweiten Salve überrascht und fast unten im Stollen. „Schweinerei, was?“ …nickte und wartete etwa 2 Minuten, um dann seinem treuen Hund zu pfeifen.

 

Während er sich mit seinem Hund beschäftigte, legte ich mich etwas schlafen, um Haase bald ablösen zu können. Um elf Uhr saß ich wieder am Apparat. Es kam nichts besonderes vor. Der Funker nahm um 12 Uhr den deutschen Heeresbericht auf. Hier und da war wieder was los gewesen, sonst das alte Lied. 2 Uhr nachts kam Franzmann´s Heeresbericht. Er gestand auch einmal Verluste ein, im ganzen aber genommen, siegte er. Lt. Kramer hatte heute – 18.6. – nicht mehr angerufen.

 

 

Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“

 

Wilhelm Busch.

 

 

Als ich am Morgen des 19.6. erwachte, hatte Leutnant Kramer angerufen und befohlen, dass ich mich am 20.6. vormittags um 8.00 Uhr bei ihm mit meinem gesamten Gepäck vorzustellen habe; für einen Ersatzmann sei gesorgt. Dies kann interessant werden, dachte ich, und beschloss, mit Unteroffizier Haase bereits Nachmittags zum Gefechtsstand zu gehen, um am anderen Morgen auch rechtzeitig zur Stelle zu sein. An diesem Tage hatte ich meinen Kopf voll und kann daher wenig von Erlebnissen sprechen. Mein Weg zum Gefechtsstand vollzog sich bei größter Waffenruhe, und wohlbehalten traf ich in einem neuen, mir von außen bereits bekannten Heim ein. Hier war mir bald von guten Kameraden ein Lager geräumt, und im übrigen fühlte ich mich hier auch ganz wohl. Nur den eigenartigen Befehl konnte ich noch nicht verstehen. Naja, morgen musste ich ja alles gewahr werden. Unser Gefechtsstand war sehr schön angelegt. Er lag in einem hohen Tannenwalde an der Cäsar-Höhe. Eine Funkzentrale, Blinkstation, Meldehund- und Brieftaubenverbindungen, Scherenfernrohr, kurz alles, was zur Nachrichtenabteilung gehörte, war hier vertreten. Hier konnte man sich freier bewegen, hier fühlte man sich wieder als Mensch statt als Soldat.

 

Bevor ich mich schlafen legte, schrieb ich noch einige Zeilen in die Heimat und teilte meine veränderte Adresse mit. Dann empfing ich mein Essen, etwas Post und ein Paket mit Rotwurst. Im Nachbarabschnitt war „dicke Luft“. Seit Tagen Trommelfeuer und erfolgreiche Angriffe unsererseits.

 

 

Mit besonderer Genugtuung stellte ich am frühen Morgen des 20.6. fest, dass ich hier versuchsweise bis zum 1.7. mit dringenden zeichnerischen Arbeiten beschäftigt werden solle. Erst wusste ich nicht, wie mir geschah, denn dazu hätte man doch auch einen älteren Soldaten heranziehen können, aber später war ich auch gar nicht böse darum. In zwei Stunden stand ich also vor Lt. Kramer, der nach einigen Fragen das bestimmte, was mir bereits bekannt war. Ich erhielt meine ersten Arbeiten und einen geräumten Tisch mit den verschiedensten Ausziehtuschen, Zirkeln, Blei- und Buntstiften usw. und konnte beginnen, wie einst im schönen Gorcy. „Diese Stellungskarten sind streng geheim zu halten; bei drohender Gefahr sind sie sofort zu vernichten!“ sagte er mir zum Schluss und gab mir auf, zunächst das gesamte Nachrichtenmittelnetz in die Karten zu zeichnen. So hatte ich in den ersten Tagen viel Arbeit. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht saß ich an meinem Tisch und zeichnete. Später musste ich aber des öfteren aussetzen und diese „freien Stunden“ waren die schönsten, die ich in der Champagne verlebte. Ich besuchte meine Kameraden in der nahen Blinkstation, Berkemeier, Griewing, Hachmeister, pflückte, wenn Franzmann nicht schoss, Erdbeeren am Rande der Granatlöcher und durchwanderte die ganze Umgebung, die ganze Cäsar-Höhe.

 

Am 23.6. (Sonntag) hatte ich wieder vollauf zu tun. Vier Schildchen mussten noch gemalt und an wichtigen Stellen angebracht werden. Als ich gegen Nachmittag damit fertig war, machte ich einen kleinen Spaziergang und suchte mir Erdbeeren, die ich mit meinem Marmeladeaufstrich vermischen wollte. Bis zur Artilleriestellung war ich bereits spaziert, und auf meinem Rückwege verlief ich mich in einem von der feindlichen Artillerie nicht verschonten hohen Tannengehölz, in dem ich 8 Heldengräber entdeckte. Sie waren nach den Kämpfen im Dezember 1917 entstanden. Jedes Grab war mit den weißen Champagnesteinen umfasst, in einem Hohlbläser blühten Blumen. Etwas der Front näher fand ich noch mehrere Heldengräber, aber die Namen merkte man sich nicht, weil man sie nicht kannte.

 

24.6.18. Bis mittags hatte ich mit an einer Erdleitung gearbeitet. Sehr warm war es wieder an diesem Tage. Mittags wurde ich zum Ina-Offizier gerufen. Eine eilige Zeichenarbeit löste mich ab von der sauren Arbeit. Die beiden nächsten Tage verbrachte ich in meinem Unterstande. 26.6., früh: Im vordersten Graben hatte sich heute vor Aufgang der Sonne und des Nebels etwas besonderes ereignet. Während unser Posten seinen Dienst versieht und gerade im Begriff ist, auf einen sich heranschleichenden Franzosen anzulegen, um zur rechten Zeit abfeuern zu können, springt ein Sanitäter aus seinem Stollen, sieht, was los ist, und schleicht sich an den Posten heran mit den Worten: „Bist wull doll. Lat den Kerl doch loopen!“, und als der Franzmann dem Sanitäter näher gekommen war, springt er aus dem Graben, fasst den armen Franzmann und bringt ihn als Gefangenen zurück. Als Belohnung erhielt er neben einem persönlichen Lob des Herrn Majors von Kummer das Eiserne Kreuz II. Klasse und… 14 Tage Urlaub.

 

Am 29.6. wird bekannt, dass wir hier an der Front eine Offensive vorbereiten. Alles ist gespannt. Übermorgen ist meine Probezeit beendet.

 

 

5.7.1918: Der Pöhlbergrücken liegt unter schwerem feindlichen Feuer.

 

6.7.: Unsere Division trifft die ersten Anordnungen zur Vorbereitung auf die bevorstehende Offensive. Von Lina einen Kuchen erhalten.

 

7.7. Der Meldehund des Regiments wird zu einer neuen Stelle – K.T.K. – geschickt. Rechts im Abschnitt herrscht Ruhe. Die weiße bei der Dailly-Fe. Wird aus strategischen Gründen gemäht.

 

8.7.: Nichts besonderes. Viel Arbeit – gute Verpflegung!

 

 

In den nächsten Tagen ereigneten sich mannigfaltige Begebenheiten, die es vielleicht wert sind, besonders erwähnt zu werden. Wie aus den Vorgängen ersichtlich ist, wird die Champagne-Offensive erwartet. Die durch Vorbereitungsarbeiten entstehenden Zeitverluste gestalten es dem gewöhnlichen Soldaten nicht, seine geringe freie Zeit nur seinem Kriegstagebuch zu widmen, und da es mir genauso ging und ich mir die Tagebuchzeit stehlen musste, kann es natürlich nicht unterblieben sein, dass alles dem Datum nach skizziert wurde.

 

Wenn ich es deshalb unterlassen habe, nicht in jedem Falle das Datum anzugeben, so mag mich vorstehende Bemerkung entschuldigen. Im übrigen handelt es sich hier nur um die Zeit vom 8. bis zum 13.7.1918.

 

 

Bekanntlich erfordert jedes große Unternehmen eine große Vorbereitung. Und zu solchen großen Unternehmungen gehörte in den großen und verhängnisvollen Kriegsjahren in erster Linie die Offensive. Wenn wir von Offensiven sprechen, dann meinen wir mit Recht einen den Feind angreifenden Heeresteil, der es zu bestimmter Zeit unternehmen will, gegen den Feind zu ziehen, ihn zurückzudrängen, zu schlagen – auch zu siegen.

 

Will sich der Laie eine Vorstellung von den erforderlichen Vorbereitungen zu einer Offensive auch nur annähernd verschaffen, dann darf er sich neben den unzähligen Informationen, Infanterie, Artillerie, Kavallerie, Minenwerfer, Flieger, Ballonzüge, Scheinwerferabteilungen, Kraftwagenabteilungen, Proviantämter und Kolonnen, Eisenbahngeschützbatterien, Fliegerabwehbatterien, Feldpoststationen, Eisenbahnverwaltung, Bekleidungsämter und so weiter nicht zuletzt das vor Augen führen, dass jede Truppe ihren Platz, ihre Unterkunft und Verpflegung, und, das ist die Hauptsache: allstündlich Anweisung erhalten muss, was durchzuführen, was zu unterlassen ist. Alsdann darf man die zuweilen eingetretenen unglücklichen, verfehlten oder auch vorteiligen Momente im Kampf und die dadurch bedingten Änderungen, Verschiebungen und so weiter nicht unberücksichtigt lassen. Und hier kommt wieder ein neuer Faktor hinzu: die Heeresleitung vom Großen Hauptquartier bis zum letzten Führer an der Front. So bildet das Ganze ein Uhrwerk, das eine Rad das andere treibend oder auch vorwärtsschiebend, bis es aussetzt, um an einer anderen Stelle wieder einzusetzen, oder, bis das ganze Werk verstaubt, aufhört, zu gehen – zusammenzubrechen.

 

 

Morgen ist der 15. Juli 1918. Er wird in keiner Kriegsgeschichte, die den Weltkrieg 1914/1918 zu schildern versucht, ungenannt bleiben. Gestern hatte ich einen nicht gerade angenehmen Auftrag auszuführen. Unsere Leuchtmunition musste durch neue ersetzt werden. Leutnant Cramer schickte mich deshalb zum Nachbarregimentsstand und gab mir einen Karren nebst einem Begleitmann mit. Dieser Karren war, genau wie der Begleitmann – ein „Sachs“ – Originale. Wir waren uns beide darüber einig, dass es nicht so einfach war, den mir erteilten Auftrag, für dessen Ausführung man mich verantwortlich machen würde, glatt durchzuführen. Am Waldesrande angelangt, sahen wir uns mit nicht unwesentlichen Bedenken die große, teilweise frisch gemähte Wiese vor der „Dailly-Ferme“ an. „Junge, ich trau diesem ganzen Kram nicht!“ sagte mein alter, etwa 48 Jahre alter Begleiter. Der Franzmann konnte das ganze Wiesental einsehen. Es war nachmittags, etwa 3 Uhr, klar und im allgemeinen ruhig.

 

Wir überlegten. Rechts, über die Höhe, zu fahren, lohnte sich nicht und war ebenso gefährlich wie weitläufig. Einen Ausweg gab es also nicht, wir mussten hindurch. Wir hatten also folgende Vereinbarung getroffen: der Sachs lief bis zur Wiesenmitte und blieb dort liegen, bis ich ihn mit meinem Wagen ablöste. An dem Wagen war ein etwa 10 Meter langes Drahtseil befestigt, um den Karren in einer ungewöhnlichen Entfernung hinter mir herziehen zu können. Aber ehe der brave Sachs davonlief, wurden wir erst von einer MG-Salve überrascht, und dann stellten wir zu unserem Nachteil fest, dass unsere Kannoniere die nahen Heuhaufen mit Munition gespickt hatten. Wir mussten damit rechnen, dass so ein Haufen bei der nächsten Beschießung einen Volltreffer erhielt, und dann wären wir unter Umständen verloren gewesen. Aber – wie heißt es doch: „Halb gewagt ist halb gewonnen“, wir führten unsere Vereinbarung durch, und – es gelang. Die Sonnte meinte es gut, und auf günstigen Wolkenschatten konnten wir nicht rechnen. Als der tapfre Sachs also in der Mitte der Wiese angelangt war, folgte ich mit dem Karren, der etwa 10 Meter hinter mir herschleuderte. „Hier, schnell den Draht, und dann weiter!“ – tack-taaaack-ak-ack- „schnell, schnell!“ – – noch 50 Schritt, und wir waren gerettet – Gott sei Dank – geschafft, jetzt zum Regimentsstab der 264er. Wir ziehen in dem alten Hohlwege hinauf und vor dem drittletzten Stollen machen wir Halt, empfangen 500 verschiedene Leuchtgranaten und ruhen uns etwas aus. Dann geht´s wieder zurück durch die Wiese. „Wenn Ihr damit mal heil durchkommt!“ meinte der Sergeant, der uns bedient hatte, und wir schauten uns nach- und bedenklich den überladenen Karren an. Auf der mit kühlen Ahornbäumen bepflanzten Vebindungsstraße Pont-Faverger – Moronvillers angekommen, überlegten wir wiederum.

 

Geschossen hatte Franzmann wenig, in unsere Nähe fast überhaupt nicht, was unseren inzwischen gefassten Beschluss, es gehen zu lassen, wie es gehe, förderte. Die gespickten Heuhaufen hatten wir dabei nicht vergessen. Wir waren zwar sehr schnell durch die Wiese gelaufen, aber wir hatten dabei auch einen flüchtigen Blick zur Seite geworfen und dabei festgestellt, dass neben einigen Heuhaufen schon Granatlöcher und frische Schrapnellschüsse lagen. Trotzdem durften wir gerade hier auf der Straße, die zeitweise ebenfalls darum unter Feuer lag, weil sie nicht eingesehen werden konnte, nicht lange verweilen, sondern schnell wieder hindurch. Die Kisten hatten wir notdürftig am Wagenkasten befestigt, und sonst war alles in Ordnung. Der große Stern liegt zur Zeit unter Feuer, also jetzt wurde es höchste Zeit. Wir gondeln ab, der Sachs vorne, und ich hinten am Karren. „Halt, halt, wir verlieren…“ – schin-iuuu-trrrr (Querschläger) – – „…verlieren… Mann, weiter, weiter, nicht mehr umsehen!“ – „schnell, feste… feste… – er schießt!“. Der Schweiß rannte uns an den Backen herunter bis in unseren Bart. „Kann nicht mehr!“ rief mein alter Begleiter und legte sich halb ins Gras, mit einer Hand die Karrendeichsel haltend. Dann sah aber auch er ein, dass wir uns in einer äußerst peinlichen Situation befanden, und sprang sofort wieder auf, um unsere wichtige, gefährliche Ladung unter äußerstem Kräfteaufwand mitretten zu helfen. Es glückte uns! Kaum hatten wir den Wald wieder erreicht, als der arme Sachs erschöpft zusammenbrach. Drei Kisten hatten wir verloren, aber sie nachzuholen, dazu war niemand bereit. „Nachgezählt werden sie nicht!“, sagte ich, und der Sachs guckte mich dabei an, als wolle er sich mit hoffnungsvollen Wünschen meinen Worten anschließen.

 

Bald hatten wir uns wieder erholt, und in wenigen Minuten waren wir wieder am alten Ort. Als ich mich von dem alten Feldgrauen verabschiedete, drückte er mir sogar die Hand, vielleicht vor Freude darüber, dass alles so gut gegangen war. Die verlorenen Kisten wurden ein Opfer feindlicher Granaten; sie gingen in bunten Rauch und Flammen auf.

 

 

Wie ich schon einmal anzudeuten versucht habe, verlebte ich beim Gefechtsstand des Regiments gute, ja, herrliche Tage, wie sie selten ein Frontsoldat im Westen verlebt hat. Ich halte hiermit nicht die Durchführung meines Grundsatzes zurück, im Gegenteil, soll es also nur so sein und dem Leser nur dasjenige vorführen, was der Wirklichkeit nicht nachsteht. Wenn ich aber, bevor ich einen neuen Abschnitt zu schildern beginne, noch einen ernsten Fall aus jenen herrlichen Junitagen erwähne, so denke ich nur daran, zu zeigen, dass auch der Gefechtsstand seine Nachteile hat.

 

Neben meinem Unterstande wohnte der Nachrichtenmitteloffizier, Lt. Cramer, er hatte einen für unsere Verhältnisse sehr geräumigen Unterstand bezogen und ich glaube sagen zu dürfen, dass ihn vielleicht manch anderer Frontoffizier darum beneidet hätte. Er fühlte sich in ihm auch anscheinend eben so wohl wie im Freien. Nur eines Tages hätten sowohl er als auch ich gern auf beides verzichtet und dafür einen recht guten Bunker (Stollen) bezogen, wenigsten ins jenem Augenblick, als der Franzmann uns unerwartet einige Granaten herüberschickte.

 

Es war an einem späten Juniabend, die Sonne war eben untergegangen. Ob unsere Blinker, Fernsprecher oder Meldehundführer mit Tannenzweigen oder Zeitungspapier ihren Kaffee aufgewärmt hatten oder ob er (Franzmann!) sonst etwas entdeckt hatte, das weiß ich nicht. Jedenfalls standen Lt. Cramer und ich vor unseren Unterstand-Türen und unterhielten uns über die künftigen Arbeiten der Nachrichtenabteilung, und plötzlich flogen uns einige gute, volle Schaufeln richtiggehende Erdklöße ins Gesicht. Eben hatten wir seinen Unterstand erreicht, als drei oder vier Granaten folgten. Es war also auch eine Granate gewesen, die uns unbeschreiblichen Schrecken eingejagt hatte. Als wir unsere Farbe wiedererlangt hatten und Franzmann uns anscheinend in Ruhe lassen wollte, schauten wir nach der Einschlagstelle. Ich kletterte aus meinem Loche und stellte fest, dass die Granate zwei Schritt zu kurz lag. Glück im Unglück! Wäre die Granate also zwei Schritt weitergetragen und in unserem Loch zur Explosion gelangt, dann… es genügt! Es sollte so sein. Alle anderen kurzen Ereignisse noch zu schildern, nimmt dem Leser die Kurzweile.

 

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Die Offensive. 14./15. Juli 1918.

 

Es ist noch früh, die Sonne scheint noch in erster Stunde. Unser Gefechtsstand schläft noch, nur im Funkstollen und im Blinkunterstand halten Kameraden treu die Wacht. Vorne ist es zur Zeit still, ein SS. Scheint Wasserholer ärgern zu wollen. Ich gehe ans Scherenfernrohr: noch gar nichts zu sehen. „Morn Henne, auch schon wieder auf den Beinen? Wo wir morgen um diese Zeit wohl sind? Mensch, der ganze Wald soll von der Artillerie besetzt sein!“. Das rief mir der kleine Gefreite vom Blinkerstand zu. Dann erzählte er mir, dass unsere Offensive wohl schon verraten sei, denn vorgestern seien vom Nachbarregiment einige Elsässer übergelaufen. Das war zwar interessant, aber auch sehr fatal. Ich glaubte an den vermuteten Verrat, denn ich dachte sofort an meine Erlebnisse am großen Stern. Von dortaus kann man den Kluckgraben, der am Hoch- und Keilberge lag, einsehen. Dieser Graben, der bisher nur Zufallstreffer erhalten hatte, war bis über die Hälfte mich Gas-, Brand- und anderen Granaten gefüllt, und ich wurde an jenem Morgen (11. oder 12.7.), als ich am großen Stern dienstlich beschäftigt gewesen war, vom Franzmann auffallen beschossen. Auch die nächtlichen Feuerüberfälle wiederholten sich öfter, und „sicher“ bezeichnete Stellen im Gelände wurden unsicher. Etwa vier- bis fünfhundert Meter sollte der Kluckgaben in jener Nacht infolge verschiedener Volltreffer ausgebrannt sein. Die Lage war bis zum Mittag des 14.7. äußerst kritisch geworden. Durch das Glas stellte ich fest, dass der Graben noch rauchte, beschossen wurde er aber nicht mehr. Ich dachte an die „gespickten“ Heuhafen und an ihre Beschießung, nicht aber zuletzt an die arme Artillerie, die hinter uns im Walde liegen sollte. Eine Panik bedeutete das, war doch Tag und Nacht daran gearbeitet worden, um ein großes Werk zum Gelingen zu verhelfen. Aber Gott sei Dank blieb es bei dem auch gerade genügenden Verlust an teuren Granaten im Kluckgaben.

 

Es war Abend geworden. Vorne das übliche MG-Feuer. Aber in unserer Nähe und beim großen Stern war ein ungewöhnliches Hasten und Treiben, Zählen, Kommandieren und Schreien. Ich dachte, Franzmann hätte alles zusammengeschossen, aber alles klappte verhältnismäßig tadellos. „Hü-hü-hot…brrrr…“ kommandierten die Fahrer ihrem Gespann vor Geschützen aller Art, Minenwerfern, großen und kleinen, Munitionswagen und so weiter. Und dann – zwei Stunden vor Beginn der großen Schlacht – ist alles wieder still. Besser: stiller!. Nur da drüben, in der Nähe der Dailly-Ferme, stimmt´s nicht. Ein merkwürdiges Geräusch, wie wenn Essenholer unterwegs sind. „Drüben gehen die Sturmtruppen, die Gardisten, in Stellung.“ Mit einigen Kameraden laufe ich nach der Geräuschgegend und soeben können wir sie in ihren Stahlhelmen und Mänteln erkennen. Gleichmäßig rappeln die Schanzzeuge, Kochgeschirre und – Handgranaten.

