automatische Literatur: 0x0a, Google-Texte, Montage via Algorithmus. [Hannes Bajohr, Gregor Weichbrodt; Frohmann Verlag]

weihnachten 2012 Stefan

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Es ist zu spät, um alle Dinge aufzuzählen, die uns so quälen. Es ist zu spät, um an einen sicheren Ort zu fahren – das Jucken ist inzwischen zu einem scharfen Brennen geworden. Es ist zu spät, um mich jetzt zu lieben. Es ist zu spät, um zu bremsen oder auszuweichen. Es ist zu spät, um Charlottes Netz zu reparieren. Es ist zu spät, um weg zu rennen. Es ist zu spät, um nicht zu schlafen. Es ist zu spät, um Clubs oder so was beizutreten. Es ist zu spät, um die Konverter herauszubeamen. Es ist zu spät, um makellos zu sein. Es ist zu spät, um aufzuzählen, was an dieser Logik alles falsch ist. Es ist zu spät, um mir noch eine Variante zum abgedroschenen Begrüßungssatz auszudenken, den ich im Geist ständig wiederhole.

Wir müssen anfangen, grundlegend anders von Gott zu reden. Wir müssen anfangen, den anderen so zu sehen, wie er ist und darauf vorbereitet sein, enttäuscht zu werden, wenn unser emotionales Kind einen Mangel an Gemeinsamkeit empfindet. Wir müssen anfangen, zu kommunizieren! Wir müssen anfangen, darüber zu sprechen, welche Menschenrechte wir eigentlich durch unsere Angst verhindern. Wir müssen anfangen, und zwar umgehend. Wir müssen anfangen, den Menschen tatsächlich eine Alternative zu bieten. Wir müssen anfangen, Frauen ein gutes Feedback zu geben, auf das, was sie tun. Wir müssen anfangen, unsere Papilloten aus den Haaren zu drehen, denn der Starttermin rückt unaufhaltsam näher.

Unser Leben muss wie das Weizenkorn in die Erde fallen und ersterben. Unser Leben muss auf einem Fundament ruhen, das sich mit dem Tod nicht in Luft auflösen kann. Unser Leben muss auf ein höheres Niveau umgestellt werden. Unser Leben muss sich wieder zwischen Zahnschmerzen und Übergewicht einspielen. Unser Leben muss gefährlicher werden. Unser Leben muss nicht geopfert werden in einem ausweglosen Kampf in der Matrix einer künstlichen Welt. Unser Leben muss wieder gelernt werden. Unser Leben muss beweisen, dass es einen besseren Weg gibt. Unser Leben muss ziemlich unangenehm sein, wenn wir so viele Gelegenheiten für Vergnügen finden müssen.

Das einzige Problem ist, dass man sich nicht unter Kontrolle hat. Das einzige Problem ist, dass Excel führende Nullen entfernt. Das einzige Problem ist eine möblierte Wohnung oder wenn die Katze Freigänger ist. Das einzige Problem ist, dass leider noch nicht so viele Personen eine Webcam besitzen, aber das wird sicherlich noch kommen. Das einzige Problem ist eigentlich das Geld. Das einzige Problem ist, dass Bücher keine Fragen beantworten können. Das einzige Problem ist der Kampf ums Futter. Das einzige Problem ist momentan Humangenetik. Das einzige Problem ist bereits gelöst. Das einzige Problem ist nur noch, dass ich nicht mehr die Seiten wechseln kann.

Am Ende wird ein schmerzhafter Kompromiss stehen. Am Ende wird sogar wieder geschunkelt. Am Ende wird das Werk dem Brautpaar feierlich überreicht. Am Ende wird die Demokratie siegen. Am Ende wird jemand Weltmeister, der nicht Deutscher ist. Am Ende wird alles gut? Am Ende wird es nur darum gehen, welche Seite mit geringeren Blessuren den Versuch einer konzertierten Aktion überlebt. Am Ende wird abgerechnet. Am Ende wird der Konflikt gelöst, indem alle schwächsten Völker aus der Region entfernt werden. Am Ende wird das Vaterunser getippt. Am Ende wird erst rechts in Richtung Erkelenz und nach ca. 200 m links abgebogen. Am Ende wird die Wurst verspeist, der Slibowitz getrunken.

„Stichwort: Volltextsuche“
Stefan Mesch, März 2005.
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In der Reihe 0x0a – genuin digitale Literatur verlegt Netzfreundin und Digitalverlegerin Christiane Frohmann [mehr hier] Textcollagen, Listen, Montagen und literarische Mash-Ups, die mit Hilfe von Algorithmen und Suchfunktionen gesammelt wurden:

„Als erster genuin digitaler Titel im Frohmann Verlag bringt Hannes Bajohrs konzeptueller Roman Durchschnitt das Höchste, Größte, Beste der deutschen Literatur auf seinen Mittelwert und handliche 200 Seiten.

Für Durchschnitt wurden alle Bücher aus Der Kanon. Die deutsche Literatur: Romane, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki, 20 Bände, Frankfurt am Main: Insel, 2002, als Textkorpus verwendet, mit Python dessen durchschnittliche Satzlänge bestimmt (18 Wörter), alle Sätze anderer Länge aussortiert und das Ergebnis anschließend alphabetisch geordnet.“

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Ich las Hannes‘ Auszug / Montagetext in „Tausend Tode Sterben“, Version 2… und dachte an drei Dinge:

eins: Supercuts wie z.B. hier:

The View: A „Back-to-the-Camera Shot“ Montage from Plot Point Productions on Vimeo.

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zwei: Benjamin von Stuckrad-Barres läppisches, kindisches, grandios unterhaltsames „Google-Suchanfragen erklären mir die Welt“-Montagebuch „Was.Wir.Wissen.“ von 2005.

Was.Wir.Wissen.

drei: der obige Text von mir von 2005, nie veröffentlicht.

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Ich mag Collagen, Montagen, Aufreihungen, Listen, empirische Textauswertung, Quatsch mit Google… und bin gespannt, welche 0x0a-Projekte noch folgen. Bisher sind zwei Bände erschienen:

„Gregor Weichbrodt und ich“, schreibt Hannes Bajohr,  „haben ein Textkollektiv gegründet – es heißt 0x0a. 0x0a ist der Hexcode für den Zeilenumbruch. Es ist ein Zeichen, das es im Analogen nicht gibt, nicht gesprochen werden kann und nur als “Steuerzeichen” existiert – und damit ideales Symbol für den Versuch, genuin Digitale Literatur zu produzieren.

0x0a soll ein Workshop, Labor, Schaufenster und eine Anlaufstelle für digitale konzeptuelle Literatur werden und die Diskussion über diese Literaturform in Deutschland anregen. Wir laden ein, mitzudiskutieren und selbst Texte einzureichen, und hoffen, dass wir in Zukunft die Autorenliste erweitern können.“

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