Inhaltsverzeichnis
Leben mit der Diagnose Hirntumor
von Walter Eigenmann
Bücher mit einem ähnlichen Klappentext wie dem folgenden wurden und werden immer wieder publiziert, und liest man in der Buchhandlung solche Sätze wie auf der Rückseite von Eric Baumanns Buch „Einen Sommer noch“, denkt man „Armer Kerl!“ und stellt es mitfühlend-seufzend wieder ins Regal zurück:
„Er ist jung, erfolgreich, frisch verliebt – und auf dem Karrieresprung. Dem Journalisten Eric Baumann steht die Welt offen. Doch sein Körper spricht eine andere Sprache, schickt Kopfschmerzen, Sprachaussetzer, Sehstörungen. An seinem 34. Geburtstag erfährt Eric Baumann, dass er einen bösartigen Gehirntumor hat, der sofort operiert werden muss. Seine Überlebenschancen sind auch nach der Operation gleich null. Ab diesem Zeitpunkt steht über jedem schönen Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben? Dennoch gibt Eric Baumann auch in Momenten tiefster Verzweiflung nicht auf. Mit offenen Augen schaut er in die Welt und wehrt sich mit Lebensfreude und Mut nun schon mehr als drei Jahre gegen den sicheren Tod.“
Über jedem Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben?
Nun, diesen Autobiographie-Band des Luzerner Wirtschaftsjournalisten Eric Baumann sollte man nicht wieder ins Regal zurückstellen. Sondern miterleben.
Gewiss, Baumann ist weder Poet, noch Literat, noch Wissenschaftler, noch Philosoph, noch Pfarrer, noch Märtyrer. Seine Sprache: Knapp, realistisch, voller Verben und Substantive, ohne alle Larmoyanz, streckenweise schier ohne Sentiment, doch wider Erwarten keineswegs humorlos – wie das alles gute Wirtschaftsredakteure durchaus können. Und überhaupt: „Um mich zu besinnen, muss ich nicht die Hände falten. Ich brauche auch keine Institution, die mir zu erklären versucht, was nach dem Tod passiert.“ Denn dieses „Einen Sommer noch“ impliziert zwar Hoffnung, es bilanziert gar irgendwie, obwohl es nur nach vorne blickt – aber vor allem sind diese knapp 260 Seiten ein in seiner detaillierten Intensität ungeheuer beeindruckendes, so noch nie gelesenes Stenogramm einer Heimsuchung.
Und deren menschlicher wie medizinischer Bewältigung. Baumann hat einen wahren Kosmos der inneren Monologe und und der äusseren (medizinischen) Dialoge, auch der sozialen Netze, der widersprüchlichen Therapie-Diskussionen, des Selbstbeobachtens und des Fremdbestimmtseins, bis hin zur Resignation und zur Resurrektion zwischen zwei Buchdeckel gelegt, seine Sätze voller „Ich“ und „ich“ und voller Namen von Menschen und Leuten und Sachen und Techniken vermitteln zwischen Chemotherapie und Anthroposophie, zwischen Glioblastom und Qigong, zwischen Misteln und Tomographen. Kein Zweifel, nachdenken und reden über eine Krankheit wie Krebs ist ihrer Bekämpfung enorm förderlich.
„Kampf gegen den Krebs“ aus dem Vokubular gestrichen

Wiewohl Baumann differenziert: „Den Begriff ‚Kampf‘ für den Umgang mit dem Krebs streiche ich aus meinem Vokabular. Ich interpretiere meinen Weg eher als Prozess. […] Klar ist er ein Biest, dieser Tumor. Nach der Lektüre einiger Bücher wie dem von Simonton verstehe ich ihn aber immer mehr als einen Teil von mir, denn seine Zellen gehören zu meinem Zellenvolk. Wenn ich visualisiere, mag ich mir jedenfalls nicht einen Krieg von gegeneinander antretenden Zellen vorstellen, selbst wenn das der Realität entspricht. Das Putzteam ist mir sympathischer.“
„Einen Sommer noch“ ist das anrührend ehrliche, sensibel, doch ungeschönt notierende, in seiner intelligent sezierenden Präzision fast beängstigende, zwar subjektivst erlebte und erlittene, aber auch in grosse menschliche und medizinische Vorgänge eingebettete Protokollieren des Überlebens – von der ersten dringenden Hirnoperation bis zur jüngsten Nevada-Reise mit Partnerin Alice. Dazwischen liegen hoffnungsvolle Monate und Jahre – geschenkte Lebenszeit, gemäss Statistik.