 

Dann donnert´s drüben, und verhängnisvoll pfeifen einige Granaten über uns hinweg in die Etappe. Wir gehen wieder zurück, um uns die letzte Stunde noch ausruhen zu können. Allmählich verstummt das Geräusch der Gardisten, still und gedankenvoll sucht jeder seinen Unterstand auf. „2000 Geschütze stehen hinter uns sogar eine 42er. Präzise 1.10 Uhr geht die Geschichte los, drei 21er geben das Anfangszeichen!“ berichtete ein Kamerad. Die letzte halbe Stunde hatte endlich begonnen. Auf unserem Stand war alles in bester Ordnung. Ich gehe oben auf den Unterstand. Franzmann hat das Gelände am Sachsenwald, Alberthöhe und am großen Stern wie den Pölberg unter Feuer, aber die Gardisten werden jetzt an Ort und Stelle sein. Jetzt höre ich hinter mir die Ketten klingeln, etwa 200 Meter links von uns wir laut gesprochen. Wagen rollen durch das Tal – alles eine unbeschreiblich aufregende Stimmung. Unwillkürlich denkt man an den Feind, an das Entsetzliche da drüben, an alle Bekannten, an alle Lieben daheim, schrecklich, unbeschreiblich. Und in 10 Minuten beginnt es, das große Werk. Die Offensive, die Marne-Champagneschlacht!

 

 

Karbidlampen und Kerzen sind alle angezündet. Noch fünf Minuten, und die Zeit ist da. Wir haben uns um unser Hab und Gut versammelt, um gemeinsam das Große zu erleben. Abwechselnd schauen meine Kameraden auf ihre Uhr und mit schwerem Seufzer stecken sie die Uhr wieder ein, bis wieder alle in die Tasche greifen, um nochmals zu schauen, um den letzten Augenblick, die letzte Minute abzuwarten. „Armeezeit: 1.09!“ sagte ein Bursche, und dann war alles still. Ich horche aus der Tür: Rue! Aber dann krachen drei schwere Kaliber aus den Rohren, wuchtig wälzen sie sich durch die Nacht, den bedauernswerten Franzmann entgegen, und diesen dreien folgen weitere Abertausende der verschiedensten Art. Unser Unterstand zittert, das Feuer nimmt in den ersten Minuten schnell zu. Wir gehen bis oben über den Unterstand und horchen, sehen, staunen. Der Himmel ist nicht nur erhellt, er ist gelbrot angeschwollen, der Wald ist hell erleuchtet. Allmählich gewöhnt man sich an das Trommelfeuer, an das endlos scheinende. Nur plötzlich wird es noch unterbrochen: der 42er sendet seinen ersten Schuss auf ein feindliches Fort. Einer haushohen Stichflamme, einem gewaltigen Krach, folgte eine furchtbare Erschütterung, unsere Lichter im Stollen erloschen, die Luft schien zu zittern. Entsetzlich!

 

Jetzt, etwa 1.30 Uhr, schießt Franzmann. Schnell in den Stollen. Es ist aber nicht gefährlich, er schießt zu weit. Als wir nach etwa ½ Stunde den Unterstand verließen, um wieder einmal nach dem Rechten zu schauen, war es uns, als wäre draußen alles vergast. „Gaaaas!“ schreit ein Vorschlauer, aber es war keines, sondern Pulverdampf. Die Artilleristen arbeiten in Hemd und Hose, unwillkürlich fühlt man sich sicher, sicherer als je zuvor. Ein „Alter“ rät uns, möglichst im Stollen zu bleiben, um einem Frühkrepierer, d.h. einer Granate, die zu früh explodiert, aus dem Wege zu gehen. Diesem Rate folgend legten wir uns auf unser Lager, aber schlafen? Die ganze Umgebung dröhnt, und draußen – unbeschreiblich. Es mochte 3 Uhr sein, erst um halb vier schliefen wir fast alle. Der Körper verlangt seine Ruhe, aber gleich nach 5.00 Uhr war´s vorbei mit dem Schlaf, besser: Ausruhen. Das Gepäck liegt fertig in der Ecke. Bald wird´s losgehen.

 

Draußen hat der Tag begonnen, ein herrlicher, großer Tag. Vor den Ständen wird´s lebendig. Schnell wird´s heller, der Himmel färbt sich gelblich-weiß. Flieger beginnen ihre Tätigkeit. Der 42er macht sich nicht mehr bemerkbar, er schweigt sei viertel sechs. Gegen 5.20 lässt das Feuer nach, die leichten Kaliber werden wohl bald nur noch allein tätig sein, die Minenwerfer schweigen seit 2.00 Uhr. Gott sei Dank, etwas angenehmer ist es jetzt, die kleinen Geschütze verfügen nur noch über verhältnismäßig wenig Munition, und es wird bald Zeit, diesem furchtbaren Getöse ein Ende zu machen. Ohren und Nase haben eine harte Probe bestanden.

 

Es ist 5.30 Uhr, soeben melden sich eine Anzahl Gefangenenführer. Was die Gardisten wohl anfangen? „Franzmann schießt!“ ruft eine Ordonnanz. „Gaas. Gaaaas!“ – „Knoblauchgas!“ sagt ein alter Fernsprecher und öffnet seinen Gasmaskenbehälter und sieht sich mit uns die Einschläge an. Sie kamen aber in solch kläglichem Zustande an, dass wir die üble Lage im feindlichen Lager recht zu erraten glaubten.

 

„Gegen Mittag geht der Stand vor, alle bereithalten“, wurde durchgesprochen. Die Gefangenführer gehen weiter vor! Nach etwa einer halben Stunde wird folgende Nachricht von vorne aufgenommen und verbreitet:

 

 

„Die Berge (Hoch-, Pöhl- und Keilberg sind vom Feinde frei, der Feind ist über seinen vierten Graben bis an den Fichtelberg zurückgeschlagen. Auf der ganzen Linie Gefangene gemacht. Verluste relativ gering.“

 

 

Das war fein! Die Garde musste also seit 5.30 bei ihrer Arbeit sein. Es ist jetzt 8.20 Uhr, die Sonne lacht aus allen Winkeln. Ich hatte mir eine Stellungskarte angesehen und suchte den Fichtelberg, und während ich so beschäftigt war, kam eine neue Nachricht von vorne: Wir seien vier, stellenweise 8 Kilometer vorgedrungen. Der Feind hätte sich tapfer und zähe gezeigt. Der Angriff habe 5.30 Uhr begonnen. Die feindlichen Gräben seien schwach besetzt gewesen, bis auf einige MG-Nester, die sich bis zur Stunde noch tapfer gewehrt hätten und unserer angreifenden Infanterie Arbeit gemacht haben sollten.

 

 

Schon hier sei bemerkt, dass, soviel mir an jenem Tage bekannt wurde, die Offensive verraten worden war, und dass dadurch unser Plan, bis Chalons durchzubrechen, vereitelt wurde. Dagegen wurden aber über Erwarten auf verschiedenen Stellen nicht unwesentliche Erfolge erzielt, deren Einzelheiten aufzuzählen ich hier unterlasse.

 

 

Gewaltiges hatte unsere Artillerie geleistet und nicht zuletzt unsere Minenwerfer sowie die stürmende Infanterie, die Garde. Das Kampfgelände sah, wie ich später feststellte, unbeschreiblich aus. Doch hiervon später mehr. Die ersten Gefangenen treffen ein. Alte und junge Leute sind´s, wie bei uns im Heer. Aber sie scheinen sich ihres Lebens zu freuen. Wer von uns am Gefreitenstand hätte überhaupt wohl noch an Gefangene gedacht, bei solch einem Feuer? War es doch für die mit dem Leben und Schreck davongekommenen Krieger die Hölle auf Erden gewesen, für jene Dutzenden Gefangene. Da lagen, saßen oder standen sie, uns teilweise freundlich-ängstlich, teilweise verachtend, hässlich betrachtend. Der Herr Regimentskommandeur fragte einen der Gefangenen – wie üblich – nach allen militärisch-wichtigen Angelegenheiten aus, und übergab sie dann den bereitstehenden Führern, die sie in die Lager transportierten. Nach einer weiteren halben Stunde trafen noch weitere Gefangene ein. Als ich sie etwa 200 Meter vor mir sah, dachte ich erst, es müssten wohl Schwarze sein, aber ich hatte mich sehr täuschen lassen. Erst etwa 10 Schritt vor mir stellte ich das Gegenteil meiner Annahme fest. Es waren Europäer, Franzosen, die, vermutlich nur durch unsere Flammenwerfer, entsetzlich zugerichtet worden waren. Diese Bedauernswerten waren bis auf die stark verdeckten Hauptkörperteile Brust, Leib und Beine, total verbrannt. Die übrigen unbedeckten Körperteile waren also schwarz, das Haar war abgebrannt, und ebenfalls durch seine Verkohlung schwarz. Nur das Weiße ihrer Zähne, ihrer Augen, war unverändert geblieben. Ihre Vernehmung erschien uns unmöglich, und Herr von Kummer befahl den Führern, diese armen Kerle besonders sorgfältig zu behandeln. Sie wurden deshalb bald fortgeführt und fast verwundert schauten wir ihnen nach. Wie mochten die armen Franzmänner gelitten haben, und noch leiden? Waren doch Hände und Gesicht derart verkohlt, dass Wasser und Fett aus den Hautporen quoll, und dazu waren sie fast steifgeschwollen. Entsetzlich!

 

 

Alles fertigmachen.“ Schnell das Gepäck, noch einmal sehen wir uns in unserer idyllischen Behausung um, und dann geht´s vorwärts. Es ist wohl 12 Uhr mittags, warm ist es auch, und man wünscht, bald den neuen Platz erreicht zu haben. Als wir uns dem Waldesrande am großen Stern nähern, stellen wir fest, dass Franzmann noch immer mit Gas schießt. Aber es schien uns heute lächerlich. Über das freie Feld marschierten wir dem Pöhlberg entgegen. Die Landschaft sah heute ganz anders aus. Links von uns wurden anscheinend Fliegerzeichen gelegt, die Artillerie stand über dem großen Stern auf freiem Gelände, am westlichen Pöhlberg war das Rote Kreuz beschäftigt. Und als wieder der alte Stollen beim früheren K.T.K.links vor uns auftauchte, waren wir froh, denn hier sollte sich der Stand vorübergehend aufhalten. Ehe wir ihn erreichten, begegneten uns weitere Gefangene. Einige kamen ohne Kopfbedeckung daher, andere warfen sie weg. Vor dem alten K.T.K.-Stollen war reger Verkehr. Sanitäter warne bei der Arbeit, Bahre anbrennen. Ein noch interessantes Schauspiel führten uns – angeblich – die Flieger vor. Sie schossen so lange Leuchtpatronen senkrecht in die Luft, bis unsere „Schweren Bombengeschwader“ sich näherten und in der angegebenen Richtung davon steuerten, um auf feindlichem Gelände – z.B. Bahnhöfe, Festen, Munitionslagern usw. – ihre Bomben fallen zu lassen. Wenn dann allmählich der Schlaf sein Recht forderte, krochen wir in unsere Stollen. Der erste Tag der großen Offensive war vorüber.

 

 

Zum ersten Male empfangen wir unser Essen am Tage. Nudeln mit Mischobst gibt´s, ein herrliches Essen. Außerdem erhalten wir für drei Tage 40 g „gute“ Butter und zwei kleine Brote sowie Büchsenschweinefleisch! – Offensiveverpflegung! Nach den ersten drei Tagen erhielten wir „eroberte“ Schokolade, jeder Soldat etwa ½ Pfund, ferner, wie früher, Zigarren, Zigaretten und Rauchtabak. Wie nannten wir doch den Rauchtabak: „Eichenlaub mit Schwertern“. Er war überall zu finden, bei den Kameraden und – im Graben, im Schutt! Die Verpflegung war wirklich gut, der Dienst aber auch der Verpflegung entsprechend.

 

Die ersten Tage in der neuen Stellung wurden zu Aufräumungs- und Einrichtungsarbeiten verwandt. Am 20.7. schien alles wieder in Ordnung zu sein. Selbst der große Verbandsplatz, den wir am 15. beim Vormarsch entstehen sahen, war verschwunden. Vielleicht hatten die Sanitäter einen passenden Stollen, z.B. unser früheres K.T.K. links, bezogen, wenn sie nicht befürchtet haben, dass es ihnen, wie den braven achtzehn Deutschen im drittletzten Stollen vor dem alten K.T.K. links, die durch Stollenquetscher oder Mine in ihrem Stollen begraben wurden, ergehen könnte.

 

Am Nachmittag des 20.7., als die Sonne ihre letzten Strahlen sandte, habe ich mit einigen von Lt. Cramer bestimmten Leuten noch Tote beerdigt. Sie waren schon schwarz und stark geschwollen, gehörten einem anderen Regiment an und lagen am westlichen Abhang der Alberthöhe. Sie waren vielleicht vom feindlichen Feuer überrascht, da ihre Umgebung frische Granatlöcher aufwies. An jenem Tag wollte mir natürlich nichts mehr schmecken, aber es war noch lange nicht das Schlimmste, im übrigen aber eine Ehrenpflicht des deutschen Soldaten.

 

 

Wie im letzten Abschnitt erwähnt, hielt ich die erforderlichen Aufräumungsarbeiten für erledigt und den Zeitpunkt für geeignet, mir das eroberte Gelände einmal näher zu betrachten. Zunächst entdeckte ich etwa 100 m südwestlich vom Stand einen tiefen deutschen Graben, in dem leere MG-Munitions- und Handgranatenkisten liegen, sowie Zeitungen, alte Feldpostkartons, Papier, Wellblech usw. Das war nichts Neues. Dann fand ich in der nächsten Grabenbiegung ein nicht in einen Schützengraben hineingehörendes Objekt: ein Pferd. Wie es hier hineingekommen war, ist mir nie recht klar geworden. Ich habe auch keine weiteren Ermittlungen an Ort und Stelle angestellt, da es anscheinend schon länger hier gelegen hatte und am mehreren Stellen von Ratten angefressen war.

 

Da mir dieser Graben aber insofern gute Dienste leistete, als er mir einen Anhalt in dem fremden Gelände gewährte, hielt ich mich in seiner Nähe auf. Nach etwa halbstündigem Weg langte ich beim Blinkerstand auf dem Höhepunkt des Hochberges an. Noch 10 Schritt, und ich war im ehemals französischen Graben. Ich orientierte mich anhand meiner Karte und ging weiter, jetzt aber im Graben, wo ein solcher noch vorhanden war. Ehe ich weiterging, fiel mir etwas im Gelände auf, und ehe ich fragte, erklärte mir ein älterer Sanitäter, dass Michel dort zwölf Mähmaschinen vor Beginn der Offensive aufgestellt hätte, um nach erfolgreichem (insbesondere planmäßigem Vordringen bis Chalons) Angriff die bekannten Kornfelder, die jetzt in bester Reife stünden, abmähen zu können. Franzmann sei uns nun aber zuvorgekommen und habe sie – in Erkennung unserer Absicht – kurzerhand zusammengeschossen. Das war zwar wieder einmal interessant, aber nicht vorteilhaft.

 

 

Ich weiter ich voranging, umso grauenhafter erschien mir das von Minen- und Granaten sozusagen „umgepflügte“ Gelände. Wo noch ein unversehrter Graben vorhanden war, drohte er bald von der sich schon wieder angesammelten feindlichen Artillerie, die energisch die Kipsdorfmulde beschoss, zerschossen zu werden. Etwa 300 m vor Kipsdorf flüchtete ich in einen französischen Stollen, um einen Feuerüberfall abzuwarten. Ich war natürlich nicht der Erste, der diesen geräumigen Stollen betrat, denn die von den Franzosen zurückgelassenen Tornister, Kisten usw. waren außer unwichtigen Kleidungsgegenständen ausgeräubert. Als sich das Feuer gelegt hatte, schritt ich schnell den steilen französischen Graben hinunter bis in das Kipsdorfloch. Hier angekommen, begegnete mir eine Ordonnanz, die mir, während ich mich über die entsetzlichen Granat- und Minenlöcher wunderte, riet, durch dieses Loch „lange Beine“ zu machen, sonst sei ich verloren. Er deutete dabei auf die von mir inzwischen vermisste Grabenfortsetzung und verschwand. Unüberlegt lief ich ebenfalls in entgegengesetzter Richtung durch Stacheldraht, Wellblech, Stollenbrettern, Balken und… Leichen davon, und ehe ich den anderen Graben erreichen konnte, hörte ich das gewaltige Geheul einer schweren Granate über mir.

 

 

Was alles in jenem Augenblick passierte, wo die Granate eingeschlagen war, weiß ich nicht. Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich halb unter Wellblech, meine Gasmaske lag abgerissen eine Körperlänge vor mir am Rande eines sicherlich noch keinen Tag alten Trichters. Schnell raffte ich mich zusammen, und mit der Gasmaske in der Hand erreichte ich eben den Graben, als die nächste Salve hinter mir krachte und die Granatsplitter sich mit Dreck vermischt über mir kreuzten. Aber ich fühlte mich sicher in diesem tiefen Graben.

 

 

Als ich mich noch in jenem Graben befand und mir beim langsamen Weitergehen das Kampfgelände betrachtete, machten sich die feindlichen Maschinengewehre bemerkbar. Leider konnte ich nur das vor mir liegende Gelände beobachten, sowie den westlichen Teil vom Fichtel- und Hexenberge und zeitweise auch Prosnes mit dem Kirchturm. Da ich immer noch niemanden angetroffen hatte, ging ich natürlich auch immer weiter vor. Ich mochte wohl schon zwei Stunden unterwegs sein, als ich endlich umkehren wollte, da ich an das Kipsdorfloch dachte und bei Dunkelheit nicht hindurch gekommen wäre. Aber ich hörte vor mir Kameraden und wollte wenigstens mit ihnen gesprochen haben über alle Tagesneuigkeiten, und als ich etwa 10 Schritte weitergegangen bin, liegt vor mir ein totes Pferd im Graben und etwas weiter auf dem äußersten Grabenrande hatten rohe, gefühllose Franzosenhände – auch Kolonialtruppen konnten es gewesen sein – mehrere einzelne Schädel derart aufgestellt, dass sie jeder Deutsche, der diesen Graben passierte, sehen konnte; und in dieser Nähe war ein Soldat, dessen Legitimation ausgeschlossen war, quer durch den Laufgraben gelegt worden. Dass es überhaupt ein Mensch gewesen war, konnte man an dem halb sichtbaren Kopfe und den Stiefeln feststellen. Der Rest seines Körpers war mit Erde bedeckt und – wahrscheinlich infolge Truppenanmarsches während der Nacht – zertreten. Es war ein unbeschreiblicher, entsetzlicher Anblick. Was es sonst noch in jenem Graben zu sehen gab, weiß ich nicht, und war auch nicht mehr neugierig. Ich stand bald wieder vor dem Kipsdorfloch und wartete auf günstige Gelegenheit zum Durchlaufen. Es schien jetzt Zeit zu werden; er schoss auf den Pöhlbergrücken. Aber doch mit des Geschickes Mächten… ehe ich das andere Grabenende erreichte, war eine da, eine Granate, noch eine – – 30 Meter hinter mir, und jetzt – – – noch zwei, drei – hinter mir, Gott sei Dank. Auf meinem Rückwege passierte mir nichts wesentliches.

 

Bei einem guten „Offensivenschnaps“, den es jetzt genügend gab, und einem Weißbrot beschloss ich den 15. Juli 1918.

 

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Teil vier

 

Wenn ich im Nachstehenden versuche, nur das Wesentliche, was uns der Champagnekrieg brachte, festzuhalten, so setze ich dabei voraus, dass die Wochen nach einer geglückten Offensive durchaus nicht die angenehmsten sind. Während wir vor der Offensive ein verhältnismäßig ruhiges Leben hatten, kamen wir nach dem Vormarsch nur noch wenig zur Ruhe. Im vordersten Graben Handgranaten- und MG-Kämpfe, Teilangriffe, Granatwerfer- und Minenfeuer; vom ersten Graben rückwärts Gas, Artillerie- und Bombenfeuer usw. Dabei bleibt zu beachten, dass der Franzose, gegenüber dem Engländer, fast das ganze Gelände unter Artilleriefeuer hielt. Und hier lagen wir nur Franzosen – und auch Kolonialtruppen – gegenüber. Im übrigen sind alle Einzelheiten geschildert.

Unsere mit reichen Erfolgen gemachten fast allnächtlichen Unternehmungen gegen den wütenden Feind machten ein baldmöglichstes Folgen unserer Artillerie notwendig. Da es aber nicht überall leicht oder überhaupt möglich war, die Geschütze im Walde oder an sonst geeigneten Stellen aufzustellen, so wurden zunächst im freien Gelände solche Stellen zur Aufstellung von Geschützen ausgesucht, die bisher entweder viel oder sehr wenig vom Feinde beschossen waren. Zu den letzten durfte man auch unseren Stand an der Alberthöhe zählen. Der Stand wurde in den ersten Wochen hier aufgestellt und zur Hälfte eingegraben, um neben einem festen Halt des riesigen Kolosses seine Erkennung durch feindliche Flieger zu erreichen/zu verhüten. Sein Äußeres ist, wie alle leicht erkennbaren Kriegsmaterialien, verschieden angestrichen, außerdem sind über ihm Blenden angebracht. Er war uns in unseren Mußestunden ein Zeitvertreib. Wenn der Offizier-Stellvertreter, dem der 21er nebst Bedienungsmannschaft unterstand, Miene machte, dem Franzmann einige Zentnerklötze hinüber zu schicken, dann stellten wir uns links hinter das Geschütz, und ehe das Geschoß den Lauf, das mittlere Rohr, verließ, hatten wir uns etwa 100 m vor der Rohrmündung in der Luft einen Punkt gesucht, an dem das Geschoß vorbeiflog, um es bis etwa aus 2 bis 21/2 Kilometer in der Luft verfolgen zu können, was uns auch sehr häufig gelang. Nach Angabe eines Artilleristen reichte der 21er bis zu 9 Kilometer weit – Höchstleistung. Über seine Wirkung an Ort und Stelle sei folgendes erwähnt: bei jedem Abschuß zitterte die Erde etwa 300 m Umkreis; Kerzenlicht, Karbid- und Petroleumlicht erloschen infolge des enormen Luftdrucks in dem tiefsten Stollen, den Gängen und Seitenräumen in der Erde (unsere Stollengänge lagen 8, teilweise 10 m unter der Erdoberfläche!).

