»Meine Eltern werden zu Pionieren, die sich in einem neuen Land zurechtfinden. Zwar haben sie zu Fuß drei asiatische Länder durchreist, aber auf Rolltreppen sind sie nicht gefasst.«
Alice Pung wurde 1981 geboren und lebt heutzutage als Anwältin und Schriftstellerin in Melbourne. „Ungeschliffener Diamant“, ihr Romandebüt, erschien im Jahr 2006 und fand sich postwendend auf einer Vielzahl von literarischen Preislisten wieder. 2007 wurde der Roman als bestes australisches Debüt ausgezeichnet. Erschienen ist der Roman im vergangenen Jahr in der edition fünf, einem ganz besonderen Buchverlag: seit dem Jahr 2010 veröffentlicht der Verlag jedes Jahr fünf Bücher, die von Frauen geschrieben wurden. Ein besonderes Augenmerk legt der Verlag dabei auf vergessene Bücher, auf zu wenig beachtete literarische Schätze und auf Bücher, die zurück in die Regale der Buchläden gehören.
Diese Geschichte beginnt nicht auf einem Boot. Sie beginnt in einem Vorort von Melbourne, Australien, auf einem Markt voller dicker Schweine und dünner Menschen.
„Ungeschliffener Diamant“ erzählt vom Aufwachsen zwischen zwei Welten: die Ich-Erzählerin Alice wächst mitten in Melbourne auf, wo sie nur noch wenig an ihre ursprüngliche Herkunft erinnert. Ihre Eltern flohen, als Alice noch nicht geboren war, von China und Kambodscha aus nach Australien. Hochschwanger und zu Fuß macht sich die Mutter von Alice auf den Weg, die Reise führt sie durch mehrere asiatische Länder, im Schlepptau ein Großteil der Verwandschaft. Sie alle fliehen vor dem Pol-Pot-Regime. Im thailändischen Flüchtlingslager stellt man die Familie von Alice vor die Wahl: „Australien oder Kanada?“ – der Vater entscheidet sich für Australien, in der Hoffnung, dass es dort nicht schneit. Denn eines weiß er, in Kanada liegt häufig Schnee.
Dort, wo mein Vater herkommt, hatten Autos die Vorfahrt und nicht Menschen. Um in Kambodscha ein Auto zu besitzen, musste man reich sein. Und wenn man Geld hatte, bedeutete das, dass man so schnell fahren konnte, wie man wollte.
Für die Familie von Alice ist es nicht leicht, in Australien Fuß zu fassen. Alle arbeiten hart, doch tun sie das vor allem, um ja nicht negativ aufzufallen. Der Vater träumt davon, irgendwann ein eigenes Geschäft eröffnen zu können, doch häufig sind die Eltern von Alice bereits vom Alltag überfordert. Beim ersten Einkauf in einem australischen Supermarkt, kauft die Familie Hundefutter, im Glauben, günstige Fleischprodukte für Menschen zu erwerben.
Die Eltern fühlen sich, als würden sie sich in einem Zauberland befinden; ihre Tochter kommt in einem wahren Wunderland zur Welt – so ist es kein Zufall, dass sie den Namen Alice trägt. Während ihre Eltern arbeiten, wird Alice von ihrer Großmutter betreut: es ist ihre Großmutter, die Alice Worte und Geschichten schenkt, als sie stirbt, stirbt für Alice auch das gesprochene Wort. Mit ihrer Mutter, die immer noch kein Englisch gelernt hat, kann sie sich nur schwer verständigen, denn Alice ist mittlerweile in Australien angekommen und mit der chinesischen Kultur und Sprache verbindet sie nur noch wenig. Einsam und unglücklich zieht sich das junge Mädchen in sich selbst zurück; erst Jahre später gelingt es ihr, Schritte auf ihre Mutter zuzumachen …
Was werde ich verstehen?, frage ich mich. Was Leiden bedeutet? Es gibt weit Interessanteres zu verstehen als die unüberwindlichen Härten des Lebens. Ständiges Seufzen und Lügen und Sterben – das ist es, was das Leben einer Chinesin ausmacht, und ich will nichts damit zu tun haben.
Alice Pung legt mit „Ungeschliffener Diamant“ ihre eigene Autobiographie im Gewand eines Romans vor. Sie beschreibt unheimlich einfühlsam und mit beeindruckender Eindringlichkeit die Zerrissenheit des Aufwachsens in einer fremden Kultur. Das Mädchen wird hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Idealen ihrer Eltern zu entsprechen und dem Bedürfnis sich in ihrem neuen Heimatland zu integrieren. Alice ist in Australien geboren worden, die chinesische Kultur hat sie selbst nie erlebt – sie kann sich nur an dem orientieren, das ihre Eltern ihr vorleben. Diese Zerrissenheit führt dazu, dass Alice weder in Australien ankommen, noch ihre Eltern zufriedenstellen kann – im Versuch ihre eigene Identität zu finden, wird sie zwischen zwei Kulturen förmlich zerrissen. In schonungsloser Offenheit erlaubt Alice Pung einen intensiven Blick auf die Schwierigkeiten, mit denen Kindern in Einwandererfamilien zu kämpfen haben: Alice ist gefangen in einer Familie, die Traditionen lebt, die nicht die ihren sind und bleibt dadurch der australischen Welt, zu der sie gerne Zutritt erhalten würde, fremd. Ein Leben im Zwiespalt, zwischen zwei Kulturen und zwischen zwei Welten.
Trotz der scheinbaren schweren Thematik wird der Roman von einer unglaublichen Leichtigkeit, großer Herzlichkeit und viel Humor getragen. Alice scheut nicht davor zurück, ihre Beobachtungen in spitzzüngige Bemerkungen zu überführen – über viele Beschreibungen lächelt man und es ist ganz und gar nicht schwer, sowohl die literarische Alice, als auch die Romanautorin Alice Pung sympathisch zu finden.
Der Titel von Alice Pungs Debütroman „Ungeschliffener Diamant“ ist irreführend, denn es handelt sich ganz und gar nicht um einen ungeschliffenen Diamanten, sondern um ein wahres literarisches Juwel, das die edition fünf veröffentlicht hat. Alice Pungs Roman ist ein kraftvolles Stück Literatur, ein ganz besonderes Leseerlebnis und ein sprachlicher Genuss.
Alice Pung: Ungeschliffener Diamant. Aus dem Amerikanischen von Marieke Heimburger. edition fünf 2012, 344 Seiten, 19,90€.
Rezension zuerst erschienen bei Buzzaldrins Bücher.
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