Wenn man klein ist, ist die Angst am größten
In Nicolas‘ Familie ist es sehr still. Das war nicht immer so, einst gab es Gelächter und Worte und Inselurlaube, daran erinnert sich der Neunjährige, und er weiß auch, was geschehen ist und seine Eltern zum Verstummen gebracht hat. „Vaters Stillsein ist wie ein Stück Brot, das die Familie herumreicht“, und auch Nicolas selbst tut sich schwer mit dem Sprechen: „Auf Nicolas‘ Stimmbändern sammelt sich ein Buchstabenmeer. In der Kehle kommt ein Wind auf, der den Duft der welken Sehnsucht trägt, und seine Lungenteile fangen an, den Wind in den Mund zu pressen. Doch dann sinkt er zurück aufs Sofa.“ Dabei hätte Nicolas so viel zu erzählen und bräuchte dringend Zuspruch: In ihm wohnt diese schwarze Angst, die ihm die Luft nimmt und sein Herz rasen lässt, so sehr, dass er zum Kardiologen muss, außerdem will Antoine nicht mehr sein bester Freund sein. Seiner verzweifelt hektischen Mutter ist Nicolas längst entglitten, der Vater hat sich eingeigelt in seinem Schmerz. Und doch gelingt es dem tapferen Jungen, sich seiner Angst zu stellen, ihr ein wenig ins Gesicht zu lächeln, sodass sie wenigstens kleiner wird.
Virtuos und mit Fingerspitzengefühl dirigiert Carmen Bregy in Nicolas schläft ein Orchester aus Worten, das eine zarte, unendlich schöne und sehr traurige Melodie spielt. Man muss ganz leise sein und genau hinhören. Dies ist ein Roman, der klingt, der flüstert und singt, metrisch ist er und sehr poetisch. Der Stil dieser Schweizer Autorin ist von bestechender Eleganz und – bei aller inhaltlichen Schwere – von überragender Leichtigkeit. „Blaudunkel liegt der Morgen in großen Falten auf der Erde“ ist eine dieser Formulierungen, die ebensogut der Beginn eines Gedichts sein könnten. Für die Beschreibung ihrer kleinen, zerbrochenen Familie findet Carmen Bregy behutsame Töne: „Vaters Hände sind wie ein kräftiger, hoch gewachsener Baum mit Wurzelwerk bis in die Erde.“ Nur berührt er damit niemanden und gibt Nicolas keinen Halt. Stilistisch gesehen ist Nicolas schläft ein Meisterwerk, wohltuend wie Balsam, ohne Missklänge oder schrille Metaphern, eine warme, weiche Decke, ein ruhiger See im Mondschein. Unangenehm ist einzig die Diskrepanz, die zwischen der literarisch-verzauberten Betrachtung der Welt und den Gedanken eines Neunjährigen liegt; man hört so deutlich die erwachsene Stimme der Autorin, sieht die Geschichte aber gleichzeitig mit den Augen des Jungen. „Wie grob sie diese Zufälle schmieden, denkt Nicolas“ heißt es dann – und fühlt sich für mich nicht ganz authentisch an. Aber das ist nur eine geringfügige Unstimmigkeit in diesem berührenden und anrührenden Buch über einen kleinen Jungen, der nervös ist und einsam, dem alles so weh tut innen und der sich nichts sehnlicher wünscht als die Erlösung durch eine einzige Umarmung: „Und so versucht er zu weinen, in seine Hände hinein, weil es so unerträglich eng ist in der Brust.“ Eine große, zähe Dunkelheit liegt in Nicolas schläft, das mit 159 Seiten mehr wie eine ausführliche Kurzgeschichte wirkt denn wie ein Roman, eine Dunkelheit, die man gern lichten möchte als Leser, weil Carmen Bregy eine Figur gezeichnet hat, die sich einem schon nach drei Seiten ins Herz schleicht. Viel Mitgefühl löst die Lektüre aus, eine ganz hilflose Zärtlichkeit und den Wunsch, man könnte sie Nicolas selbst geben, diese Umarmung. Nicolas schläft ist ungeheuer kraftvoll, dich, lyrisch und gefühlvoll – eine Entdeckung!
Carmen Bregy: Nicolas schläft. Limbus 2011, 160 Seiten, 15,90 €.
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