Lange hat der 21er seine Stellung ungehindert halten können, bis er eines Tages im August doch noch vom Franzmann ertappt zu sein schien, denn unser Stand wurde allmählich unsicher. Hierüber einiges im nächsten Abschnitt.

Im Offiziers-Stollen ging es heute lustig her, und es schien uns, als müsse wohl ein Geburtstagskind spendiert haben. Ich versuchte, eine kleine Erkundigungspatroille zu unternehmen, die nicht erfolglos blieb. Ehe man vom westlichen Stand an den Offiziers-Stollen gelangen konnte, mußte man durch einen aus leichten Tannenbrettern erbauten Vor-Unterstand. In diesem Raume arbeitete Leutnant Schubert gewöhnlich an ruhigen Tagen. Heute fand ich ihn in diesem Vorbau zwar auch wieder, aber bei einer anderen als üblichen Arbeit; er quälte sich an einem Fass mit Bier. Ich hatte mich also mit meinen Kameraden nicht getäuscht. Ob aber nun auch Franzmann von diesem ungewöhnlichen Vorfall, hier im Graben ein Fass Bier „auftreiben“ zu können, etwas vermutet hatte? Der 21er hatte wieder – wie gewöhnlich! – bei eingetretener Dunkelheit seine Arbeiten eingestellt, während sich Franzmann merklich bemühte, seine Kanonenrohre auf unseren Stand auszurichten.- Er schoss auf unseren Stand, aber ohne Erfolg. Nur am andern Morgen schien uns die Lage durchaus ungünstig: ein bisher als Notausgang benutzter Stollen war zusammengeschossen, und jener Vorbau…? Brennholz! Ein Volltreffer war´s gewesen, der tatsächlich auch das Bierfass nicht unversehrt gelassen hatte. Glücklicherweise befand sich zur Zeit des Einschlags der Granate niemand in dem Vorbau. Der 21er erwiderte jedoch das Feuer; wie lange er es in seiner jetzt bedrohten Stellung noch ausgehalten hat, weiß ich nicht, da wir zur Zeit dieses Vorfalls schon auf Ablösung rechneten, die Ende August erfolgte.

Wie an den vergangenen Tagen, so stellte sich unsere Küche auch heute wieder rechtzeitig ein. Da sie unsere Post auch mitbrachte, war sie besonders beliebt.- Sie brachte mir tagtäglich aus allen bekannten Gauen Briefe, Karten und Pakete und hat einen wesentlichen Anteil an meinem Kriegstagebuch dadurch erlangt, dass sie mir meine Skizzen, Gedichte, Briefe, Karten, und, wenn ich mir einmal aus Champagnestein eine Erinnerung gearbeitet hatte, Pakete mitnahm, um sie aus dem Ruhelager zur Feldpost geben zu können. Heute, am 30. Juli, stand ich auch wieder mit meinem Kochgeschirr bei der Küche, und als der Postsack zum Vorschein kam, freuten sich alle auf ein großes Paket, das sich in dem dünnen Postsack bald beim „Durchkramen“ auffällig gemacht hatte. Es wurde hervorgeholt: „Fernsprecher Henne!“ – – – es war ein großes Paket, enthielt aber keinen Poststempel – – – von Daniel Hundertmark war´s, der von seinem Heimatsurlaub zurückgekehrt war und mir das große Paket von meinen Eltern mitgebracht hatte. Außer dem Schinken, der „lebend frisch“ aussah, war alles gut erhalten angekommen. Mit diesem Paket erhielt ich auch eine neue Uhr, die ich lange genug vermisst hatte.

Tief im Stollen! Es ist Nacht, und die Totenstille wird nur dann und wann unterbrochen – wenn jemand seine Nachtwache beginnt oder beendet, wenn Franzmann in die Nähe schießt oder wenn sich jemand auf seinem Drahtlager umdreht, Läuse fängt oder Ratten verscheucht. Einer sieht auch mal auf seine Uhr, dann ist alles wieder im tiefsten Schlafe. Aber es ist fast Mitternacht; ein leises Tasten versucht der Unteroffizier, ein Schütteln und ein Wort, ein einziges: „Aufstehen!“. Und in der nächsten Minute: schnell noch mal recken, auf, den Stahlhelm und die Gasmaske, Mantel und Schanzzeug, eine Zigarette, und dann hinaus in die dunkle, heimtückische Nacht. Draußen ist es kühl, vorne verhältnismäßig ruhig. Wir gehen über die östliche Seite der Alberthöhe, durch den Kluckgraben und in beschleunigtem Tempo durch die Marienschlucht. Einige Granaten gehen über uns hinweg. Wir sind durch und krabbeln am westlichen Pöhlbergabhang hinauf. Jetzt sind wir im Graben. Bald werden wir auf der Höhe sein. „Vorsicht, Draht! – – – Vorsicht, Graben! – Granat- Minen- Sprengtrichter!“ – „Hier muss es doch irgendwo sein?“ – „Ja, hier!“ – „Guten Abend!“. Ein alter Ostfriese spuckt sich in die Hände. „Wir wollen uns beeilen, dass wir hier vonkommen, in 14 Tagen haben wir´s geschafft.“ Jeder stimmt wohl stillschweigend zu. Wir arbeiten. Es handelte sich um den Bau eines Blinkschachts, der deshalb notwendig war, weil das Gelände eine Anwendung des Blinkapparates ohne Sacht nur nach einer Seite hin ermöglicht. Um also einen Apparat zu sparen, wurde ein Blinkschacht auf, bzw. durch den Pöhlbergrücken gebaut, der es der Bedienung ermöglichte, den aufgenommenen Spruch sofort mit demselben Apparat weiterzugeben. Unten im Tale sehen wir von Zeit zu Zeit in die aufblitzenden Kanonenrohre. Ziuu-krach-krach – – bum-bum-bumbu uuuäääää – Krach! Das bekannte Granatenlied. Aber wir arbeiten noch. „Haase, was ist dies eigentlich, mir wird´s bald zuwider“ – Haase, unser Funk-Unteroffizier, untersuchte seinen Spaten. „Mal stille!“ sagte er mir, „ist mir eben auch schon passiert.“ Dabei schwang er seinen Spaten mit einem Ruck über den kleinen, erst etwa 50 cm tiefen Graben, hier Schacht. Wir arbeiteten mit unseren Hacken und Spaten in Leichen, in Schädeln und Menschenleibern herum. Wem war das wohl nicht zuwider? Aber alle wußten ja nicht davon. Ich wechselte mit meinem Vordermann, und dann – hielten wir uns zusammengekrochen im engen Schacht, weil wir soeben festgestellt hatten, dass der Abschuß der feindlichen Artillerie unsere Nähe erreichen würde (das Ziel einer abgeschossenen Granate ist bei geübter Aufnahme ihres Abschusses vorauszusehen; Volltreffer dagegen sind überraschend, dass man in dem blitzschnelle Flug des Geschosses weder Abschuss noch Einschlag festzustellen vermag!). Drei schwere Einschläge. Dreck, Stahl und Eisen, Feuerspäne fliegen durch die dunkle Nacht. Sie lagen etwa 80 m rechts von uns auf dem Höhenzuge. Wir laufen unseren Kameraden, die das Gelände kannten, nach in einen französischen Unterstand. Als wir die vier Stufen hinunter gegangen und in der offenen Eingangstür angekommen waren, sahen wir bei spärlichem Licht französische Ratten in allen Winkeln. Ein ekelhaftes Viehzeug.

Als sich das Feuer gelegt hatte, gingen wir wieder an die Arbeit, die wir jedoch bald aufgaben, da unsere Arbeitszeit herum war. Still wandern wir wieder zurück durch die Löcher, Gräben und den Draht. Es ist etwas ruhiger geworden. Ein leiser Ostwind zieht über die toten, zerfetzten Hügel und über dichtem Nebel bricht der Morgen an. Hier und da schaut aus den höllischen Granattrichtern der blasse Tod, um in baldigem Sonnenschein wieder zu verschwinden. Wir schreiten durch die Marienschlucht. Rechts und links warten Minen- und Granattrichter auf ihre Gefährten, auf unseren Tod.

Allmählich ändert sich die Landschaft. Es wir heller auf den Fluren, und wo noch zwischen zertretenem Gras eine Margaritenblume erhalten blieb, lacht sie uns begrüßend entgegen. Wir sind alle wieder zurückgekehrt in unsere Stollen an der Alberthöhe, wir holen das Versäumte nach.

An den bereits erwähnten Schanzarbeiten habe ich nur wenige Male teilgenommen. Auf dem letzten Rückweg war ich in einen Trichter gefallen und hatte mir die rechte Hand am Stacheldraht derart verletzt, dass ich von den nächtlichen Arbeiten, die doch bald beendet wurden, dispensiert wurde. Außerdem trat in meinem bisherigen Dienstpensum eine grundsätzliche, aber nur vorübergehende Änderung ein, von der einer der nächsten Abschnitte berichtet.

Der Monat Juli geht mit dem heutigen Tage zu Ende. Wieder hat der Krieg neue Opfer gefordert. Von unserer Ina ist am 25.7. der allgemein beliebte Sergeant Gohmann in der Nähe des Kipsdorfloches gefallen. Ferner fiel neben mehreren bekannten Kameraden mein mit mir beim Bezirkskommando Hildesheim eingetretener Kamerad Friedrich Bielau. So lichten sich die Reihen guter Kameraden. Wer weiß, wie lange noch?

Mein Sohn (aus der Soldatenzeitung „Die Parole“)

Es ist ein Grab im Westen

Ich werde es niemals sehn,

Doch alle meine Träume,

Allnächtlich zu ihm gehen.

Er zog mit hellen Augen

Und Jubelruf ins Feld.

Kaum war er vor dem Feinde

Starb er als deutscher Held.

Und nun in fremder Erde!

Oh Herz, jetzt werde hart,

Denk an die vielen Helden,

Die dort schon eingescharrt.

Ich will ein Lied ihm singen…

Komm, lieber Morgenwind

Nimm es auf Deine Schwingen

Und grüß mein Herzenskind!

Der zweite August 1918! Vier Jahre Krieg, Sieg, Tod, Freude und Leid. Es war gestern morgen fast eine Viertelstunde Waffenpause, und wir wußten nicht, wie uns war. Aber dann begann wieder das alte Lied, das Lied, das hier auf diesen öden, toten Fluren weit bis in die kleinsten, tiefsten Stollen und Höhlen drang. Wer kannte es nicht?

Jetzt hören wir es wieder. Es tobt der wilde Kampf am Hexen- und Fichtelberge. Ein von vorne Kommender berichten von Handgranaten-Nahkampf. Entsetzlich! Das Feuer hält den Tag über unverändert an. Gegen Mittag klettere ich auf die Höhe, um auch einmal zu sehen, was vorne los ist. Ich wandere wieder an dem früher bereits erwähnten Graben zum Kipsdorfloch entlang, bis ich bei der Blinkstation am höchsten Punkte des Hochbergs angekommen bin. Von hier aus konnte man bis in die Wälder des Hexen- und des Fichtelberges sehen. Lange hatte ich dem gefährlichen Spiel zugeschaut, bis ich endlich wieder zurück ging. Der Blinkertrupp hielt sich im nahen Graben auf und unterhielt sich zeitweise mit den Sanitätern. Noch ehe ich den Stand wieder erreicht hatte, teilte mir ein kleiner Hamburger vor genanntem Stollen mit, dass soeben dieselbe Station, in der ich vor etwa 20 Minuten noch mit ihren Insassen gesprochen hatte, infolge Volltreffer vollkommen zusammengeschossen sei. Verluste an Menschenleben seien nicht zu beklagen, da alle im nahen Graben gestanden hätten. Also: „Schwein gehabt!“, sagt der Preusse.

Seit einigen Tagen leide ich an einem mit spanischer Grippe verbundenem Durchfall. Wahrscheinlich bin ich angesteckt worden, denn viele andere Kameraden klagten schon darüber. Heute, am 4.8.18, geht´s mir wesentlich besser, und ich will morgen zum Ruhelager, um mir neue Wäsche zu holen. Meine Unter- oder auch Leibwäsche hat noch nicht so viele Läuse gesehen wie in letzter Zeit.

Heute, am 5.8., war ich hinten im Ruhelager, um mir Wäsche und eine Hose „verpassen zu lassen“. Als mich der Kammerunteroffizier auf die Begründung meines Antrages untersucht hatte, erhielt ich mehr, als ich erwartet hatte: eine neue Hose, eine Unterhose, ein Hemd, ein Paar neue Schnürschuhe, eine neue Mütze und eine Halsbinde, alles „nagelneu“! Befriedigt zog ich wieder nach vorne. Als ich über die Cäsarhöhe kam, stellte ich fest, dass die an der westlichen Seite liegende Artillerie heftiges Feuer erhielt. 18er, 10er und 7,5er lagen hier im Walde. Ein Artillerist oder Infanterist gab mir einen Wink, und ihm folgend lief ich schnellstens durch die wüsten, leeren Artilleriestellungen, bis an den zum großen Stern führenden Feldweg. Da mir die Luft auszugehen schien, erholte ich mich, um dann aber auf schnellstem Wege zum wenigstens etwas sicheren Gefechtsstand zurückzukommen. Im Begriff, aufzuspringen, höre ich eine Salve mit unheimlichem Getöse, mit wildem Krach hinter mir einschlagen. Jetzt wurde es höchste Zeit. Schnell über den Feldweg, den Berg hinauf in den Kluckgraben, und jetzt erst mal wieder ausruhen. „San…äter…äter!“ tönte es hinter mir. Die letzten Einschläge! Jetzt verschwinden allmählich die Rauchwolken; ein Flieger ist über mir – er kreist über dem großen Stern! Unsere Artillerie schweigt.

Ich komme gut beim Gefechtsstand wieder an und während mich Neugierige nach dem soeben Geschehen fragen, andere mir zu meinem neuen Rock usw. gratulieren, kommt Musketier Heinrich (Ina) aus der selben Richtung vom Artilleriekommandeur beladen mit Akkumulatorenbatterien auf dem Rücken an. Er erzählte uns von dem Pech der Batterie und sprach von 12 unfähigen und einigen toten Artilleristen. Ein 18er-Geschütz sei total kaputt, habe ein Vize gesagt, ein Stollen sei eingedrückt, und diese Batteriestellung total hinüber. Als es so erzählte und sich einmal dabei halb umdrehte, stellten wir zu seinem größten Schrecken fest, dass sein noch fast neuer Rock, eine Zivilweste und sein Hemd fast unsichtbar dampfend versengt waren. Schnell rissen wir ihm alles vom Oberkörper und stellten an den neugefüllten Batterien fest, dass sie etwas ausgelaufen waren. Batterien enthalten Säuren, die vermöge ihrer salzsäurehaltigen Substanzen selbst den unempfindlichsten Gegenständen Schaden verursachen. So bringt jeder Augenblick neue Begebenheiten.

Bis heute, den 12.8. mittags, hat sich noch nichts wesentliches wieder ereignet. Vergebens habe ich mich bemüht, Bielaus Unglücksstelle aufzufinden bwz. den Punkt im Gelände näher zu besichtigen. Infanterie-, Artillerie- und Minenwerferunternehmen hinderten mich an meinem Vorhaben. Heute Nachmittag ist es vorne verhältnismäßig ruhig. Vielleicht liegt dies auch an der fast unerträglichen Hitze. Die Kameraden wälzen sich müde im Grase und verwünschen ihre ihnen bevorstehenden Arbeiten. In Hemd und Hose liegen und stehen sie herum. Und unsere Offiziere: sie verrichten ihren Dienst im Adamskleid. An die Stelle des Feigenblattes ist ein Handtuch getreten. Im Tale durchqueren Wagen der Artillerie, Infanterie und Pioniere das Gelände, aber nur noch wenige Minuten, dann ist alles im Wald, unter Straßenbäumen usw. verschwunden… feindliche Flieger sind da! Ich stand mit meinem Gewehrstock in der Hand, der auch zugleich mein Lineal darstellte, vor meinem mir selbst erbauten Unterstande und sah dem zwar alltäglichen, aber immer wieder interessanten Schauspiel in der Luft zu. Zwei Flieger gehen in der Richtung Reims-Bazancourt ab, der dritte kreist über unserem Gelände in etwa 1200 m Höhe. Jetzt kommt er näher – über dem Gelände des Nachbarregiments mochte er sein – unsere Abwehr setzt ein, und… es war ein seltenes Glück beim Explodieren der ersten Salve kommt der geachtete französische Pilot mit seinem Flugzeug ins Wanken und – während wir alle „Volltreffer“ rufen, stürzt er mit unbeschreiblichen Stimmen des Motors in die Tiefe, in das in unserer Hand befindliche Vorgelände von Nauroy. Wer Zeit und Lust hat, läuft zur Unglücksstelle. Nach etwa zehn Minuten schickt der Franzmann einige schwere Schrapnells in unsere Richtung und in die Nähe des Fusilier-Berges. Eine Antwort erteilen unsere 18er-Langrohre. In diesem Moment stehe ich gerade beim Regimentszeichner Franz Wilkerling, und wir erschrecken nicht wenig bei dem riesenhaften Luftdruck, der die in Wilkerlings Unterstand angebrachten Fensterscheiben zum Zittern brachte. Franzmann schwieg, aber mit Bedacht.

Nach einer halben Stunde begegnete uns der Franzmann mit einer heulenden, im nächsten Augenblick mit fast einem Krach in unmittelbarer Nähe des 18er-Geschützes niedergehenden Salve, der noch etwa sechs bis acht andere folgen. „Rruuuu“ summt´s über uns: Franzmann ist wieder da! Ein Doppeldecker. Noch einer! Fast unhörbar kreisen sie über dem unsrigen, soeben beschossenen Gelände. In die Stollen zurückziehen!“ war befohlen. Ein Fieger war wesentlich näher gekommen und überflog jetzt unseren Stand. „Ruhig stehenbleiben!“ hörten wir unseren Offizier rufen, und dann wieder: „So ein Schweinehund, der fotografiert das ganze Gelände, und unsere Abwehr schläft!“. Sie war aber inzwischen aufgewacht und arbeitete derart, dass beide Flieger schnellstens abzogen.

Die Sonne schien schon längst nicht mehr. Auf unserem Stande war es ruhig geworden. Ein leiser Wind umweht die kahlen, weißen Champagnehügel, die sich flüsternd über den abermals verschiedenen Tag unterhalten. Aber auch die Schluchten, das Wiesental, der Drahtverhau und die unzähligen Granattrichter, sie erzählen; nicht von heute, von gestern Nacht, von gestern Vor- oder Nachmittag, sie erzählen aus früheren, weit besseren Zeiten. Moronvillers, das Dörfchen an jenem Pöhl- oder Keilbergabhang, wo war es geblieben? Vor vier, ja, vor vier langen Jahren stand es da. Vielleicht klang jetzt die Kapellen-, Schul- oder Kirchturmuhr durch das Tal, bangend und voll Erwarten mögen die Ältesten des Dorfes die Nachrichten über den Krieg abgewartet haben, und wenn dann ein Mutiger unter ihnen die Ängstlichen tröstete, mögen sie ruhig und tapfer gewesen sein. Aber es kam der Krieg mit seinen Schrecken immer näher, bald stand er deutlich an der Dorfgrenze und als die siegenden Truppen das Dorf nahmen, mag es von seinen Bürgern, von Greis bis zum eben geborenen Kinde verlassen worden sein, vielleicht in der Hoffnung, es dereinst im Frieden wieder aufsuchen zu können. Aber – – – – – –

Das Dörfchen, das traute Heim, die Gärten, Felder voll reifer Saat, grüne Täler, dichte Wälder und all das Heimatliche, das Gute, Schöne, Erinnerungsreiche, das Vaterland – – – es ist nichts mehr von all dem Guten und Schönen da. Nicht ein Stein, ein Stückchen Holz, ein Fleckchen Erde erkennbar, wo einst die Wiege stand? Nicht ein Kreuz von den vielen unter dem auf einsamen, ruhigen Friedhof jene Lieben ruhen, die durch früheren Tod dem Kriege entgangen sind? Der Vater, die Mutter, der Sohn, Bruder und Schwester? Sie sind nicht mehr! Und leise, flüsternd erzählen die Granattrichter – jetzt beugen sie demütig ihr Haupt – es sind aber noch andere Granattrichter, und selbst das letzte verschlingen sie in ihrem rachgierigen Schlund: den Namen jenes kleinen französischen Dörfchens: „Moronvilliers“!

Es wird stiller an den kahlen Höhen, der Wind schweigt, und am Horizont leuchten viele Millionen Sterne gleich den unzähligen Granattrichtern. Über mir höre ich Granaten fliegen, und ein Bombengeschwader zieht hoch durch die Nacht dem feindlichen Lager entgegen, und so flackert das verheerende Feuer wieder auf – der entsetzliche Krieg. Und die Granattrichter, sie schweigen, sie decken sich mit neuen zu und geben Rechenschaft ab über das Gewaltige, was Menschenhand geschafft, was Menschengeist erdacht. –

In der Ferne aber, vielleicht beim Brigade-Gefechtsstand, tönt es aus allen Hörnern: „Lieb´ Vaterland, magst ruhig sein; fest steht und treu die Wacht am Rhein.“. Es war die Regimentskapelle, die noch in so später Abendstunde spielte.

Als die letzten Weisen verklungen waren, suchte ich mein Lager auf. Gegen Morgen, zwischen drei und vier Uhr, klangen aus dem Offiziersstollen die wunderbaren Weisen des „Roko-Ständchen“, durch die dunklen, schlafenden Stollen. Und so müde wir auch alle sein mochten, alle haben sie wohl gelauscht. Drei Verse, unbeschreiblich schön. Wohl nie habe ich einem einfachen Liede mehr Aufmerksamkeit zugewandt und die wunderbaren Töne des Cello, der Flöte und Geige in mir aufgenommen, als bei diesem. Nicht das geringste Geräusch störte, und uns schien, als habe selbst Franzmann ein wenig seine nächtlichen Feuerüberfälle eingestellt.

