Der südafrikanische Schriftsteller Alastair Bruce wurde in Port Elizabeth geboren. An der Universität in Kapstadt studierte er zunächst Naturwissenschaft, später Englische Literatur. “Die Wand der Zeit” ist das Romandebüt für den in England lebenden Schriftsteller.
“Zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein möchten, besteht eine Kluft.”
“Es regnet hier seit zehn Jahren.” Mit dem ersten Satz des Buches ist der Leser sofort mittendrin in der Geschichte. Es geht um eine einsame Insel, auf der es nicht nur dauerhaft regnet, sondern die auch förmlich im Nebel versinkt. Dort lebt Bran. Bran ist ein Mann, der einmal zu den wichtigsten Anführern seines Volkes gehört hat. Doch dann wurde er aussortiert, verbannt und alleine auf einem Floss ist er die Reise in seine Verbannung angetreten. Seit zehn Jahren lebt er einsam und alleine auf der Insel, ernährt sich von dem, was er findet und ritzt für jeden Tag, der vergangenen ist, ein Zeichen in die Höhlenwand.
Die Ressourcen der Insel sind begrenzt. Mit jedem Tag, den Bran auf der Insel überlebt, verkürzt er die restliche Zeit, die er noch von den natürlichen Beständen dort leben kann.
“Nach meiner Berechnung bleiben mir noch höchstens zwanzig Jahre auf der Insel, und bei der letzten Zählung waren es einhundertdreiundreißig Bäume.”
In zwanzig Jahren wäre Bran dreiundsechzig – er weiß gar nicht, ob er überhaupt noch so lange leben möchte. Sein Tagesablauf wird bestimmt davon, dass Bran sich um seine Versorgung kümmern muss. Unterbrochen wird seine tägliche Routine lediglich von Erinnerungen an die Vergangenheit, von Erinnerungen an Freunde und von Erinnerungen an Tora, seine langjährige Geliebte.
“Ich rede nicht, weil ich mir sonst einbilden würde, Antworten zu bekommen. Von einer Stimme hinterm Fels, hinterm Baum, oben vom Steilufer. Von einem, der sich versteckt, mit mir Verstecken spielt, mich abpasst.”
Doch eines Tages passiert das, womit Bran eigentlich nicht mehr gerechnet hatte. Erst findet er im Meer eine Jacke, später taucht am Strand plötzlich ein fremder Mann auf, der jedoch nicht spricht. Mit dem Auftauchen des Fremden, in dem Bran nach einiger Zeit glaubt, den früheren Herrscher von Axum zu erkennen, verschiebt sich das Gleichgewicht auf der Insel Stück für Stück. Das plötzliche Auftauchen dieses Mannes weckt in Bran viele verloren geglaubte Gefühle, aber vor allem und am stärksten die Sehnsucht, wieder nach Hause zurückzukehren.
“Ihren Gang aber kenne ich, ihre Haltung, die Art, wie sie den Kopf zurückwirft, damit ihr die Locken nicht über die Augen hängen. An die Augen erinnere ich mich ebenso, wenn auch nicht an ihr ganzes Gesicht. Ich erinnere mich an das Lächeln. Ihr Lächeln. Es war niemals vollständig, nie ganz fröhlich, aber es hatte Macht über mich. All die Jahre, die ich mit ihr zusammen war, habe ich danach Ausschau gehalten, nach den Falten in ihrem Mundwinkel, dem einen Grübchen, dem scheuen Abwenden des Blicks, wenn sie denn lächelte. An all das erinnere ich mich, aber nicht an ihr Gesicht.”
Stück für Stück offenbart sich, warum Bran verbannt wurde, wofür er angeklagt wurde und wessen er sich schuldig gemacht hat. Die Geheimnisse der Vergangenheit werden gelüftet und offenbart wird ein Führer, der ein ganzes Volk geführt hat, sich in dieser Aufgabe aber damit konfrontiert sah, grausame Entscheidungen treffen zu müssen. Bis er entmachtet und ausgetauscht wurde. Von der Rückkehr nach Hause hatte ihn bisher, die Aussicht abgehalten, dass ihm dann in seiner Heimat die Todesstrafe drohen könnte, doch Bran nimmt dieses Risiko in Kauf und kehrt gemeinsam mit dem Fremden zurück.
Doch dort droht Bran niemand mit dem Tod, ganz im Gegenteil: kaum einer der Bewohner scheint ihn wieder zu erkennen oder sich überhaupt an ihn zu erinnern. Er ist wie aus dem Gedächtnis der Stadt gelöscht. Tora, seine frühere Geliebte, scheint mittlerweile verschwunden zu sein. Statt die Todesstrafe zu fürchten, wünscht sich Bran plötzlich nur noch erkannt zu werden, wieder anerkannt und wahrgenommen zu werden und damit auch wieder ein Teil der Gesellschaft zu sein, die sich in seiner Abwesenheit weiterentwickelt und verändert hat.
Alastair Bruce erzählt seinen Roman vollständig aus der Perspektive von Bran und dies macht auch einen Großteil der Freude und des Genusses aus, die ich bei der Lektüre von “Die Wand der Zeit” empfunden habe. Der Roman wird von der ersten Seite an von einer schwer greifbaren Atmosphäre der Spannung getragen, die einen Lesesog entwickelt, dem ich mich kaum entziehen konnte. Spannung und Überraschung wechseln sich ab und bilden den Rahmen der Erzählung. In deren Mittelpunkt stehen die Themen Erinnerung, Gedächtnis und die Gesellschaft. Um als Gesellschaft weiterleben und sich weiterentwickeln zu können, wird die Vergangenheit einfach ausradiert, der ehemalige Führer Bran wird verbannt und aus dem Gedächtnis der Bewohner förmlich gelöscht. Damit thematisiert Alastair Bruce natürlich elementar wichtige Themen: der Umgang mit politischen Führern und das kollektive Gedächtnis einer ganzen Bevölkerung.
Mit “Die Wand der Zeit” ist Alastair Bruce ein intelligenter und lesenswerter Roman gelungen, der Erinnerungen an den großartigen südafrikanischen Autor J. M. Coetzee weckt, an dessen Schreibkunst das Buch aber sicherlich nicht ganz heranreicht. Dennoch habe ich ein ambitioniertes Debüt gelesen, in dem auf eine sehr kreative Art und Weise wichtige Themen verhandelt werden.
Alastair Bruce: Die Wand der Zeit. Kunstmann Verlag 2012, 253 Seiten, 18,95 €.
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