Fliegerkampf!“ schallt es durch den Graben und die Stollen. Ein Franzose verfolgte einen deutschen Flieger. Michel mußte nachgeben. Er war auf etwa 500 m. bereits vom Franzmann herabgedrückt worden. Jetzt kommen sie unserem Stande näher. „Deckung!“ rufen wir uns gegenseitig zu, und im nächsten Augenblick schnellte erst Michel, etwa 30 m hinter ihm: Franzmann, der Michel unter rasendem MG-, insbesondere Brandgeschossfeuer hielt und ihn verfolgte. Ein seltenes, äußerst spannendes Schauspiel. Atemlos fast steht die Besatzung unseres Standes in und vor den Stollenausgängen. In wem kochte wohl nicht die Wut? Jetzt ist Michel gelandet. „Notlandung!“ sagten wir fast einstimmig. Aber dann erhob er sich wieder, aber nicht zu neuem Kampfe. „Über uns!!!“ – „Vorsicht!“. Zwei kleine Geschwader standen etwa 2500 m im Kampfe. Die Abwehr tut ihr möglichstes. Der Horizont färbt sich grau und schwarz. „Volltreffer!“ – nein, da ist er wieder, jetzt bekommt er gleich – – – „Deckung!“, und im selben Augenblick fliegt surrend ein Grantsplitter in das erste Stollenbrett an unserem Stolleneingang. Musketier Heinrich (Hamburg), der vor mir vor der letzten Stollenstufe stand, riss seine linke Hand weg, aber weder zu früh noch zu spät, denn der Granatsplitter hatte bereits 2-3 cm höher, als Heinrichs Hand gelegen hatte, das Stollenbrett zerschlagen und war glühend heiß zu unseren Füßen geflogen. Bloß versuchte er seine Unvorsichtigkeit zu bekennen, währenddessen er sich verwundert den großen, einem Schlachtermesser ähnelnden Splitter ansah und sich an ihm die Finger verbrannt hätte, wären wir nicht abratend dagegen gewesen. Von dem weiteren Verlauf des Fliegerkampfes vermochte keiner zu berichten, da der Kampf sich später außer Sichtweite abwickelte.

14,8,! „Ratten fraßen mir in der vergangenen Nacht 1 ¼ Laib Brot auf!“ heißt es in meinem Kriegstagebuch. „68 Läuse, ohne Eier, in Decke und Mantel gefangen!“ usw. Das sind fast alltägliche Vorkommnisse, aber sie brauchen auch nicht ganz unerwähnt bleiben.

Bekanntlich werden – oder besser – wurden bei klarem Wetter Fesselballons hinter der Front hochgelassen, die erfolgreich das Gelände zu übersehen vermochten. Unter diesem Ballon, der schnell hoch und auch verhältnismäßig schnell heruntergelassen werden konnte, saßen in einer Gondel ein Beobachter und ein Fernsprecher, Funker oder Blinker. Einer von beiden war in der Regel mit einem Fallschirm ausgerüstet. Dass nun auch diese Einrichtung – die übrigens beiderseits bestand – dem Franzmann nicht angenehm sein konnte, ist klar. Und an einem herrlichen Augustnachmittag erlebten wir in Schauspiel in der Luft hinter uns, dass es einen groben Fehler bedeutete, wollte ich es ganz unerwähnt lassen:

Die Fliegertätigkeit war, wie überhaupt in der letzten Zeit, eine sehr rege. Trotzdem lenkte ein französischer Flieger die Aufmerksamkeit der Leute unter sich, zu denen auch wir gehörten, auf seine kleinen, ab und zu im Sonnenlicht aufblitzenden Tragflächen. Er stieg, immer noch höher, bis er hoch über dem einen deutschen Fesselballon steil – oder stark senkrecht – unter Ausschaltung seines verräterischen Motors niederging. Wir stehen in diesem Augenblick wie versteinert, atemlos da. „Jetzt…“ tack-tatack-taaaaaa – – – „Der ist gerettet!“ (einer der Insassen ist gerade mittels Fallschirm der Gondel entsprungen!), dann eine gewaltige Flamme, ein Rauch und der Ballon ist weg. Vergebens beschießt unsere Abwehr den ausreißenden französischen Piloten. Aber was geschah nun? Als Franzmann eben wieder verschwunden war, stand ein neuer Ballon auf unserer alten Stelle. „Doch mit des Geschickes Mächten…“ Nach einer dreiviertel Stunde war auch der zweite Ballon abgeschossen. Wie sein Vorgänger ging auch er in Rauch und Flammen auf. Und wieder wurde Franzmann nicht erwischt. Uns packte die Wut! Diesmal gondelten beide Insassen unter Fallschirmen in der Luft herum, und als der Franzmann den Ballon vernichtet hatte, schoß er auf die Hilflosen, die mit ihren Fallschirmen in der Luft zappelten. Aber auch das genügte noch nicht. Die Ballonbedienungsmannschaften (auch Sanitäter) mochten gerade mit den Aufräumungsarbeiten an der Unglücksstelle beschäftigt sein, als wir über uns eine Salve schweren Kalibers hörten. Sofort ahnten wir nichts gutes: sie ging mit dumpfem Krach an derselben Stelle nieder, wo vorher die Ballons gestanden hatten. Dass es dabei Tote und Verwundete gegeben hatte, wurde uns bald bestätigt. Aber „Rache ist süß!“ murmelte ein Zuschauer, und sie blieb nicht aus.

Nach einem unruhigen Fliegerabend begann ein unruhiger Fliegermorgen. Diesmal war es nicht der Franzmann, der unsere Fesselballons zu vernichten suchte, sondern Michel war an der Arbeit. Nach ¼stündigem Verschwinden unseres einen Flugzeuges kam der erste Bericht über seine Tätigkeit: „Ein französischer Fesselballon soeben in Brand geschossen!“ In diesem Augenblick schickten unsere 18er-Langrohre einige Salven rüber. Dass Franzmann aber bis in unsere Ruhelager geschossen hatte, dass er, wie es neulich passiert ist, Pont-Faverger u.a. mit schweren Bomben beworfen hat, wurde ihm niedrig angerechnet und unsere Flieger und Artilleristen vergaßen nicht, sich beim Franzmann zu bedanken.

Als das eroberte Gelände geräumt war, begann meine Pionierabteilung damit, die französischen Stollen in ihrer alten Stellung zu sprengen. Hierdurch wurde dem Franzmann die Möglichkeit genommen, sich bei einer etwaigen Wiedereinnahme des Pöhl-, Keil- und Hochberges in seiner alten Stellung wieder festsetzen zu können. So vorsichtig und gut diese Maßnahme auch ausgedacht war, so traurig stimmte uns in den nächsten Wochen, die wir in anderen Stellungen zu brachten, die unerwartete Nachricht, dass Franzmann sein Ziel wieder erreicht und die wichtigen Höhen wieder besetzt habe. Was also mit immerhin nennenswerten Verlusten erreicht, erkämpft war, war wieder verloren.

Der 18.8. brachte mir einen erfreulichen Befehl: „Vertreter des erkrankten Regimentszeichners Wilkerling ist der Fernsprecher Henne, z. Zt. Ina-Zeichn er.“ Das war zweifellos eine bessere Arbeit als schanzen zu müssen, Drähte zu flicken u.a.m.. Aber andererseits fielen mir diese jedenfalls ungewöhnlich schwierigen Zeichenarbeiten, die neben einem durchschnittlichen Talent auch die erforderliche Übung bedingten, wohl ebenso schwer. Als ich meine erste Arbeit fertig und dem stellv. Kommandeur vorgelegt hatte, war natürlich seine erste Frage, ob ich die Karte nach Augenmaß vergrößert hätte. Dies bejahte ich, und nachdem er sich überprüft hatte, gab er seiner Zufriedenheit Ausdruck und äußerte, dass die Arbeit gut sei. Bei der Fülle meiner alltäglich sich vermehrenden Arbeiten ging meine Vertretungszeit schnell dahin, sodass ich bald wieder ausgearbeitet meinen kleinen Unterstand aufsuchen musste, wo ich andere Arbeiten vorfand. Wilkerling, der von meinen Arbeiten gehört und gesehen hatte, freute sich, endlich einen Vertreter zu haben. Es sei nunmehr auch die Möglichkeit vorhanden, dass er bald in Urlaub fahren könne. Ob und inwieweit mir diese Vertretung Vor- und Nachteile in Aussicht stellte, erfuhr ich in den schweren Oktober- und Novembertagen. Bis zum 23.8. passierte nichts wesentliches.

Die Division wird heute oder morgen abgelöst!“ So hieß es am Mittag des 24.8.1918. Tatsächlich erhielten wir am nächsten Tage Anweisung, die erforderlichen Vorbereitungsarbeiten zu erledigen. Schnell schrieb ich an alle Paketstellen, insbesondere an meine Eltern, nichts mehr abzusenden, wenigstens nicht vor dem 1.9.18, da wir ja nie erfahren konnten, wohin wir kommen würden.

Am 26.8. vormittags wurden wir nach Übergabe des Standes an das Infanterieregiment Nr. 32 abgelöst und über Pont-Faverger-Masmes zwischen Epoye und Lavannes im Walde (Mühlheimer Lager) untergebracht. Unsere Infanterie lag in Bereitschaft am Champagne-Hang Fort Wirty-Reims (vor der Straße Witzy-Berru), und rechts und links hinter Beine. Am 8.8. erreichte mich eine Karte von meinem Cousin Otto Feldmann, der im selben Walde lag. Er hatte von unserem Regiment erfahren und schrieb, ich möchte mir Brot abholen, er habe genügend. Dieser Einladung mochte ich jedoch leider keine Folge mehr leisten, weil wir in derselben Stunde wieder abrückten.

Vuadetre – Warmerivillee – Isles sur Suippes und schließlich Bazancourt, ein kleines französisches Städtchen, wo wir zwei Tage in Quartier lagen. Gelegentlich eines in diesem Städtchen abgehaltenen Informierungsappells traf ich mehrere alte Kameraden wieder. Außer beständiger Fliegergefahr fühlten wir uns sehr wohl Da jedoch an ein längeres Verweilen an diesem Ort zu denken mit Rücksicht auf die hier vorhandenen Bahnkreuzungen ausgeschlossen zu sein schien und unsere Alarmbereitschaft noch nicht aufgehoben war, ließen wir unsere feldmarschmäßige Ausrüstung, wie sie war. Am 30.8.1918 vormittags verließen wir sang- und klanglos das ruhige Quartierstädtchen und zogen in nordöstliche Richtung weiter.31.8.: Asfeld-la Ville – Laon, schließlich St. Gobain (zwischen Chauny und Crepy). In St. Gobain angekommen, wurden wir nach schnellster Orientierung sofort in südwestlicher Richtung in Marsch gesetzt. Von den aufregenden Tagen im Haute Foret de Coucy erzählen die nächsten Blätter.

St. Gobain liegt hinter uns, die letzten Häuser verschwinden hinter den müde herab hängenden dunkelgrünen Buchenzweigen. Wir marschieren auf einem breiten Waldwege, biegen rechts auf eine Waldhöhe ab, um sie nach 1 ½stündigem Marsche wieder zu verlassen und in der „kleinen Ludwigshöhle“ Unterkunft zu suchen. Schon während der kurzen Nacht begann das beiderseitige Artilleriefeuer, um gegen Morgen sich in ein kleines Trommelfeuer zu verwandeln.

Am 2.9. gingen wir unter feindlichem Feuer weiter vor. Infolge dauernd an Heftigkeit zunehmenden Artilleriefeuers, das an beiden Dorfausgängen von Fresnes, das wir mittlerweile erreicht hatten, lag, mußten wir uns so schnell und gut wie möglich an dem rechten, etwa 5 m hohen Ufer der Straße, aufhalten. Hier gab es aufregende Momente. Munitionsfahrer vermochten ihre Gespanne, die unter feindlichem Feuer lagen, nicht mehr ordnungsmäßig zu leiten. Hier lag ein Pferd, dort drei, vier, und etwas weiter ein zerschossener Wagen. „Straße frei!“, und im nächsten Augenblick schnellten Wagen verschiedener Formationen vorbei, deren Führer weder links noch rechts, sondern immer nur nach vorn auf die Straße sah. Zsch-kra-kra… Volltreffer… „rechts ran – – Deckung!“ Zium-zum…rrrr… „Da unten! Da, am Teich!“ „Weiter!“ Tote oder Verwundete liegen da unten beim Teich im Dreck. „Hü! Hü!!“, die Peitsche schnellt über die mit Scheiß bedeckten Pferde. Das Feuer läßt etwas nach. Schnell geht´s weiter voran, über den freien Berg nach Coucy le Chateau, dann kurz vor Beginn des grünen Wiesentales rechts ab in Richtung Coucy la Ville. Erleichtert atmen wir auf, wir sind durch und denken nur noch daran, wie wir hier wieder raus kommen. Am nächsten Tage schießt uns Franzmann den mittleren Stolleneingang zu. Wir kamen ohne Verluste mit dem Schrecken davon. Unbeschreibliches Glück! Weiß wie die Wand überlegen wir, was zu tun ist. Nichts! – – doch: wir müssen Essen haben,. Zigarren und Zigaretten. Eiserne Portionen sind fast nicht mehr vorhanden. Wir suchen die Küche; vergebens. Nachmittags gibt´s Essen, sonst nichts. Doch, ein Paket hatte ich ja bekommen. Haha, da ist der bereits vor 14 Tagen im Brief mitgeteilte, besser: angemeldete Kuchen drin. „Kuchen?“ werde ich fast von allen Seiten gefragt. Und als wir tatsächlich alle durch das fettige Pergamentpapier den Kuchen erkennen, summts´ wie aus einem Munde: „Schade!“ durch den dumpfen französischen Stollen. Ich unterließ es, auch noch ein „Schade“ hinzuzufügen, sondern nahm den Kuchen, und warf ihn, so weit ich konnte, weg, weil er total verdorben war.

Am 4.9.18 begann ein strategischer Rückzug, der am selben Tage aber zum Stillstand kam und uns über das Vorgelände von Aulers nach Premontre brachte. Dieser Rückmarsch vollzog sich ohne wesentliche Verluste. Zu bedauern blieb nur, dass die Bekannte Siegfriedstellung teilweise überhaupt nicht mehr bezogen werden konnte. Auf unserem Rückweg nach Premontre mussten wir durch die bekannte Irrenanstalt, die durch die in ihr eingerichtete Selterswasserfabrik einen besonders bekannten Orientierungspunkt im Waldgelände bildete. Von dieser Irrenanstalt führt der Weg bis auf die dann rechts nach Premontre beginnende Hauptstraße. Da auch diese Straße bereits unter Feuer lag und infolgedessen das Dorf Premontre wenig oder gar keinen Schutz bot, nisteten wir uns hinter der Straßenkurve bei Premontre in Unterständen ein. Die Luft wurde uns hier aber zurück, und wir zogen uns bis an die andere Seite des uns Schutz versprechenden Waldes in Richtung Sebancourt-Sucy in den Wald, dass zwischen uns und der Irrenanstalt, Asile d´Aliene), der östlich von Premontre sich erhebende gewaltige Berg mit seinem höchsten Gipfel in der Mitte lag. Diese Unterkunft, die aber auch bald wieder dem feindlichen Feuer ausgesetzt war, behielten wir vier volle Tage.

Am 10.9.18 erreichte uns vormittags 5.00 Uhr eine Mitteilung, nach der unser sofortiger Abmarsch befohlen war. Bald war alles bereit. Das Gelände um Premontre wird heute noch bis an den Oisekanal gehalten. Ehe man von Anizy das Paradies-Schloss erreicht, biegt ein kleiner Fußweg links in ein dem Hohlweg ähnliches Loch oder Kuhle. In diesem Loch bezogen wir unsere Unterkunft. Da die abgelöste Truppe noch in den uns zu übergebenden Unterständen sehr beschäftigt war, mußten wir noch etwa eine halbe Stunde in unserem nassen Anzuge stehen. Inzwischen entwickelte sich vorne, etwa drei- bis vierhundert Meter vor uns, das schönste Trommelfeuer, das erst wieder abnahm, als wir in der Nähe eines von uns angezündeten Feldofens fast trocken geworden waren. Da wir keinen zweiten Anzug hatten, mußten wir uns diese unangenehme Trockenart schon einmal gefallen lassen. An diesem Morgen hat sich aber auch der kleine Ofen viel gefallen lassen. Wie murrte und brummte er, als wir ihn mit Strohsäcken und einer Bettstelle fütterten.

Schon in den nächsten Tagen – 11. Bis 14.9. – wurden von unserer tapferen Infanterie zahlreiche Gefangene gemacht. Sie schienen froh darüber zu sein, aus dem furchtbaren Feuer herauszukommen. Bezeichnend war es für Franzmann und den Engländer, dass ab und zu die Gefangenen betrunken bei uns eingefangen wurden. Harte, schwere Kämpfe brachten auch uns schwere Verluste. „Alles fertigmachen, der Feind ist übern´ Kanal, ist in unserer Stellung! Das schwere MG auf die Straße, alles übrige laden und sichern, bereithalten; die Geheimakten und Karten sind zu verbrennen!“ befahl Lt. Cramer. Der Kommandeur mußte infolge eines Granatsplittertreffers, der seinen Unterstand durchschlagen hatte, umziehen. „Schnell der Funkerabteilung Nachricht, der Funkapparat ist bei aussichtsloser Rettung zu vernichten. Befehl vom Nachrichtenoffizier!“ – – – der schöne, neue Funkapparat! – – – „Hallo!“ – – – „die Leitung ist kaputt!“ – – – Aufregung beherrscht die Unterstände – – – „Er schießt mit Gas!“ – – – wir bereiten uns vor. Jetzt funktioniert die Leitung wieder. „Artillerie soll Sperrfeuer schießen!“ – – – „Nachricht von vorne: unsere besondere Artillerie (Tankabwehr) hat unzählige Tanks zerschossen, der feindliche, stark gestaffelte Sturmangriff ist fast zusammengebrochen.“ Die erregte Stimmung nahm etwas ab. Das aufgestellte MG konnte noch nicht in Tätigkeit treten, weil das ganze Gelände sich von dem furchtbaren Granatenhagel dunkelgrau färbte. Chateau de Locq war von Zeit zu Zeit sichtbar, jedoch nur vorübergehend, und dann sah man auch nur noch seine stehengebliebenen Grundmauern. Unsere Unterstände zitterten, zitterten schon Stunden. Jetzt ließ es nach, es ging jetzt. „Auf das Ganze!“ – „Tanks sind auf der Straße nach Anizy!“ … – Tanks? Wir stehen fertig in den Ausgängen. Hinter uns werden die letzten Trümmer von Anizy vernichtet. Unserer Artillerie schießt schon lange, was aus den Rohren heraus will, aber jetzt arbeitet sie geradezu wahnsinnig, um im nächsten Augenblicke wieder nachzulassen. „Zwölf Gefangene – – – noch mehr – – -„ Ich guckte aus dem Unterstande, es wurden immer mehr. Schnell werden sie von den Offizieren vernommen und dann abgeführt. Eine Feuerpause schien zu beginnen. Die schweren Artillerie- und Infanteriekämpfe nahmen aber am Spätnachmittag desselben Tages (14.9.) ihre alte Tätigkeit wieder auf, und am Abend erst wurde es etwas ruhiger. Von den nächsten Tagen kann ich nur dasselbe berichten.

15. und 16.9. greift Franzmann zweimal an. Diese Angriffe brachen aber in unserem Feuer unter sehr schweren Verlusten zusammen. Am 17.9 dreimaliger Angriff, 18.9. kleinere Angriffsversuche, 19.9. allgemeine Ruhe, am 20.9. ebenfalls. Am 21.9. trommelt Franzmann eine Stunde, ohne jedoch anzugreifen, am 22.9. vormittags ruhig.

27.9.18: In den letzten fünf Tagen beginnt Franzmann mit der Beschießung des hinter uns liegenden Geländes. Am 27.9. war jedoch deshalb ein längeres Verbleiben in unseren Unterständen, die nur eine dünne Erdschicht bedeckte, unmöglich geworden; außerdem war unsere Unterkunft den anscheinend den Fliegern bekannt geworden, da nicht selten entweder Bomben oder Granaten in unserem Quadrat niedergingen. Wir gaben deshalb unseren Stand auf und „flüchteten“ uns in einen großen Stollen südwestlich in einem Hohlwege. Wir lagerten in dem neuen, gewaltigen Stollen – etwa 10 m tief, 20 m breit, er gewährte uns ausreichende Unterkunft. In seiner Mitte war für Offiziere ein Loch seitwärts und nebenan eins für den Regimentszeichner und für mich. Ferner war in dem selben Raum Landsturmmann Brandt (Lüneb. Heide) mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt. Das Neueste, was uns hier passierte, war, das Kamerad Deppen von einem Spion in deutscher Uniform und zu Pferde nach allen wichtigen Geländeteilen ausgefragt werden sollte (aber vergebens), und schließlich, als sich Deppen entfernte, durch Revolverschuß an zwei Fingern verwundet wurde. Ein sofort erlassener Fahndungsbefehl blieb erfolglos. Als wir uns in unserer neuen Unterkunft „eingewohnt“ hatten, blieb es nicht aus, in geeigneten Momenten das Freie aufzusuchen. Eines Tages waren – wie vorher – einige Kameraden wieder zum Sammeln von Geschosshülsen unterwegs (diese Hülsen wurden damals gut bezahlt!). Plötzlich schleppen zwei Mann einen Kameraden von unserer Ina in unseren Stollen, der einen Granatsplitter in die rechte Kniescheibe erhalten hatte. Nach Anlegung eines Notverbandes wurde er zurückbefördert. Das feindliche Feuer nahm merklich zu, und schließlich lag auch unser Stand unter Feuer, sodass es schwer hielt, an die allnächtlich in oder an der Sandgrube haltenden Küche heranzukommen. Jeden Morgen waren unsere Straßen- und Stollenblenden geschlossen. So kamen wir in den Monat Oktober.

Vorne tobt noch der wilde Kampf. Lange kann und darf dies nicht mehr dauern. Eine Panik bedeutet der sich immer mehr bemerkbar machende Rauchwarenmangel. Wir erhalten seit einigen Tagen als besondere Kampfzulagen für zwei Tage 100 gr. Butter und pro Mann für etwa 15.- bis 18.- Mark Schokolade. Seit gestern liegen wir unter zeitweise einsetzender feindlicher Artillerie, mit großer Müh und Not halten wir die Funkleitung in Ordnung. Heute, am 2.10., ist es mit den Feuerüberfällen noch nicht besser geworden. Im Laufe des heutigen Tages hielt ich mich trotz der zeitweisen Feuerüberfälle vorwiegend im Freien auf. Doch mit des Geschickes Mächten… die Kameraden Brandt und Wilkerling waren wieder einmal zum Kartuschensammeln unterwegs. Franzmann schoss zur Zeit auch nicht. Erst wartete ich, dann kroch ich in der nächsten Hohlwegböschung hinauf, um unseren Gefechtsstand zu skizzieren. Ehe ich aber einen geeigneten Platz gefunden hatte, machte der Franzmann einen umfangreichen Feuerüberfall. Ich konnte natürlich nicht so schnell wieder in den Stollen kommen und… das Unglück schreitet schnell! Mußte durch den vergasten Hohlweg. Im Seitengang hatten meine Kameraden bereits in Ermangelung geeigneter Schutzklappen- oder Vorhänge ein Feuer angezündet, was jedoch für mich wenig oder gar keine Bedeutung haben konnte, denn der Sanitäter stellte bereits Gasvergiftung mit einer Temperatur von über 39 Grad fest und schrieb mir einen Ausweis, sofort nach Viwaise ins Lazarett zu gehen. Da mir aber ein mehrstündiger Marsch ausgeschlossen erschien und mich der inzwischen vom Kartuschensammeln zurückgekommene Regimentszeichner noch abraten wollte (ich sollte ihm vom 5.10. an vertreten, weil er in Urlaub fahren konnte), verblieb ich beim Regiment. Drei Tage und drei Nächte verbrachte ich im Stollen auf einer unentlausten Hindenburgmatratze, um mich am 4.10. von Kamerad Wilkerling anleiten zu lassen. In diesen Tagen hatte sich draußen vieles ge- und verändert.

Der Herbst ist ins Land gezogen. Die roten Blätter werden von einem kühlen Wind abgeweht und hier und dort glänzen bereits im nahen Paradieswäldchen laubfreie, vom Morgentau nasse Äste im Morgenrot. Die Frontlage ist unverändert. Gestern Nacht bekam ich vom Landratsamt Syke, meiner letzten Zivildienststelle, ein von mir gefundenes Portemonnaie nebst ursprünglichem Inhalt als mein Eigentum zugestellt, da sich der wirkliche Eigentümer nicht auffand. Heute (Nacht vom 4. Zum 5.10.) laufen allgemein Interesse erregende Nachrichten durch die Kameradenkette: nach aufgefangenem Funkspruch verhandelt Entente über Friedensfragen, Österreichs Kriegsführungsende steht bevor, und heute Morgen: Bulgarien hat Waffenstillstand! Das war mal wieder etwas anderes.

Heute, am 5.10.18, habe ich mit Einverständnis des Nachrichtenmitteloffiziers die Geschäfte des Regimentszeichners Wilkerling übernommen. Damit bin ich nunmehr aus den Reihen der Fernsprecher vorläufig ausgeschieden. Wilkerling ist heute nach Vivaise zurückgegangen, um am 7. In den Urlaub zu fahren. Die erste, mir obliegende Arbeit ist die Einzeichnung der Stellungen, die erforderlichenfalls bezogen werden können. So gab es täglich, zuweilen stündlich neue Kartenänderungen, die so viel Arbeit bereiteten, dass ganze Tage, halbe Nächte, oder umgekehrt ununterbrochen an ihnen gearbeitet werden musste. Selbst der Schlaf wurde beeinträchtigt und wäre, gehörte er nicht zu den unbedingten Lebenserfordernissen, ganz abgeschafft werden. Über die Wichtigkeit zuverlässiger Karten braucht nicht gesprochen werden, weil sie ohne weiteres ein Mittel unserer Kriegsführung darstellte.

8.10.1918: Heute ist der Entente unsere Friedensnote überreicht worden.

Neue Strümpfe habe ich heute erhalten. Diese Kleinigkeit sei nur deshalb erwähnt, weil ich bei dieser Gelegenheit feststellen konnte, wie viel Läuse in meinen gebrauchten Strümpfen gehaust hatten: Mit auf 80 geschätzten Eiern insgesamt 127! Mehr will ich nicht erwähnen.

Nach langer Zeit empfangen wir endlich einmal wieder Kunsthonig.

Vorne ist die Lage kritisch, sonst aber wesentlich ruhiger als an den Vortagen. Wir rechnen beim Stabe mit unserem Rückzuge. Während der Nacht gab es noch viele Vorbereitungsarbeiten zu erledigen.

9.10.18: Fünf Uhr morgens – – – alles rüstet! – „Fertig? … dann los!“ schallt es durch den langen Stollengang. Allmählich verschwinden wir durch den dunklen Gang ins Freie. Wohin? „Links, im Hohlwege!“ – Anizy le Chateau, die wenigen, durchlöcherten Mauerreste – furchtbar! Weiter, mehr rechts! Als es heller geworden war, befanden wir uns bereits westlich von Faucoucourt, östlich der la Montagne-Fe.; noch fünf Minuten und wir waren da – in neuen Unterständen. Funker und Fernsprecher bauten eiligst ihre Apparate aus und freuten sich sichtlich, dass wir sie endlich aus diesen Fuchslöchern vertrieben. Der Vormittag gehörte mir. Nachdem ich meine Zeichenutensilien ausgepackt und alles im Raume eingerichtet hatte, machte ich meinen Rundgang durch die nähere Umgebung. Wir lagen oben auf dem Berge, an dessen Fuße Faucoucourt lag. Zerschossen lag dieser Ort unten im Tale, drüben, etwas südlicher, lag Wissnicourt, teilweise zerschossen. Eine herrliche, landschaftlich schöne Gegend. Zwei Tage und drei Nächte brachten wir hier zu. Der nächste Tag, der 10.10.18, bringt wieder einmal etwas Interessantes. Vorsichtig, aber deutlich wird’s von einem zum anderen Kameraden erzählt mit großen, vielversprechenden Mienen: „Die Entete-Antwortnote ist überreicht worden – sie sind einverstanden, wenn Räumung des besetzten Gebiets erfolgt!“- wir freuten uns – aber noch heimlich, denn noch donnern die Kanonen, das MG klappert, noch bluten unsere Kameraden dort drüben am Hügel.

Einem müden Tage folgt eine kurze Nacht und ein grauer, regnerischer Herbstmorgen zieht verheißungsvolle an den dreckbespritzten Fenstern vorüber. Ein komischer Tag. Wenn ich schon in den vorhergehenden Tagen nicht ganz frisch gewesen, so war ich heute sehr schlecht „auf dem Damm“! Dass ich beim Arbeiten nicht eingeschlafen bin, ist wohl auf Zufälle zurückzuführen, deren Ursache und Entstehung unsichtbarer Natur sind. Ich hatte am Mittag die schönsten Anzeichen einer „kleinen“ Grippe, und während mir von einem Offizier Ruhe empfohlen war, wurde mir von anderen Arbeiten gemacht – ich musste eine neue Karte zeichnen. „Sie nennt sich „Wintersaat“ und sieht den Aufmarsch unseres Heeres in die sogenannten Antwerpen-Maaßstellungen vor.“ Während man mir weitere Weisungen erteilte, unterhielt man sich draußen bereits von diesem und jenen, rühmte die „uneinnehmbaren“, mit Drahtverhau umzogenen Maaßhöhen und freute sich innerlich auf diesen glücklichen Entschluss unserer obersten Heeresleitung. „Wintersaat“ – ein winziges, aber würziges Wort, ein Schlagwort unserer… Strategen! Wäre uns die Möglichkeit gegeben, noch eine Nacht in Ruhe hier zu verbringen, dann würden die wenigsten Kameraden von einer traumlosen Nacht reden können.

Doch erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt…

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Am 12.10. erreichte uns nachts der Befehl, sofort die Stellung zu verlassen, MGs zur Sicherung zurückzulassen und die Bataillone einzeln zurückzuziehen. Als wir von diesem Befehl erfuhren, glaubten wir mehr als einen allmählichen Rückzug auf Grund des neuen Planes „Wintersaat“, als an etwas anderes. Aber wir hatten uns geirrt. Wir bauten auf Befehl ab, um baldmöglichst fortzukommen. „Vor 2.00 Uhr nachts dürfen wir nicht fort!“ heißt es jetzt. Das feindliche Feuer scheint uns bereits in der Flanke zu liegen. „Um 2.00 Uhr werden befehlsgemäß sämtliche Brücken im Hintergelände in die Luft gesprengt!“ – – – sofort dachten wir an unseren Regimentswagen, der mit uns zurück sollte, dann an uns. Dies war etwa um 1.00 Uhr. Um 1.10 Uhr befahl Herr von Kummer unseren Abmarsch. Mit seiner Taschenlampe in der Hand führte er uns, um in geeigneten Augenblicken auf den Knopf zu drücken und sich schnellstens orientieren zu können. Wir sind im Tale, am nordöstlichen Ausgange von Faucoucourt angelangt, und scheu werfen wir beim Granateneinschlag einen Blick in die Straße, auf die Ruinen. Schneller wir unser Schritt, und so schnell wir die Straße verließen, so schnell waren wir bald auf freier Straße: Cessieres-Molinchart nach Cerny-les-Bury. 1.30 Uhr. Noch 30 Minuten! Unser Geschützwagen fährt jetzt vor uns; ich halte mich an seinen Seitenbrettern etwas fest, weil ich vor Müdigkeit nicht mehr gerade gehen kann (Grippe!). „Zwei Uhr!“ – alles schweigt! – Der Wagen hält, die Pferde schnauben – hinter uns singen MG und Artillerie ihr Lied in die dunkle Nacht, und vor uns färbt sich der Himmel. Eine gewaltige Detonation – nein, viele, bald hier, bald dort – ermahnen uns zum Weitermarsch. Wir marschieren – „Da brennt sicherlich ein Munitionspark!“ – und nach einer kleinen, diesbezüglichen Unterhaltung schweigt wieder alles. Schwer rollt der Wagen vor uns her… das Klappern des Schanzzeuges, der Gasmasken am Koppel, der Pferdehufe, es wird zu einem ewigen, nervös machenden Liede in diesen Minuten, Sekunden… „Halt…halt…halten!“ …schallt es durch die dunkle Nacht. Der Wagen steht, wir gehen an die Straßenseite, der Kommandeur tritt vor… wir sind gespannt auf das, was da kommen soll: „Diese (vor uns liegende) Brücke ist bereits drei Male vergeblich zur Sprengung gebracht, ich habe Befehl, niemanden mehr durchzulassen!““(2.10 Uhr!). Nach kurzer Verhandlung verschwindet der Pionier, um im nächsten Augenblick Mitteilung davon zu machen, dass Übergang ohne Verantwortungsübernahme erfolge. Auf entsprechende Anfrage antwortet die Pioniertruppe, dass sie strengste Anweisung habe, präzise 2.00 Uhr zu sprengen, und außerdem nicht darüber bekannt war, dass wir noch kämen. Es half aber nichts, wir mußten weiter, und… auch über diese alte, steinerne Brücke, die wir jetzt vor uns liegen sahen. „Einzeln!“ sagte Lt. Bothe, und dann gingen wir über die Brücke, während der Wagen nebst Kutscher zurückblieben, um am Schluß zu folgen. Vorsichtig schleichen wir uns über den grauen Flußbogen, atemlos bis zur Mitte und dann schnell die andere Hälfte. Wir sind drüber! Jetzt zieht der Wagen an, der Kutscher am Zügel – – – ein entsetzlicher Augenblick! … jetzt ist er mit seinem Gespann ebenfalls auf der Mitte der Brücke… er hebt den Arm – die Peitsche knallt, der Wagen rollt – – – wir sind durch, ein Stein fällt uns vom Herzen. Wir waren Sekunden in der Hölle gewesen.

Gleich hinter Molinchart auf der Höhe stehen wir vor der Wegekreuzung Molinchart-Laon, Laniscourt – Cerny les Bucy. Vor uns sehen wir auf unweiter Höhe die Kathedrale in Flammen, und alle fünf Minuten krepieren mit dumpfen Schall schwere englische Granaten in der Stadt. Gegen 3.00 Uhr beziehen wir bei Cerny Quartier. Wir schlafen uns aus. Quartier in Holzbaracken bei einer Fabrik. Sehr gut.

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Letzter Teil

 

Unsere Stellung bei Ainzy le Chateau ist inzwischen unter schwacher MG-Deckung geräumt worden. Der Frontverlauf ist uns unbekannt. Am 12.10., vormittags 11.00 Uhr Meldung: „Der Feind ist rechts durchgebrochen!“ 11.15 Uhr marschieren wir eiligst wieder zurück bis Molinchart und beziehen nach 12.00 Uhr erfolgter Ankunft die ehemalige deutsche Ortskommandatur (ehemals eine Gastwirtschaft!). Wir richten uns die Küche ein; der Regimentsschreiber schreibt, Regimentsbefehle, ich zeichne neue Pläne. Die gefährliche Situation in der vergangenen Nacht ist „vergessen“, unsere Offiziere besprechen oben im Hause die Gefechtslage, andere Kameraden halten sich im Flur oder Vorderzimmer auf. Plötzlich kracht es im ganzen Hause. Fensterscheiben klirren, das Geschirr fällt zu Boden – das ganze Haus zittert. Da werden auch schon die Türen aufgerissen. Wir lehnen uns über unseren mit Scherben aller Art bedeckten Küchentisch und starren durch das offene Fenster: „Eine Sprengung!“, und ich dachte an die Brücke. In der nächsten Stunde erfolgte bereits die feindliche Beschießung des Ortes, sodass wir ihn um 7.00 Uhr wieder verließen, bis wir gegen 4.00 Uhr nachts in Toulis eintrafen. Infolge unterwegs einsetzenden stundenlangen Regens waren wir nicht nur noch müder und steifer geworden, sondern durchgeregnet. In einer großen Scheune untergebracht, packten wir uns in Stroh und erwachten fast trocken am anderen Morgen. Da der Ort nicht verlassen werden durfte, machten Landsturmmann Brandt und Gefreiter v. Grünberg mit mir ein geeignetes kleines Zimmer wohnbar. Zuvor war ich aber in der Nachbarschaft gewesen und hatte mir ein neues, rein leinenes Hemd… gestohlen, um endlich das alte wegwerfen zu können. Bei dieser Gelegenheit entdeckte ich in einem Zimmer eine Zimmer eine selten schöne und wertvolle Kamelhaardecke mit Perlenbesatz. Leider war sie bereits an zwei Ecken zerrissen bzw. verbrannt, sodass sie vielleicht aus diesem Grunde noch hier lag.

 

Als wir unsere Wohnung fast eingerichtet hatte, und nun beabsichtigten, uns von den Strapazen wieder etwas zu erholen (das Zimmer war sogar mit einem gepolsterten Sessel und zwei Hindenburgmatratzen ausgerüstet und eignete sich gut zur Erholung!) kam erst die Nachricht, dass Deutschland heute, am 13.10.18, der Entente geantwortet habe, und dann… „Urlaub ist ab morgen gesperrt!“ – „Das fehlte auch noch!“ – – – Wir hoffen aber, dass alles noch zu unserem Gunsten sich wendet, insbesondere rechnen wir mit baldigem Friedensschluss.

 

 

Am 16.10. landeten wir in Flavigny. Ich liefere auf Befehl meine alten Stellungs- und Armeekarten beim Regimentsschreiber ab und empfange neue, die sofort nach kurzer Besprechung vorzubereiten sind. Grenzen der Brigade sind bereits bekannt. Später erhalten die Bataillone fertige Karten 1:80.000. In aller Frühe des 17.10. wird – wie schon gestern – Alarmbereitschaft gegeben. Schließlich erfolgt 5.30 Abmarsch zu Hauptstraße, wo uns ein Zug – besser: eine Kolonne – von Lastkraftwagen in Empfang nimmt. Wir klettern in die verdeckten Wagen, und die Fahrt ins Ungewisse beginnt. Die Motoren surren, der erste Wagen fährt ab, wir folgen. Es ist dunkel, und nur das Aufblitzen der Geschütze ist zu sehen. Nach schneller Fahrt setzt jetzt ein anderes, langsameres Tempo ein. „Aussteigen!“ heißt´s vorne. Wir sind in Jonqueuse, und ein Führer von der 131 J.D. überbringt seine Aufträge. Dann fügt er fast ängstlich hinzu: „Herr Major, um 7.00 Uhr müssen wir durch sein; dieses ganze Anmarschgelände wird jeden Morgen um 7 Uhr unter Feuer genommen.“ Wir ziehen die Uhr – der eine sieht den anderen mit großen Augen an – 6.50 Uhr. Wir ziehen so schnell wie möglich ab. Eben hatten wir das Wiesental im vor uns liegenden Bergwalde erreicht, als die feindliche Artillerie die von unserem Führer vorausgesagte Beschießung des Geländes vornimmt. Das Feuer wird immer umfangreicher. Vor uns gehende Sanitäter beginnen zu laufen, wir folgen. „Decku…“ – hier her – geradeaus in den Wa… krack raaa-ziiuuu – scht…schtscht… „Hilfe!“ – wir liegen am Boden, ich verspüre Schmerzen am linken Bein, wir springen auf, sehen flüchtig drei Mann – ein oder zwei davon blutend – vor uns liegen, laufen, schreien Deckung – vergebens? Scheu drehen wir uns um – wir suchen Schutz im Dickicht – einer Atempause wegen – Weiter – wir müssen durch. Noch 800 Meter, wir schütteln den im Schweiß sich badenden Kopf – „Mehr rechts halten!“ – hierhe… zin-zu-räääiii-krach. Wieder springen wir auf, machen noch einige 100 m und sehen nun die ersten Leute beim Stabe des fremden Regiments. Wir kommen näher und staunen: kein Graben, kein Unterstand, kein Stollen… das kann interessant werden. Unter den Offizieren findet eine erste Begrüßung und Besprechung statt.

 

„Der Feind liegt vor Mont d´Origny – er hält seit Stunden den Ort – teilweise ist er frei es ist die Aufgabe des III./R.92, den Feind zurückzuwerfen und den Ort freizumachen. Die beiderseitigen Verluste sind keine sehr großen!“ Wir rücken vor bis K.T.K.links. Keine Unterkunft. Auf freiem Felde arbeiten wir uns von der Viermont-Fe. Vor bis vor den Hügel vor dem Wegedreieck. Es gelingt uns, ohne Verluste durch den Wald bis an eine Pappelreihe, die uns vorübergehend Schutz gewährt, zu gelangen. Dann laufen wir unter energischem feindlichen Sperr- und MG-Feuer vor, durch ein Wiesental bin an die letzte Höhe. Eine 80 cm hohe Grabenerhöhung bietet uns etwas Schutz. Wir graben uns bis an die Knie ein, und von vorne wird durchgesagt, dass der Angriff begonnen habe, was uns jedoch schon längst bekannt war durch das entsetzliche MG- und Sperrfeuer des Feindes. Neben uns lagen die ersten Verwundeten, andere wurden – teils mit Erfolg – durch das mörderische MG- und Schrapnellfeuer weiter zurückgetragen. Jetzt liegen etwa 25 bis 30 Mann rechts vor uns und wälzen sich vor Schmerzen in ihrem Blute – – – schänn-iu-iu-iuiuiuuu-ätsch.sch. – „Hier, verbinden!“ ruft Stabsarzt Dr. Reinecke einem Kameraden zu. Er hat einen Querschläger durch die linke Hand erhalten – beim Verbinden der Verwundeten. Rechts und links von uns: Flammen, Elend.

 

Am Spätnachmittag wird – trotz unserer total versagten Artillerie – bekannt: „Das dritte 92. Reserveregiment ist bis auf eine Straßenecke, die der Feind hartnäckig mit schweren MGs hält, im Besitze von Mont d´Origny!“. Der Herr Kommandeur, der mit uns fast in vorderster Linie lag, befahl unseren Rückzug in weiten Abständen, und es gelang uns trotz des Schrapnellfeuers. Wir erreichten die Viermont-Fe. Und bald den Gefechtsstand. Hier verblieben wir ab 7.00 Uhr, bis uns gegen Mitternacht ein Befehl folgenden Inhalts erreichte: „Regiment begibt sich sofort (10-11.00 Uhr) nach Jonqueuse, daselbst stehen Kraftwagen zur Verfügung.“.

 

„Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen!“

 

 

In der Nacht des 17./18.10. gegen Mitternacht erreichen wir nach einstündigem Marsche durch den dunklen Wald die Kraftwagenkolonne. Die Motoren rasseln, schnell klettern wir ein, und in den nächsten Minuten sind wir wieder in voller Fahrt. „Wohin?“ … Achselzucken! Wir versuchen vergebens, der Strecke zu folgen, wir schlafen darüber ein. Wir mußten etwas hinter Guise sein.

 

Allmählich dämmert´s. Erst, als wir erwachen, merken wir, dass wir immer noch fahren. Jetzt begegnen wir Artillerie, Landsturmtruppen, Bagage, Zivilisten. „Dort ist ein Schild!“ – „Iron!“. Ich hole meine Karte hervor – La Neuville – Etreux- wohin nur? Es ist 11.00 Uhr. Da, wieder Lastwagen, Truppen. Alles jagt, hastet an uns vorüber. Das kann nett werden! Einen neuen Durchbruch, kann man vermuten! Der Verkehr auf den Straßen wird lebhafter; Häuser sind jetzt sichtbar – Etreux! Zivilisten drängen sich im Straßengraben, die Fahrstraßen in der Stadt sind überfüllt. Artillerie, Kavallerie, Infanterie, Pioniere, Landsturm, Bagage, Kraftfahrzeuge, alles „rennet, rettet, flüchtet“. Der Verkehr stockt, unsere Lastwagen fahren langsamer, halten. Ein furchtbares Durcheinander. Zschiuuu-uuu-scht-krach-krach… Fensterscheiben klirren, Dachziegel rollen von den Dächern, Balken krachen, wir sehen die Leute nur noch laufen, geschlossene Trupps drängen sich im Eilmarschtempo durch die überfüllten Straßen, Zivilisten flüchten mit ihrer Habe, mit Kind und Brot von Haus zu Haus, retten, rennen, flüchten – ob sie durchkommen? „Retour!“ schreit da ein Wachtmeister, sie lassen sich aber nicht halten, sie brechen zusammen! Das eine Kommando wird durch das andere übertönt! Pferde bäumen sich, um im nächsten Augenblick vorzuspringen, durchzulaufen. Kinder schreien, Granaten krachen. Unbeschreiblich!

 

Unsere Wagen setzen sich langsam in Bewegung! Gott sei Dank! Sekunden waren´s, entsetzliche. Nach kurzer Fahrt müssen wir raus. „Der Engländer ist durchgebrochen!“ geht´s durch die Reihen. „Alles fertigmachen! Ohne Tritt… marsch!“… wir marschieren, laufen, in Richtung Le Ceteau – Catillon – La Groise.

 

 

In La Groise angekommen, gehen wir seitwärts der bereits unter feindlicher Artillerie liegenden, über den Sambre-Kanal führenden Pappelallee bis auf das hinter Teichen gelegene freie Gelände. Plötzlich wird es im nahen Walde unsicher. Freund oder Feind? Wir sind mit 4 Offizieren 18 Mann! „Laden und sichern!“ – – – daran hatte wohl von uns keiner gedacht. Wer hatte Munition? Ich nicht… doch, zwei Rahmen, in den Patronentaschen hatte ich meine Zeichentuschen. Im ganzen mochten mir 300 Schuß zur Verfügung stehen, einschließlich Reservemunition. Trotzdem gehen wir bis auf die vor uns liegende Geländeerhöhung vor, legen uns in eine geeignete Furche und warten auf die Dinge, die da kommen sollen. Währenddessen versucht unser Herr Kommandeur, sich Gewißheit über die allgemeine Lage, insbesondere aber über den Verbleib seines Regiments, zu verschaffen. Dies gelang jedoch erst am Abend, als wir beabsichtigten, uns zurück zu ziehen. Wir waren uns wie ein kleines Häufchen Unglück vorgekommen, als wir hier auf dem ungeschützten Felde lagen und auf den später mit unzähligen Wellen angreifenden Engländer warteten. Wir gehen also zurück und beziehen in la Groise um 6.30 Uhr Quartier.

 

Das Quartier war gut. Zivilisten schienen es noch nicht lange verlassen zu haben. Wir richteten uns im Vorderzimmer ein und bezogen es. Nachdem wir unser Bad und den letzten Kaffee geteilt hatten, legten wir uns nach drei aufregenden Tagen endlich einmal wieder schlafen. Außer einigen in unmittelbarer Nähe unseres Quartiers krepierenden Granaten störte uns nur noch ein ab und zu vernehmbares Wagen- und Pferdegerassel.

 

Am 20.10.18, gegen 9.00 Uhr, standen wir auf und bereiteten uns sofort ein großzügig zusammengestelltes Mittagessen aus Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Sellerie und Kohlrabi. Ein ovaler Mahagonitisch wurde mit schneeweißen Servietten und Tellern bedeckt, jeder nahm auf einem der Polsterstühle Platz, empfing sein dreiteiliges Essbesteck und langte nach Herzenslust zu. Sogar Wein wurde aufgetischt! Das war mal wieder etwas anderes! Da auch am nächsten Tage die Küche nicht durchkam, wiederholten wir unsere „Selbsthilfe“, allerdings schon in anderer Stimmung. Seit dem Vormittage hatte der Feind die Dorf- Ein- und Ausgänge unter Feuer, jetzt beschoß er das ganze Dorf. Ich hatte vor dem einen Straßenfenster meinen Zeichentisch, ein ehemaliges Serviertischchen, aufgestellt, den ich aber in den Keller brachte, als wir zu Mittag gegessen hatten. Oekermann meinte, als ich noch einige stehengebliebene Tuscheflaschen nachholen wollte, ich brauche doch nicht im Keller zu arbeiten, und in diesem Augenblick saß der erste Volltreffer im Vordergiebel. Anscheinend waren außer einem total zersplitterten Fenster auch die Tür und die Wand stark mitgenommen. Ich brauchte meine Flaschen nicht mehr nachzuholen: sie waren kaputt. Während meine vorgenannten, seit 1914/15 im Felde befindlichen Kameraden in dem bedrohten Zimmer blieben, ging ich über den mit Kalkstaub bedeckten Flur in den Keller zurück. Im selben Augenblick gab es einen gewaltigen Krach – der Dachstuhl schien auseinandergeschossen zu sein. Ein kurzer Schrei…. „Löser, Löser!“… Der alte Sanitäter, Sgt. Löser, rennt hinauf – – – „Noch zwei Mann, bitte!“ – – – im nächsten Augenblick trägt man den Gefr. Pahland zu uns in den Keller und legt ihn auf eine hierher transportierte Matratze, die beiden anderen, Oekermann und Tödter, folgen. Während Pahland das Blut aus der Brust strömt und man sich vergebens bemüht, etwas aus ihm heraus zu holen, verschied er, ohne noch ein einziges Wort, einen letzten Wunsch herauszubringen. Tödter und Oekermann aber werden beide verbunden. Tödter, der schwer verwundet worden war, wurde sofort zurückgebracht, Oekermann verblieb wohl bei der Truppe.

 

Das Feuer nahm zu und währte die ganze Nacht. Zivilisten flüchteten sich in ihre Keller; ein alter Franzose suchte seine Cousine, um bei ihr Zuflucht zu finden. Unsere Küche läßt sich heute zum ersten Mal wieder sehen. Kameraden bringen einer französischen Greisin in ihrer halb zerschossenen Hütte etwas zum Essen, aber vergebens. Einen Grund habe sie nicht, sie wolle sterben – ohne, jemand in ihrer Nähe zu wissen.

 

 

Es ist Nacht, aber an Ruhe ist nicht zu denken. Der 25.10.18 beginnt und wir sitzen noch immer im Keller. Fast sämtliche Fernsprecher haben sich in unserem „Unterstand“ versammelt, weil sie ihre Quartiere, die teilweise zerschossen waren, verlassen mussten. Das Feuer lag jetzt vorwiegend in unserer nächsten Umgebung, und wir rechneten jeden Augenblick mit unserer Vernichtung. „Hallo, die Leitung ist unterbunden!“, die erste, die zweite, dritte und schließlich vierte Patrouille sind unterwegs – vergebens! Der Draht ist total zerschossen. Wiederherstellung der Leitung ist ausgeschlossen. Gegen Morgen wird das Feuer sehr heftig, um bald nachzulassen und schließlich ganz aufzuhören. Ich versuche, mir einmal das Gelände anzusehen, es ist jetzt ruhig und auch hell genug, aber es liegt mir nicht, ungewöhnliche Begebenheiten zu schildern, wenn ich schon selbst – ohne genauer hinzuschauen – davon laufe.

 

Am 26.10.18 erfolgen alle 20 Minuten feindliche Feuerüberfälle, die uns zwingen, unseren zerstörten Stand aufzugeben. Gefr. Pahland, der Frau und ein Kind hinterläßt, ist hinter unserem Quartier an einer Hecke beerdigt worden. Gefr. Rullkötter hat ein eichenes Kreuz gearbeitet, und ich zeichnete die erforderlichen Worte darauf. Noch am Vormittage liefen wir in das nächste Haus, das noch unversehrt war und in dem der Stab lag. Fast jedes Haus ist angeschossen oder zerschossen, furchtbar. Zivilisten sitzen in Kellern, teils bereits gaskrank, teils zusammengeschossen. Vergebens versuchen unsere Sanitäter, sie aus den Kellern zu holen und in Sicherheit zu bringen. Sie sind nach unserer Auffassung verloren. Draußen laufen Jäger und Artilleristen, letztere teils mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, „Der Engländer ist durchgebrochen, die Artilleriestellung ist verloren!“. Unsere Division hat sich zurückgezogen. Gegen 1.30 Uhr nachmittags vermögen wir uns in unserem bedrohten Hause nicht mehr zu halten, um 2.00 Uhr rücken wir in Richtung Prisches bis zur Madame-Fe. Ab.

 

Schnell wurden die Kisten aufgeladen, dann fuhr der Regimentswagen vor, und wir waren froh darüber. Einzeln verlassen wir den Keller, um auch einzeln in 100 m Abständen durch die unter feindlicher Artillerie liegende Straße ins freie Gelände zu gelangen. „Rechts!“ ruft mein Hintermann. Vor uns steht die Kirche, das Wahrzeichen von La Groise, fast unbeschädigt, während es in den Straßen „kriegsmäßig“ aussieht.

 

Allmählich verschwindet La Groise hinter uns, aber wir sind noch im Feuerbereich der feindlichen Artillerie. Links am Wege – einer Waldstraße – liegt ein Pferd, etwas weiter rechts im Walde liegen zwei; die Straße läßt hier und da gut liegende Granateneinschläge erkennen. Wir beeilen uns, durch den Waldabschnitt zu kommen, und erreichen denn auch ohne Verluste unseren neuen Stand: die Madame-Ferme zwischen La Groise und Prisches.

 

Wir beziehen das Hauptgebäude. Der „Salon“ wird für unsere Offiziere eingerichtet, das Nebenzimmer, eine Küche, wird Schreib-, Ordonnanz- und Zeichenzimmer. Die letzte Tür, ein Seiteneingang, an der linken Hausfrontseite führt zur Küche für die Offiziere, in den übrigen Gebäuden sind die Burschen, Meldefahrer, Fernsprecher usw. untergebracht.

 

 

Schnell haben wir uns in Madame-Ferme eingelebt, aber ebenso schnell haben wir uns auf Dinge vorbereitet, die wir in Anbetracht der Lage und des Umfanges unserer Ferme voraussehen wollten. Es dauerte nicht lange, bis der uns gegenüberliegende Engländer sich die Ferme als Zielscheibe ausgesucht hatte. Am 27.10. erfolgte gegen Mittag unsere erste Beschießung mit sogenannten „Stollenquetschern“. Am 28.10. passierte nichts besonderes. Wir lernten durch Zufall den Verwalter der Ferme kennen, der außer seiner Sympathie bewirkenden Schlagworte „nicks gut!“ oder auch „Krieg nicks gut – alles kaputt!“ nichts weiter über die Lippen zu bringen vermochte und auch als „harmlos“ bezeichnet werden konnte. Als sich im Laufe der nächsten Tage herausstellte, dass wir uns nur noch in den unteren Räumen – Keller und Erdgeschoss – aufhalten konnten, teilte er sehr oft seinen Aufenthalt mit uns. Dann kam es nicht selten vor, dass er uns Äpfel brachte, die, nachdem wir ihn alle näher kannten, gern genommen und gegessen wurden.

 

Am 29.10. liegt die feindliche Artillerie vorweg auf den Straßenkreuzungen und Artilleriestellungen. Eigene Verluste sind gering. Am 20.10. vormittags herrscht im allgemeinen Ruhe, nachmittags 2.30 Uhr wurden wir eine Viertelstunde lang ununterbrochen beschossen, und es schien uns, als wenn der Engländer in dieser Ferme tatsächlich noch Truppen vermutete, denn diese Beschießungen wiederholten sich jetzt öfter. Dadurch wurde die nahe Straße unsicher und mancher Kamerad, manches Pferd, wurde in die Enge getrieben. Am 31.10.18: dasselbe Feuer im Hintergelände.

 

 

Heute ist der Friedensvertrag mit der Türkei unterzeichnet worden. Die Stimmung wird aber dadurch nicht mehr gehoben. Soll ich überhaupt einmal eine Meinung über Truppenstimmung äußern, so stelle ich in den Vordergrund die moralische Wirkung unseres Rückzuges seit Anfang des Monats, und nicht zuletzt die teilweise begründeten Klagen über ungleiche, unzureichende oder schlechte Verpflegung, schließlich auch das mangelnde Einvernehmen vieler Reserveoffiziere mit der Truppe. So durfte es auch nicht verwundern, wenn Befehle verschiedener Offiziere mit den Worten „Licht aus! – Messer raus!“ empfangen wurden, Aussprachen mit den Schlagworten „Haut ihn!“ unterbrochen wurden und so weiter. Wir wurden allmählich gleichgültig, und nur wenige Truppen bewahrten die unbedingt erforderliche Disziplin. Meutereien und ähnliches wurden zu alltäglichen Geschehnissen, Gehorsamsverweigerungen nahmen zu und Entfernungen von der Truppe, das Letzte eines Soldaten, häuften sich. Wenn es aber trotzdem Soldaten gab, die, ohne Rücksichtnahme auf den ihnen stündlich vor Augen stehenden Tod aushielten, so gebühret ihnen besonderer Dank. Sie waren Männer, wie sie eine zweite Nation bis dato noch nicht nachzuweisen vermochte. Und hier sei festgestellt, das es sich vorwiegend um solche Männer handelte, die, in den reifen Mannesjahren, im Glauben an ihr Vaterland, ihre Pflicht, ja, viel, viel mehr getan haben „wollten!!!“.

 

 

So stehen wir dem Sturm,

 

bis er uns bricht!

 

(Medea I)

 

 

Der 1. November 1918! Noch singt der grausame Krieg sein Lied! – Der Stand liegt heute wieder unter Feuer, auch das Hintergelände ist bedroht. Wir haben keine Verluste! Mein Vetter August liegt, wie ich festgestellt habe, in meiner unmittelbaren Nähe. An ein Treffen ist jedoch zur Zeit nicht zu denken. Gegen Abend wird es etwas ruhiger. Die Nacht verbringen wir im Keller.

 

Am anderen Morgen lockt uns ein fast unnatürliches Flugzeuggeräusch an die Fenster: etwa 18 bis 20 feindliche Flugzeuge etwa 200 m über der Erde! „Das wird noch interessant!“, meinte Gefreiter von Grüneberg, aber heute sahen wir sie nicht wieder. Gegen Mittag begann der Engländer anscheinend eine planmäßige Beschießung der vor der Ferme vorbei führenden Hauptstraße und am Spätnachmittag vergaste er das ganze Vorgelände. Eine Gaskranke wurden festgestellt. Von 9.00 Uhr nachts ab lebhafte Tätigkeit des Feindes.

 

Was alles am 3. und 4. November passierte, vermag ich nur noch teilweise anzugeben. Wenn ich es bisher versäumt habe, meinen Gefährten, den Unteroffizier, späteren Vizefeldwebel K.H.Müller (Osnabrück) – Regimentsschreiber! – zu erwähnen, so geschieht dies hier, bevor ich die letzten mit ihm zusammen verbrachten Kriegstage zu schildern beginne.

 

 

3.11.18: Gegen 7.00 morgens ist es unseren tapferen Sanitätern gelungen, einen weiteren Teil der in den Kellern von La Groise schon halb verhungerten Zivilisten zu retten, und, soweit es möglich war, hierher zum Stand zu bringen. Diese wohl kopflosen Menschen waren von der feindlichen Artillerie mit in Leidenschaft gezogen; sie waren verwundet und vergast. Entsetzliche Bilder, Augenblicke größten Ernstes und Erhebens rollen sich vor unseren Augen ab. Hier steht ein alter Greis, dort stehen, taumeln Frauen und würgen vergebens – vergast! Eine Frau, eine Ziege am Strich führend, ist ganz kopflos – – – blind ist sie – – – und das Tier ebenfalls. Sie werden nach diesen und jenen wichtigen Angelegenheiten gefragt, sie schauen gläubig unsere sie befragenden Offiziere an, sie weinen! – – – Vorne wird es wieder unruhiger, und bald liegt das Feuer wieder auf dem ganzen Gelände. Sie werden abgeführt, teilweise in Wagen der Sanitätskolonne in die Etappen gebracht. Was aber mag man mit den anderen, noch in la Groise hungernden, gaskranken – toten – Menschen angefangen haben? Sie wollen sterben, aber sich nicht von unseren Sanitätern retten lassen!

 

Während man den geretteten Teil in Sicherheit zu bringen versucht, liegt unsere Ferme wieder unter Feuer. Wir flüchten uns in die etwa 700 m östlich liegenden, fast unbeschädigten Arbeiterhäuser, suchen den niedrigen Kellereingang, und in diesem Augenblick fliegen wir aus der Hintertür in den kahlen Graben. Als wir wieder zu uns kommen, stellen wir fest, dass der noch vor Sekunden beschrittene Hauseingang einen Volltreffer erhalten hatte. „Blindgänger oder Stollenquetscher!“ sagte Sergt. Thessing, und als ein anderer Schuss auf der nahen Hauptstraße lag, fiel uns ein, dass gerade vor unserm neuen Quartier (einer Kurve) 16 2-Zentner-Minen eingegraben waren, um den Weg zu gegebener Stunde sprengen zu können. Schnell wurden wir uns über die Folgen eines unglücklichen Volltreffers klar, lieber die bis jetzt wesentlich beschädigte Ferme wieder zu erreichen, was uns ohne Verluste gelang.

 

Am Mittag beginnt eine selten rege Fliegertätigkeit, während sich unsere Kampfstaffeln „50 Kilometer“ (Nach amtl. Mitteilung) zurückgezogen haben. Unsere Abwehr ist verschwunden, die Artillerie hat Befehl, sich unauffällig zurückzuziehen!!!! – – – – so geht der 3.11. dem Ende, der langen, schlaflosen Nacht entgegen. Erst nach Mitternacht gelingt es uns, zu schlafen.

 

Nach fünfstündigem Schlafe weckt uns ein unerwartetes, die ganze Front beherrschendes feindliches Trommelfeuer. Es hatte gegen 7.00 Uhr morgens begonnen und bis jetzt, 9.45 Uhr, noch nicht nachgelassen. Der von unseren Offizieren bewohnte Raum mußte geräumt werden, um den Schwerverwundeten einen für die notwendigste Behandlung geeigneten Raum bieten zu können. Gegen 9.00 Uhr stürzt ein Reservist in die Haustür, sieht uns groß an und stottert: „Herr Major…“. Wir bringen den fast vor Aufregung zusammenbrechenden Kameraden zu unserm Kommandeur, und letzterer sieht´s ihm an: er bringt noch kein Wort über die Lippen… vor Aufregung (?). Wir sehen uns alle groß an, und währenddessen zieht der Kommandeur sein Zigarettenetui, recht´s dem Tapferen und wünscht, dass er erst eine Zigarette rauche und dann rede….! Und er tat´s! Unruhig und zitternd, fast geistesabwesend, hält er die Zigarette zwischen schweißbedeckten Fingern… wir reichen ihm Feuer, und er setzt sich auf die Kellertreppe, er raucht und beginnt, zu berichten, allmählich, Wort für Wort, und wir hatten uns nicht getäuscht: wir sind erledigt! – – – – –

 

Der Engländer und Franzmann sind sozusagen durchgebrochen! Unsere Armee vermag nicht den erforderlichen Widerstand zu leisten. Die beiderseitigen Verluste sind groß. Angriffe des Feindes mit seinen unübersehbaren Truppenmassen stehen erneut bevor oder haben begonnen.

 

Ein Verlassen der Ferme ist in Anbetracht der unzähligen, aus 50 m Höhe schießenden oder Bomben abwerfenden Flugzeuge – 150 bis 200 waren im Augenblick gezählt! – zur Zeit ausgeschlossen. Die linke Dachseite hat einen kleinen Treffer erhalten, unsere Umgebung ist von Granaten aufgerissen. Ich versuche, durch den Verwundetenraum in die fast noch unbeschädigte Scheune zu gelangen, aber hier ist kein Durchkommen, der eine Verwundete liegt neben oder über dem anderen im Blute und eine entsetzliche Luft erfüllt den großen, stattlichen Raum, und ein Jammern und Stöhnen… schnell verschwinde ich über den Hof in die nahe Scheune. Eine Bedürfnisanstalt war offiziell noch nicht vorhanden, und finde hier einen Kameraden – Artillerist oder Pionier! – unter einem Zelttuch; nur die Beine und Schuhe verraten es mir, dass es sich überhaupt um einen Menschen handelt. Der schläft hier doch nicht, dachte ich und versuchte, ihn zunächst einmal anzurufen, aber ich erhielt keine Antwort mehr, er mußte tot sein. Vorsichtig hob ich den halbhellen Scheunenraum das Zelttuch auf und… es war ein furchtbarer, unheimlicher Anblick!….. er war tot – der Kopf war vom Rumpf getrennt!

 

Vom Gesehenen berichtete ich meinen Kameraden, und einer von ihnen meinte, gesehen zu haben, wie von einem Volltreffer überraschten Kanonieren die Scheune Schutz bieten sollte, und wie man einen Kanonier dort hinein geschafft habe. Alsdann erfuhr ich, dass die gesamte Bagagebeteiligung Befehl erhalten habe, sich sofort bis zu der durch Pfähle und Draht kenntlich gemachten „H.W.L.“ („Hauptwiderstandslinie“) zu begeben. Und dann erhielten wir Befehl, uns bereit zu halten.

 

„Wir sind erledigt!“ – „erledigt?!“ – unser Kommandeur schreitet mit ernster Miene durch den Flur – in den Keller. Gegen 12 Uhr mittags hielt Herr von Kummer den Zeitpunkt für gekommen, die Stellung aufzugeben: „Fertigmachen!“ schallt es halblaut durch den Flur, und wir schnallen unseren Tornister und stehen marschbereit im Flur. Scheue Blicke hängen an den schmutzigen Scheiben, durch die man die zahlreichen Flieger beobachtet; das Feuer hat nachgelassen und ein abermaliger feindlicher Angriff scheint uns, unseren treuen , tapferen Kameraden, bevorzustehen.

 

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Unsere Brigade hat soeben ihr Quartier verlassen, und wird es möglicherweise von uns bezogen. Die Offiziersküche ist unterwegs mit allen Gerätschaften. Wir stehen – wie auf heißen Kohlen – vor der Haustür, um in einem geeigneten Augenblick abzurücken. Kurz entschlossen geht unser Kommandeur vor und wir folgten ihm in angemessenen Abständen. Unteroffizier Müller und ich laufen als fünfter bzw. sechster nach, und einen entsetzlichen Anblick bietet die erste Straßenkurve bei den kleinen Arbeiterhäusern. Eine feindliche Granate erreichte hier mehrere Artilleristen, und zwei oder drei von ihnen lagen seitwärts zerrissen im Graben. Schnell gings über die Straße in die durch Hecken abgegrenzten Wiesen. Über uns rattern und knattern in allen Gegenden die feindlichen MGs und scharf halten wir uns an den wenigstens etwas Schutz bietenden Hecken. Außer einigen vor und hinter uns eingeschlagenen Granaten passierte es uns noch, dass wir plötzlich vorübergehend halten mußten, um einen über uns kreisenden Flieger erst abziehen zu lassen. Dann geht’s weiter, bis wir schließlich über Wiesen- und Gartengelände in Erruart [?] anlangten. Wir steuerten erst auf ein Gehöft, aber ehe wir alle am Platze waren, deckte ein Volltreffer das halbe Dach ab. Unteroffizier Müller lief schnell zurück hinter mir her und ich versuchte, wegen der zunehmenden Beschießung durch eine nicht wenig dreckige Dorfgasse das nächste Haus zu erreichen. Die Hälfte des Weges erreicht, überrascht mit ein Stollenquetscher, und ehe ich einen einzigen Augenblick überlegen konnte, lag ich im Dreck. Müller, der diese fatale Lage zu übersehen vermochte, drehte um, und währenddessen ich aufstand, um weiter vorzuspringen, kam eine zweite Granate, die mit einer unbeschreiblichen Wucht fünf bis sechs Schritt hinter mir in den Weg ging, einen Baum zerrissen und mich in den Heckengraben – zwischen Brennesseln und Schlamm! – befördert hatte. Mit knapper Müh und großer Not erreichte ich dann das nahe Häuschen, und meine Kameraden und zwei alte Französinnen, die gespannt die Einschläge beobachteten, schienen sich darüber zu wundern, dass ich durchgekommen war. In der einen armseligen Eindruck machenden Franzosenhütte angekommen, brach ich fast atemlos zusammen. Eine der alten Franzosenfrauen reichte mir eine Schüssel mit noch dampfenden, sogenannten Pellkartoffeln, von denen ich eine aß. Dann aber suchte ich das Quartier unseres Kommandeurs. Niemand von den hier herumlaufenden Truppen wollte auch nur einen von unserem Regiment gesehen haben, und ein mir fremder Kamerad versuchte mir sogar plausibel zu machen, dass unser Herr Kommandeur schon längst mit seinem Pferde in Richtung Fayt davongeritten sei. Schließlich stellte ich fest, dass unser Kommandeur im Nachbarhause, das einen guten Eindruck machte, sein Quartier aufgeschlagen hatte, und zwar in demselben Hause, das jetzt erst von unserer Brigade verlassen wurde. Vorne war es ruhiger geworden, und wir rechneten damit, uns etwas ausruhen zu können.

 

Wir fühlten uns in dem neuen Quartier, welches außer uns noch von einer etwa 55jährigen Französin und ihrer angeblichen Tochter bewohnt wurde, sehr wohl, und ich kam mir in meinen naßdreckigen Beinkleidern vor, als hätte man mich aus grimmiger Kälte hinter einen warmen Ofen gesetzt. Früh suchten wir den Keller auf, um uns in einen von diesem ausgehenden Unterstand zu begeben und uns auszuruhen. Noch einmal ziehen die seltenen Bilder des bald vergangenen Tages an uns vorüber, und in den Vordergrund drängen sich u.a. unsere heute gefallenen Kameraden von der Ina: Unteroffiziere Glitz und Eggert. Beide sind sie ein Opfer der feindlichen Flugzeuge geworden!

 

 

Mitternacht! Wir müssen wieter zurück. Um 12.10 Uhr nachts (4. Zum 5.11.) rücken wir ab. Bald haben wir Erruart hinter uns und wir „Müden“ marschieren durch die dunkle Nacht. Jetzt tauchen die ersten Häuser vor uns auf! Wir sind in Le Grand Faytr und werden um 1.35 Uhr nachts in dem nordöstlichen Häuserviertel untergebracht. Um 5.00 Uhr morgens hat das Häuserviertel einige feindliche Treffer erhalten, und wir werden in einer Schule an der Hauptdurchfahrtsstraße untergebracht.

 

Man berichtet, dass von 830 Mann Grabenstärke noch 380 bis 390 kampffähig seien. Unsere Division sei nicht mehr kampffähig. Von der übrigen Front liegen keinerlei Meldungen vor. Unerwartet erscheint Herr General Meister, unser Divisionskommandeur, und begrüßt uns in dem oberen Schulhausflur. Er zog sein Zigarettenetui und reichte es uns von Hand zu Hand und meinte, dass nun bald „Schluß“ sei. Fast hätten wir uns schämen müssen in unseren schmutzigen, von Schutt und Lehm bedeckten Anzügen, aber es war ja noch Krieg! Gegen 10.00 Uhr (nachts?) marschieren wir weiter nach Dompierre, und nahmen beim Chateau Dompierre bis 11.00 Uhr Quartier. Wir mußten aber dieses Quartier sofort wieder verlassen, weil unser rechter Flügel durchzubrechen drohte. Über St. Aubin – Doulers erreichten wir endlich ein Quartier, in dem wir eine Nacht zubrachten.

 

 

Die Nacht vom 6. Zum 7. November 1918 war am frühen Morgen des siebten, 5.00 Uhr, vorüber, und wir mußten wieder weiter. Als wir uns so gut wie möglich verpflegt hatten, war es 8.00 Uhr, ehe wir weitermarschierten. In allen Orten und auf allen Straßen herrschte ein reges Treiben. Infolge der vorgenommenen Wege- und Brückensprengungen war es unseren Feinden nur möglich, mit höchstens leichten Geschützen den Verfolgungskampf zu begleiten, und so war insofern für uns der furchtbare Artilleriekampf abgeschwächt worden.

 

Am 7.11. vormittags erreichten wir Eclaibes und bezogen hier neben der Schule ein Bodenquartier, welches wir aber bald wieder räumen mussten und stattdessen die nahe Schule bezogen. Gegen Mittag erschienen feindliche Flieger, die trotz des noch nicht hochgegangenen Nebels Bomben abwarfen. Unsere schwere Artillerie hatte stellenweise ihre Stellungen im Stich gelassen. Selbst inmitten unseres augenblicklichen Aufenthaltsorts Eclaubes stand ein 21er Mörser. Ein Kamerad und ich machten uns an dieses hier herrenlos stehende Geschütz heran und stellten mit größter Freude fest, dass in dem am Geschütze angebrachten Werkzeugkasten noch etwa 400 Zigaretten, Schuhcreme usw. lagerten, die wir unter unseren Kameraden verteilten. Gleicht nach dem Mittag brachten unsere Kameraden einige englische Gefangene ein, von denen drei etwa 18-20 Lenze zählten. Um 5.00 Uhr erreicht uns eine Nachricht, dass der Engländer auf Eclaibes im Anmarsch sei; 5.10 Uhr rücken unsere Kameraden bis vor die Gärten. Wir haben Befehl, vor 6.00 Uhr den Ort nicht zu verlassen. Der Herr Kommandant beabsichtigt trotz der bevorstehenden Einnahme von Eclaibes den Befehl durchzuführen. Im nächsten Augenblick zischen die ersten MG-Kugeln durch die Straßen, Kameraden aller Frontformationen laufen in den Straßen zusammen, sie werden schnellstens wieder verwandt. Zivilisten verschwinden allmählich in ihren Kellern. Ein dichter Nebel beginnt sich in der inzwischen eingetretenen Dunkelheit an Abhängen und im östlichen Wiesental zu verstecken. Es war 6.00 Uhr, als wir Eclaibes endlich verließen. Wir waren froh, diese unruhigen Augenblicke hinter uns zu haben. Aber wir kamen aus dem Regen in die Traufe. Infolge des Nebels und der zunehmenden Dunkelheit lag das feindliche MG-Feuer jetzt bereits auf der von Lunont-Fonaine nach Beaufort führenden Straße, die wir, um schnellstens Beaufort zu erreichen, und um mit der in allen Straßengräben aufgestellten leichten Artillerie nicht in Konflikt zu geraten, benutzen mussten. Wie alles im einzelnen war, weiß ich nicht mehr. Über Verluste meine ich nichts gehört zu haben. Als wir die Armeestraße überschritten hatten, blieben wir bis Beaufort in Sicherheit. Wir bezogen hier in der Dorfsmitte Quartier in einem Bauernhause und schliefen sogar mal wieder eine ganze Nacht auf Stroh. Ein kleine Feldofen tat dabei seine Schuldigkeit.

 

 

Am frühen Morgen des 8. November 1918, 5.00 Uhr: Alarm! Um 6.00 Uhr liegt Beaufort unter feindlichem Artilleriefeuer, sodass wir sofort unser Quartier räumen müssen. Unvorsichtigerweise brannte der Feldofen in unserem mit Stroh gefüllten Zimmer weiter, niemand wollte jedoch noch einmal zurück durch die lebensgefährlichen Straßen, weshalb es nicht ausgeschlossen blieb, dass der Gebäudeteil abbrannte. Die bis zum Spätnachmittag zugenommene feindliche Artillerie hatte natürlich die im Dorf zurückgebliebenen Artilleristen in die Keller getrieben. Gegend Abend erschien eine Zivilistin und bat, den in Jammer, Elend und Not umkommenden Kindern und Greisen Schutz zu gewähren, aber es konnte doch niemand helfen, da es nicht an uns, sondern an der feindlichen Artillerie lag.

 

Am selben Abend, 8.50 Uhr, wurde bekannt, dass unsere 19. Reserve-Division kampfunfähig sei und sofort abgelöst wurde. Gott sei dank trafen in der nächsten Viertelstunde uns ablösende Truppen ein. Wir wurden nach Cerfontaine in Marsch gesetzt. In der Nacht vom 8. Auf den 9. November trafen wir dort vollkommen ermattet ein. Als wir Beaufort verlassen hatten, sahen wir zum letzten Male die unserer Marschstraße nahen Leuchtraketen, die unter Trommelfeuer liegenden Häuser von Beaufort und schließlich ab und zu die Einschläge unserer in der Feste Mauberge ununterbrochen tätigen Festungsartillerie. Die Stadt Mauberge selbst brannte in verschiedenen Stadtbezirken, so dass es zeitweise hell zu uns herüberleuchtete. Den Rest der Nacht verbrachten wir in dem bereits erwähnten Cerfontaine – in einem großen, mit Hindenburgmatratzen ausgerüsteten Raume.

 

 

Am Morgen des in unserer neuen Geschichte besonders wichtigen 9. November 1918, am Tage des Zusammenbruchs unserer siegreichen Armee, rückten wir um 6.00 Uhr nach Jeumont ab. Von dort aus durchquerten wir die herrlich am Berge liegenden Ortschaften Jeumont-Solre am Sambrekanal, um in Solre Quartier zu beziehen. Während wir in einer Hauptstraße inmitten der Ortschaft Halt machen, wird von den Pionieren bekannt gegeben, dass sich „Alles in Sicherheit!“ zu begeben habe. „Die Eisenbahnbrücke soll gesprengt werden!“ hieß es, und wir liefen in ein modernes Gasthaus, um die Dinge, die da kommen sollten, abzuwarten. Im nächsten Augenblick erzitterte die ganze Stadt und eine folgende, furchtbare Detonation sprengte nicht nur die große, eiserne Sambre-Brücke mitsamt den Eisenschienen, sondern durch den Luftdruck auch fast jede Scheibe. Decken, ja, sogar Häuser stürzten ein oder wurden schwer beschädigt.

 

Gleich nach diesem interessanten Schauspiel erfolgte unser Weitermarsch. Wir überschritten die belgisch-französische Grenze und bezogen in Solre sur Sambre Quartier in einer an der nach Gury führenden Straße gelegenen Villa. Hierselbst im 10.30 Uhr v. angekommen, übernachteten wir hier bis zum Spätnachmittag des 10.11.18.

 

 

Schon am frühen Morgen des 10. November begann eine rege Fliegertätigkeit des Feindes. Unser Kommandeur, der mit seinen Offizieren die schräg gegenüberliegende Villa bezogen hatte, schaute heute ernst in die Welt. Er wußte, was unserem Vaterlande bevorstand und schwieg auch nicht darüber. Noch an jenem Morgen widerrief er die zweifelhaften Gerüchte, die sich wie ein Lauffeuer durch die Truppenketten im ganzen Westen zu drängen versuchten, nämlich u.a.: „Unsere sämtlichen Rheinbrücken sind gesprengt!“, „Kronprinz Wilhelm ist erschossen!“, „Kaiser Wilhelm ist ermordet worden!“ – „Das glaube ich nicht!“, hatte er gesagt, und als er mittags mit uns zusammentrat, sagte er, es sei morgen Schluß. Und in seinen weiteren Worten lag etwas Wehmütiges, Trauriges; seine von uns mit größter Aufmerksamkeit aufgenommenen Worte, die baldigst Verbreitung fanden, schloss er, indem er an ein Zusammenhalten erinnerte und schließlich die Worte, die er in den letzten Kriegstagen schon einmal gesprochen hatte, wiederholte: „Armes Deutschland!“.

 

Während noch die Eisenbahn-Überführungsbrücke gesprengt worden war, erging Befehl, sämtliche Sprengungen mit Rücksicht auf die schwebenden Waffenstillstandsverhandlungen sofort einzustellen, indessen der Kampf an der Front anhielt. Unsere Artillerie wurde am Nachmittag wieder lebhafter.

 

Wir marschieren um etwa 5.00 Uhr ab und treffen 6.00 Uhr abends in Fontaine-Valmont a.d. Sambre ein, wo wir um 8.45 von einem kleinen Quartier in die Schule ein- beziehungsweise umquartiert werden. Hier verbringen wir eine ruhige Nacht.

 

 

In aller Frühe des 11. November 1918 wird es in unserem Quartier unruhig. „Heute wird der Waffenstillstand bekannt gegeben!“, rief unsere Ordonnanz durch das geräumige Quartier. „Um 11.55 Uhr erfolgt die Bekanntgabe durch Funkspruch, haben mir vorhin die Funker drüben gesagt!“, ruft ein anderer Kamerad, und dann war es mit dem Schlaf vorbei. Gegen 8.00 Uhr empfingen wir unseren Morgenkaffee. Als wir diese „Morgenarbeit“ nach langer Zeit einmal wieder ordnungsmäßig verrichtet hatten, surrte es über uns! – „Der Franzmann!“ sagte einer, und er war´s auch. Gar nicht hoch über uns flog er, und wir rechneten schon damit, dass er sich etwas merken ließ, aber er zog ab.

 

Dann aber machte ein leiser, kühler Wind auf, als wollte er uns Kunde bringen von dem Ergebnis der Verhandlungen. Wir hatten aber noch eine Stunde Zeit und ich nutzte sie aus, um meine Kartenarbeiten, die nunmehr nur noch in dem Einzeichnen von Marschrouten bestand, zu erledigen. Da wird plötzlich zum Essenholen gerufen, und eine halbe Stunde später: Punkt 11.55 Uhr!

 

 

„Waffenstillstand!“

 

 

Endlich!

 

Endlich?

 

Armes Deutschland!

 

 

Ich laufe auf den nahen Hügel und horche: jetzt müßte doch Schluss sein, oder sind das Freudenschüsse? Wo Glocken klingen, werden sie klingen und verkünden! Trauer, Freude und Leid – Sieg!

 

Die Straßen werden allmählich wieder ruhiger, und eine seltene Stimmung herrscht unter den Truppen.

 

Um 2.00 Uhr marschieren wir weiter!

 

 

 

Epilog

 

 

„In der Heimat, in der Heimat, da gibt´s ein Wiedersehn!“ summts durch die Lüfte. Wir vermögen es noch gar nicht zu fassen, das Große, heute Geschehene, und immer wieder dringt es durch, ganz seltsam, das alte Lied des Krieges.

 

Wieder weht ein kühler Wind über den freien Dorfplatz, über die Häuser und Gärten von Fontaine-Valmont, unten im Tale, wo derselben Wind das rotbraune, letzte Laub von den hohen Pappeln fegt, fließt ruhig das Wasser, die Sambre. Noch einmal gedenkt man den unzähligen Toten, die sie gesehen hat im Sturm 1914, beim Rückzuge 1918. Zivilisten schauen aus ihren Hütten, und allmählich sammeln sich die Kameraden zum Abmarsch, zum Marsch in die ferne, ferne Heimat!

 

„Ohne Tritt – marsch!“, und wir marschieren – marschieren. Trapp-trapp-trapp-trappp, ein stummer, aber doch viel verratender Marsch. Marschroute: Thuin – Gozee – Landelies – Montignies.

 

Gegen Abend des 11. November 1918 erreichen wir Montignies – le Tilleul vor Charleroi. Vorne im Zuge verlangsamt sich das Marschtempo – wir halten. Unsere Regimentskapelle nimmt uns kurz vor dem Ortseingang in Empfang, und dann ziehen wir weiter durch die Straßen, bis wir die Ortsmitte erreicht hatten und unsere Einquartierung erfolgte. Es war ein selten schöner Marsch. 35 Musikanten musizieren, dass es in den Straßen nur so krachte, es war eine Freude, ein Genuss, einmal wieder einen „alten Kameradenmarsch“ zu hören. Und in jenem Augen lick dachten wir wohl weniger an den Krieg, als an unsere lieben, zurückgebliebenen Kameraden.

 

8.30 Uhr bezog ich mit verschiedenen Kameraden Quartier in einem Herrensalon – „Der schöne Parkettfußboden!“, dachte ich. Es dauerte gar nicht lange, bis einige unserer Abteilung mit Zucker herankamen, der aus unseren im Stich gelassenen Proviantzügen stammte. Brüderlich wurde er verteilt, und unsere Quartiersleute kamen dabei nicht zu kurz!

 

 

12.11.1918: um 10.00 Uhr vormittags marschieren wir weiter. Kurz vor Charleroi wurden Sicherheitsmaßnahmen getroffen, um in jedem Falle gegen die fanatischen Zivilisten, die sich mit Nationalschleifen im Knopfloch betrunken in den Straßen herumtrieben und förmlich Spalier standen. 1914 war´s gewesen, als unsere tapfere Division Charleroi nach hartem Straßenkampf eroberte, es war deshalb nicht ausgeschlossen, dass sich Unzuträglichkeiten ergaben, die vermieden werden konnten und auch wurden. Unter den Zivilisten herrschte eine recht feuchtfröhliche Stimmung. Fahnen gucken aus jedem dritten Hause oder Dach.

 

Auf dem Gute Besegnies angekommen, wurden wir in einer Strohscheune untergebracht. An jenem Abend fand ich in einem Stall ein paar gute, kaum gebrauchte Schnürstiefel, die ich mit den meinen umtauschte.

 

Am nächsten Tage kamen wir nach Jemeppe. Hier wurden wir in der ersten Etage eines älteren Mietswohnhauses am Marktplatz untergebracht. Noch am selben Tage hatten wir festgestellt, dass auf dem etwa ein Kilometer vom Quartier entfernt liegenden Bahnhof Lebensmittel aller Art, Bekleidungsstücke und so weiter lagerten, die voraussichtlich von unseren Eisenbahnern nicht mehr gerettet werden könnten. Da wir in Jemeppe den nächsten Tag als „Ruhetag“ verbringen sollten, so war es natürlich, dass der Bahnhof trotz der müden Füße und Beine aufgesucht und durchgesucht wurde. Auch ich suchte ihn am anderen Vormittag auf und fand ihn in einem Zustande, wie er wohl nie beschrieben zu werden vermag. Wollte man „Münchhausens Schlaraffenland“ lesen, so bot sich hier Gelegenheit, dieses Land in natürlichen Augenschein zu nehmen: Vor Staunen stolpere ich zunächst über eine Eisenbahnschiene, dann versuche ich durch die vielen mit Hafer, Korn, Mehl gefüllten Säcke zu kommen. Unsere Artilleristen und „Bagagefritzen“ sind bereits tüchtig beim „Verladen“, und ihre Pferde fressen den Hafer aus Säcken. Ich gehe weiter: dort steht ein Lageschuppen, über die Hälfte ist er mit Pferde- und Mannschaftsdecken gefüllt. „Was meinst Du, Kamerad, wieviel es wohl sind?“, fragte mich ein alter deutscher Soldat. Während ich rechnete und meine Multiplikation zu einem mir zu hoch erscheinenden Resultat kletterte (600.000), sagte er: „Die Deckenstückzahl ist auf 1.400000 zu schätzen! Fachleute schätzen sie auf 1.500000!!“ Auf sein Anerbieten hin suchte ich mir zwei wirklich gute Decken aus, um sie mit nach Deutschland zu nehmen (später werde ich auf diese Decken zurückkommen). Dann gehe ich weiter an einem Proviantzuge entlang. Die Plomben an den Türen sind beseitigt, aus den Türöffnungen rutscht Mehl, Mais usw., vor den Wagen liegt Kaffee, Kunstdünger oder was auch immer. Ein wenig interessantes Bild. Aber drüben, auf der anderen Seite des Zuges, da ist noch mehr. Ein leeres Butterfass wird hier im Sturm genommen. Etwas weiter kann man sich aus einem großen Haufen Bücher grundverschiedenen Inhalts eine ganze Bibliothek einrichten, aber jeder bedenkt den langen Marsch. Die nagelneuen Bekleidungsstücke sind bereits „ausverkauft“! Ein Paar Schuhe für 50 Zigaretten, 10 Decken 1 Mark usw., so waren sie verkauft worden, teils an Kameraden, teils an Zivilisten. Wer hätte beim Anblick dieses „gesegneten“ Bahnhofs zu Jemeppe wohl nicht an die Hungrigen in der Heimat, ja, an den eigenen, längst überstandenen Hunger, der uns vor Wochen, Tagen noch quälte, gedacht? Hier war fast alles, was ein armes Menschenheere benötigte. Der Heimatsbevölkerung entzogen, kam es hier, in fremden Händen, um.

 

Als ich den Bahnhof verlassen wollte, entdeckte ich noch etwas Butter, von der ich mitnahm. Am Bahndamm lagerten große Brandweinbehälter, die teilweise noch (zum Nachteil der Durstigen!) gefüllt waren. Dann kam ich mit meiner Butter ins Quartier, besorgte mir ein gutes Stückchen Fleisch und brachte beides zu meiner Wirtin, die es mir briet. Da ich aber selbst genug zum Essenbereiten hatte und in jenen Tagen kaum auf unsere Feldküche angewiesen war, teilte ich den leckeren Braten mit den hungrigen Kindern, denen am Bratherd beim Zuschauen das Wasser im Munde zusammengelaufen war. Wann mochten sie wohl zum letzten Male Braten gegessen haben? Am Abend befanden sich bereits mehrere Kameraden in feuchtfröhlicher Stimmung. Ob daran der Proviantbranntwein Schuld war oder der hier nicht fehlende Wein, ließ sich nicht feststellen. Ich legte mich früh schlafen, und wenn ich im Träume nicht in der Heimat war, dann sicher im Schlaraffenlande.

 

 

22.11.: Wir marschieren über Mista – Masta – Maiz – MALMEDY – Geromont – Baugnez nach Ligneuville, wo wir in einer Kornkammer untergebracht wurden. Trotz der beiden letzten langen und anstrengenden Märsche machte die Truppe einen Eindruck, der nichts von unseren anstrengenden Wochen oder Tagen verriet. Auch machte sich eine angenehme Stimmung bemerkbar, die aber keineswegs etwa auf den starken Morgenkaffee oder auf das sich in starken Frost umwandelnde Wetter zurückzuführen war. Um 9.30 Uhr waren wir abmarschiert, und gegen Mittag erreichen wir die Grenzzollstelle Bürnenville – und, indessen wir unsere Straße von den Höhen ins Tal führt, liegt Malmedy, die erste deutsche Stadt, die wir passieren, vor uns. Wer hat wohl nicht beim Überschreiten der Grenze drei Kreuze gemacht oder ein „Gott sei Dank!“ geflüstert?

 

In Malmedys Straßen flatterten unsere Fahnen. Ein auffallend freud-fröhlicher Empfang seitens der Zivilbevölkerung, wie wir ihn uns vorstellten, war nicht zu erkennen. Vielleicht war sie es schon leid geworden. Aber das war ja auch für uns Nebensache. Für uns war nur die eine Feststellung von großer Bedeutung: Wir sind wieder auf heimatlichem Boden, in Deutschland!

 

 

Blass scheint der Mond durch die schnell dahineilenden Wolken. An den entlaubten Hecken, unten an der Straßenkurve, entwickelt sich der Rauhfrost; es wird kalt, eisig kalt. Die Straßen werden leer, nur hier und dort klappt eine Tür, ein Fenster. In unserem Quartier ist es auch ruhiger geworden. In dieser Stille vernimmt man das Stampfen der im Stall untergebrachten Pferde. Es kommt die Nacht, und morgen ist Ruhetag in Liegneville (Deutschland!). Unser Lager war, so gut es ging, hergerichtet, und die Nacht ging trotz der grimmigen Kälte schnell dahin. Als wir am anderen Morgen, dem 23. November 1918, erwachten, war fast die ganze Landschaft mit Rauhreif überzogen. Unser warme Hauch ward bei jedem Atemzuge sichtbar, und es war uns fast zu kalt zum Kaffee holen. In den Mittagsstunden war es mir möglich, mein erstes deutsches Quartier zu skizzieren. Der Nachmittag ging schnell dahin, und am Abend wurde bekannt, dass wir um 5.45 Uhr vormittags weiter marschieren. Am 24.11. marschieren wir bis nach Büllingen. Unsere Marschstraße führt uns durch Tannen- und Fichtenwaldungen, und man kommt sich vor, als sei alles so eingerichtet, dass selbst die Reize der sich in den ersten Sonnenstrahlen spiegelnden, in glänzendem Tau gehüllten Tanne und Fichtenbäumchen unserem Auge unbedingt vorgeführt werden müßten. In der Eifel möchte man nicht zu Hause sein, aber solch eine herrliche Morgenlandschaft verrät selbst das arme Eifelland nicht.

 

Noch ehe die Sonne ihren Höhepunkt erreichen konnte, trafen wir in Weismes ein. Wie es schon sehr oft vorgekommen war, so passierte es auch hier in den engen Straßen, dass der Verkehr stockte. Artillerie hielt auf der rechten Straßenseite, während wir auf der linken Seite uns durchzuschlagen versuchten. Uns fiel aber nicht nur auf, dass Artilleristen ihre Protzkästen mit großen Zigarettenpackungen vollstopften, sondern, dass es einige unserer Kameraden sogar für geboten erachteten, den die schweren – wenigsten klobigen – großen Kisten, die noch gefüllt waren, heranschaffenden Artilleristen abzunehmen. Dieses „Abnehmen“ der Zigarettenkiste gelang einigen sogar infolge eines nicht jedem Soldaten gegebenen Kunstgriffs derart, dass die Kiste von selbst aufsprang und wir langsam Vorbeimarschierenden nur in die im Straßengraben gelandeten Kisten greifen brauchten. Darüber waren die tapferen, uns nichts angehenden Artilleristen natürlich nicht wenig erbost und meinten, uns eines anderen belehren zu können Da sie sich aber unterlegen zeigten, hofften sie auf den sich uns von vorne mit Schimpfworten nahenden Artillerieleutnant- Aber – oh weh! – hätte dieser jetzt mit seinem Einspänner den halben, uns freigelassenen Marschweg noch ganz versperrte, gar nichts gesagt, hätte sein Gespann so lange auf einen freien Platz gefahren, dann hätte er sich manchen Ärger gespart. So aber wurden ihm nicht nur seine Neuerburg-Zigaretten abgenommen, sondern sein Gespann mit ihm in den nahen, mit leeren Kisten dekorierten Straßengraben getrieben, und manch interessantes Soldatengesicht begleitete diesen einesteils unangenehmen Vorfall. Der junge Artillerieoffizier verhielt sich wie ein armer Sünder, vermochte jedoch am zu Recht Geschehenen nichts zu ändern. Wie uns zumute sein musste, wenn wir nach solchen aufreibenden Strapazen endlich und allmählich wieder an uns selber denken konnten, hätte sich insbesondere ein Artillerieoffizier, der, im Gegensatz zu unseren Offizieren, den ganzen Rückmarsch per Ross zurücklegen konnte. Wir legten eine Kunstpause ein, um die übrigen Zigaretten zu sammeln, und zogen dann weiter nach unserem Quartierorte Büllingen, wo wir um 3.00 Uhr nachmittags ankamen und in einer Gastwirtschaft (Kegelbahn) Quartier fanden.

 

 

Am 25.11.18 marschieren wir von Büllingen nach Hollerath, Reg.-Bez. Aachen, wo wir nachmittags 2.00 Uhr eintreffen. Mit einigen Kameraden bezog ich ein Quartier, das mich, ehe ich es betrat, anmutete, als habe ich den berühmten Kupferstich A. Dürer´s, „Christi Geburt“, in natura vor mir. Neugierig, ob in dieser erbärmlichen Strohhütte Menschen wohnen, treffe ich außer einem etwa 40-45 Lenze zählenden Ehepaare noch vier hungrige kleine Kinder an, die uns ängstlich die Hand drückten. Zum Abendessen fanden sich ihre bereits schulentlassenen Geschwister ein, und während eins von ihnen ein leises Tischgebet sprach, hatten sich neun oder zehn Familienmitglieder an dem kleinen Tisch eingefunden, um im nächsten Augenblick über die dampfende Suppe herzufallen. Nachdem es im Hause still geworden war und sich außer dem armseligen Ehepaar alle Kinder schlafen gelegt hatten, bezogen auch wir unser Quartier in der Wohnstube, nachdem uns der Mann Stroh gebracht und den Ofen tüchtig gestopft hatte. Indessen waren Fenster und Türen geöffnet worden und die eisigkalte Luft hatte die im Zimmer verbrauchte Luft schnell vertrieben. Als wir uns schlafen legen wollten, setze sich der Mann, der ebenso wie seine Familie leicht erkennbare Leidenszüge im Anlitz trug, hinter den warmen Ofen und wollte der grimmigen Kälte wegen das Feuer überwachen, was wir jedoch in Anerkennung seiner sehr unglücklichen Verhältnisse ablehnten. Seine Familie und er nährten sich außer von dem geringen Lohn seiner drei oder vier schulentlassenen Kinder von seinem Einkommen als landwirtschaftlicher oder Gelegenheitsarbeiter. Da zu der Zeit sehr viele Bagagenpferde infolge der hier in der Eifel schlecht zu befahrenden Wege über Berg und Tal gefallen waren und immer neue hinzukamen, zog er die Felle ab und unterhielt von dem Erlös seine Familie. Den Kindern mag es wohl ein Vergnügen gewesen sein, von unserem reichlichen Essen etwas bekommen zu haben.

 

Am nächsten Morgen zogen wir bis nach Sötenich bei Schleiden, und die kleinen in jener Hütte schienen mir wenig froh über unseren Abschied zu sein, wie man es bei solchen hungrigen Geschöpfen leicht verstehen lernt. So hatte ich auch einmal Gelegenheit, das Leben eines armen Einsiedlers in der Eifel kennen zu lernen.

 

 

Am Morgen des 1. Dezember marschierten wir weiter und erreichen noch weit vor Mittag die alte Stadt Bonn am Rhein. In der ersten von uns passierten Straße hatten sich Schwestern des nahen Lazaretts aufgestellt, um uns mit kleinen nützlichen Sachen zu beschenken. Da wurden auch wohl beim Ertönen unserer sich sehr verkleinerten Kapelle die Türen und Fenster aufgerissen und die ganze Stadt am schönen Rhein flüsterte uns aus allen Winkeln ein „Herzlich Willkommen“ zu. Als wir aber dem Rheine näher kamen und abermals die Musik ertönte, glaube ich in unserem Kommandeur den Mann erst recht schätzen gelernt zu haben, der wirklich wert war, ein zwar noch kleines, aber um so ruhmreicheres Regiment über den deutschen Rhein, der jeden Augenblick von der mit uns eingetroffenen englischen Kommission in ihre Verwaltung überging, zu führen. Und mag unserem Divisionskommandeur sowohl wie unserem Kommandeur die Träne den starren, ernsten Augen entronnen sein, um sich in den blassen Wangenfalten zu verlieren, sie brauchten sich ihrer nicht zu schämen. Wen klopfte in jenen Minuten, als wir über die alte Bonner Rheinbrücke marschierten, das Herz nicht schneller?

 

Über Pleis langten wir nachmittags 1.20 Uhr in Hennef an, wo wir in einer Gastwirtschaft untergebracht wurden. Wenn ich hier noch einmal auf die in Jemeppe eroberten beiden Decken zurückkomme, so soll hier nur erwähnt werden, dass mir diese beiden Decken gestohlen worden sind, ehe ich mein Quartier betreten konnte.

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Am frühen Morgen des 2.12. marschieren wir nach Blankenberg an der Sieg. Wir werden hier untergebracht und die Quartiere waren im allgemeinen gut. Wie gewöhnlich, so stellten sich auch heute wieder meine bestbekannten Kameraden ein, um gelegentlich eines Plauderstündchens auch darüber zu verhandeln, wohin, wie lange usw. wir wohl noch laufen müssten, wann wir wohl in der Heimat seien, ob wir bald mittels eines Transportzuges, wie es ja jetzt häufig gemacht worden sei, zur Stelle gebracht würden, ob wir Weihnachten zu Hause seien. Andere erzählten von dem anstrengenden Marsche oder von der Ruine. Es herrschte aber unter uns eine besondere Unruhe darüber, dass, wie verlautete, unsere Division Grenzschutzdienst machen müsse, und diese Nachricht verbreitete sich schnell und wurde am Nachmittag vom Stabe bestätigt!!! Wir verbleiben bis zum nächsten Tage in Blankenberg und erwarten mit unbeschreiblichem Interesse weitere Befehle. Inzwischen wir amtlich bekannt, dass über hundert Angehörige unserer Division auf ihren Wunsch vom Soldatenrat in Hennef entlassen und mit der Bahn in ihre Heimat entlassen worden seien. Und diese Nachricht brachte nichts Gutes! Es entstanden Auseinandersetzungen zwischen Mannschaften und Vorgesetzten, und die Truppeneinigkeit war halb verloren. Da unsere Schwesterregimenter Res. 73 und 78 sich in gleicher Lage befanden, teilweise sogar schon die vorgesetzten ausgeschaltet wurden und die Leitung in die Hände der Mannschaften gespielt werden sollte, unternahm es unser Kommandeur, seinem ihm lieben Regiment eine günstige Lösung dieser kritischen Punkte zuzusichern, und er ordnete an, dass wir heute, am 3.12., noch wegen der Bagage in B. verbleiben müssten.

 

Während unser Kommandeur mit Entlassungsanträgen der alten Kameraden überhäuft wird („nur die Jahrgänge 1896-1899 sind zum Weiterdienen verpflichtet!“) erreicht uns ein Divisionsbefehl, in welchem sofortige Aufklärung des Sachverhalts der revolutionären Bewegungen in unserer aus Rheinländern, Hannoveranern, Braunschweigern, Hamburgern, Westfalen usw. bestehenden Division gefordert wird. Gleichzeitig wird der unsere Division betr. Befehl, als Grenzschutzdivision zurück zu rücken, aufgehoben. Das Regiment, ja, die ganze Division war fast über die Hälfte ausgerissen!

 

 

7.12.1918: „In der Heimat, in der Heimat…“. Wir schnallten unseren Tornister und summten mit. Unsere auf sieben Musikanten zusammengefallene Regimentskapelle hatte der Einwohnerschafte ein kleines Ständchen gebracht. Unser Regiment schrumpft immer mehr zusammen, seitdem wir den Rhein im Rücken haben, aber die Befehlshaber sind machtlos. Abends spät langen wir in Osthelden an. Langsam sind wir voran gekommen in den letzten Tagen. Spaß macht das Soldatenleben nicht mehr – die Einigkeit geht ihren Weg ganz für sich.

 

 

20.12.18, vorm. 8.30 Uhr: wir marschieren nach Glane bei Iburg, um am anderen Morgen den letzten Marsch nach Osnabrück anzutreten.

 

 

Die Nacht ist schnell vergangen. Unser Quartier ist sehr gut. Diese vergangene Nacht verbrachte auch der Regiments-Wagenführer bei uns, und er war es, der uns heute morgen so früh im Schlafe störte. Es wurde für ihn Zeit, seine Pferde zu füttern und notdürftig gekleidet ging er in den angebauten Stall, indessen wir wieder einschliefen, denn es war noch früh am Tage. Aber nach einer Weile ist er wieder da und erklärt uns, dass sein braver Gaul, der beste im Regiment, gestohlen und gegen einen alten Schinder, der ihm (dem richtigen Pferde) zwar sehr ähnlich sehe, aber jeden Augenblick zusammenbrechen könnte, ausgetauscht worden sei. Mit unserem Schlaf war es natürlich vorbei, denn wir hatten – weniger des Pferdes wegen – Interesse an dem Wiederaufgreifen des unseren Kameraden treuen Pferdes, und mit Hilfe eines sofort benachrichtigten Gendameriewachtmeisters gelang es uns auch. Unser Kamerad war sehr froh darüber und freute sich nicht wenig.

 

In der Ferne werden die Wahrzeichen Osnabrücks sichtbar und aller Augen glänzen. Die „Alten“ mögen an die Tage gedacht haben, als sie mit glühendem Herzen aus der Garnison Osnabrück ausrückten ins Feld. Und wir jüngeren Kameraden, wir haben wohl oft an unsere vielen im Feindesland zurückgebliebenen Kameraden, an so manchen guten Freund gedacht. Dann aber waren wir der Stadt nahe und Fahnen, Girlanden usw. zeugten von der Liebe der Stadt Osnabrück zu unserem ruhmreichen Regiment, dessen Überlebenden nunmehr von der Einwohnerschaft empfangen wurde, wie wenn ein Vater von seinen Kindern empfangen wird. Aus Türen und Fenstern, von Balkons und Bürgersteigen werden uns Blumen zugeworfen. In unseren Reihen versuchen flinke Mädchenhände jede geeignete Stelle an unserer Ausrüstung mit Blumen auszuschmücken und ich kam dabei mit meinem so oft durchlöcherten Waffenrock, der gerade bis hierher gereicht hatte, nicht zu kurz. Abseits aber, hinter Gardinen, hinter der uns mit Freuden empfangenden Einwohnerschaft steht manche Mutter, manche Braut – vergebens. „Er war nicht dabei!“.

 

 

Auf dem freien Platze vor dem Hotel Bayrischer Hof angekommen, nahmen der Herr Oberbürgermeister und andere berufene Persönlichkeiten Gelegenheit, das Regiment zu begrüßen. Währenddessen wurden uns nützliche, von der Stadt Osnabrück gestiftete Weihnachtsgeschenke überreicht. Alsdann wurden wir in der dem alten Schloß gegenüberliegenden Bürgerschule untergebracht. Am 23.12.1918 erfolgte die Auflösung unseres verdienstvollen Regiments und am selben Tage die Entlassung der entlassungsfähigen Angehörigen desselben. Nach einem Weihnachtsurlaub vom 24. Bis 27.12.18 wurde ich dem I.R. 78, Osnabrück, überwiesen unter Weiterkommandierung zum Stabe R. 92 zur Vervollständigung des Kriegstagebuches des Regiments. Am 15.1. 1919 erfolgte meine Zurückversetzung zum Bezirkommando Hildesheim, bei dem ich den Rest meiner aktiven Militärdienstzeit verbrachte.

 

 

Mit diesem Blatt beschließe ich meine Aufzeichnungen. Mögen sie jedem Leser vor Augen führen, von welchem Glück diejenigen gesegnet worden sind, die gesund in ihre Heimat zurückgekehrt sind, und war erst diejenigen mitmachten, die nicht nur ein Jahr, sondern vier lange Jahre im Feindeslande an der Front gestanden.

 

Möge aber auch ein jeder Leser der Gefallenen gedenken. Was den überlebenden Kameraden unseres Regiments voransteht, das sind ihre gefallenen Kameraden, und es waren ihrer nicht wenig. 3 325 waren es, als der Tag der Heimkehr kam. Möge das ihnen zu Ehren errichtete Denkmal in der Heimat, das Denkmal am Bockstum in Osnabrück, stets in tiefer Dankbarkeit und heiliger Ehrfurcht von aller Krieger Nachkommenschaft, sowie es von den wenigen Überlebenden des Regiments geschieht, nicht nur erhalten, sondern auch geweiht bleiben in steter Hoffnung auf bessere Zeiten.

 

 

FRITZ HENNE, zuletzt Sergeant beim Bez.Kdo. Hildesheim

 

Holzhausen – Bad Pyrmont, Winter 1924/25.

 

 

geb. 17.3.1899, gest. 19.9.1952

 

Vorsatz / Einleitung [habe ich nach hinten verschoben]

Aber wir dürfen jede große Zeit nicht vergessen, in der ein Volk Einigkeit geübt und gepflegt, äußersten Heldenmut gezeigt hat. Denn der heranwachsenden Generation der Geschichte des erschütternden, auf Lettern nie zu beschreibenden Weltkrieges zu entziehen versuchen, hieße, Übung größter Verschmähungssucht gegenüber den treuen, teuren Toten, die man in fremder Erde gebettet. Und auf den folgenden Seiten dasjenige zu erläutern und zu schildern versuchen, was ich aus jener großen, ja, größten Zeit Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert aufzeichnete, soll der Zweck dieses hoffentlich jedweder Schriftstellerkritik entzogen bleibenden Buches sein.

 

Wenn ich noch darauf hinweise, dass es sich im wesentlichen nur um einen winzigen Teil von Kriegserleben handelt, so mag es dem Leser genug tun, sich ein Bild über den vier lange Jahre hindurch tobenden Weltkrieg zu machen.

 

 

FRITZ HENNE, 1924

 

 

Den Rest seines Lebens verbrachte mein Urgroßvater als Finanzbeamter, er starb 1952 in Bad Pyrmont.

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6 Kommentare

  1. Hallo, Ich finde es sehr interessant. Ich habe einige Briefe von einem Fritz Henne ab dem Jahr 1935. Würde gern mal wissen ob unser Fritz Henne Vielleicht ihr Urgroßvater war. Würde mich über eine Nachricht von ihnen freuen.
    Gruß
    H. Märtin

  2. mein Urgroßvater war Beamter in Bad Pyrmont (Niedersachsen); ich weiß nicht, ob er den zweiten Weltkrieg noch erlebte: 1935 hatte er Familie.

  3. ich weiß nicht, wer Thomas Henne ist, und finde zu „Ortsgruppenleiter Henne“ nur etwas aus Weende bei Göttingen: „NSDAP Ortsgruppe Weende. Der Ortsgruppenkassenleiter und zeitweise Ortsgruppenleiter Hermann Grüneklee hat während des Krieges zeitweise Ortsgruppenleiter Henne abgelöst.“

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