„Es gibt ein Morgen“
Doch wie schreibt der inzwischen 38-jährige, noch immer an einem der schlimmsten, weil bösartigsten Hirntumore (= Grad IV der WHO) leidende Autor – alles Gute ihm auch von hier aus! – in seinem Buch-„Epilog“:
„Es ist Frühling, es ist warm. Wie vor einem Jahr sitze ich im Parkcafé, nippe an einer Apfelschorle. Vor mir liegt ein Manuskript, meine Geschichte. – Ich habe wieder einen Befund aus dem Spital erhalten. Es sieht gut aus. Die Chemomedizin muss ich aber weiterhin schlucken, es wäre fahrlässig, sie abzusetzen. – Ein Sonnenstrahl dringt durch eine Allee von Pappeln. Der Sommer steht vor der Tür. Noch einer. Was für ein schönes Leben! – Ich packe zusammen. Fertig für heute. Es gibt ein Morgen.“ ♦
Eric Baumann, Einen Sommer noch, Mein Leben mit der Diagnose Hirntumor, 268 Seiten, Lübbe Verlag, ISBN 978-3-7857-2355-5
Leseprobe
Ein Assistenzarzt zeigt mir die Bilder. Er wirkt desinteressiert,
sein Blick ist frustriert und müde. Was ich zu sehen bekomme,
schnürt mir die Kehle zu: Der Schatten ist viel deutlicher
zu sehen als auf der Computertomografie von gestern
Abend. Er dominiert den linken Schläfenlappen des Gehirns.
Um ihn herum hat sich eine enorme Schwellung gebildet. Sie
will mein Gehirn vor dem Eindringling schützen. Der Platz im
Kopf ist aber begrenzt, die Hirnmasse wird zur Seite gedrängt,
eingequetscht.
In der Mitte des Gehirns verläuft eine Linie. Normalerweise
ist sie gerade, meine aber hat derzeit eine Delle. „Midline-Shift
nach rechts“, heisst es im Spitalbericht. „Eindeutig Hirntumor“,
meint der Assistenzarzt. Also doch! Bestimmt wussten die Mediziner
in der Notfallstation gestern Abend bereits, dass es sich
nicht um eine Entzündung handelt. Vermutlich wollten sie
mir die Diagnose „Bösartiger Hirntumor“ noch nicht als einzig
mögliche Erklärung zumuten.
„Der Tumor“, so der Arzt, „hat einen Durchmesser von etwa
vier Zentimetern und zerfranst in verschiedene Richtungen.“
Vier Zentimeter? Das ist etwa die Grösse eines Pingpongballs!
Und zerfranst klingt nicht gut. „Harmlos ist er definitiv nicht“,
bestätigt der Assistenzarzt teilnahmslos. „Er muss weg. Wir
haben bereits einen Termin für Sie gefunden, die Operation findet
nächsten Montagmorgen statt, am dritten Januar.“ In vier
Tagen komme ich unters Messer!
Hirntumore werden von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) in Kategorien eingeteilt, wie ich jetzt erfahre. I und II
sind gutartig, III und IV bösartig. Wucherungen aller Grade
beanspruchen Platz im Kopf. „Gutartig“ ist also ein verharmlosendes
Wort, denn selbst in so einem Fall kann ein Tumor
zum Tod führen, wenn er zu gross wird.
Tumore höheren Grades wachsen sogar ins Gehirn hinein,
verästeln sich, zerstören Zellen und setzen damit früher oder
später lebenswichtige Funktionen ausser Gefecht. In diesem
Fall gelten Hirntumore auch als Krebserkrankung. Gradmässig
geht es nur nach oben. Ein maligner Tumor – Mediziner-Slang
für „bösartig“ – kann sich nicht zu einem gutartigen zurückentwickeln.
„Genau wissen wir es erst nach der Operation. Vermutlich
handelt es sich um Grad III“, ergänzt der Assistenzarzt. Bestimmt
schlimm genug. Ich kann also nur noch hoffen, dass es
keine Nummer Vier ist. Sagt der Arzt die Wahrheit, oder ist die
Art, wie er seine Einschätzung formuliert, selbst bei ihm ein Akt
der Barmherzigkeit?
„Wie lange habe ich denn noch zu leben?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir wissen noch nicht
genug.“
„Bin ich dem Tod geweiht?“
„Nun, Sie müssen davon ausgehen, dass wir Sie nicht heilen
können. aber wir werden Ihnen eine zusätzliche beschwerdefreie
Zeit ermöglichen.“
Noch so ein Faustschlag. Das kann doch nicht sein. Ich,
sterben? Heute ist mein Geburtstag! Mir geht das alles viel
zu schnell. Wie soll ich als Vierunddreissigjähriger von einer
Stunde auf die nächste einen Plan für den Umgang mit der eigenen
Vergänglichkeit bereithalten? Dass mir in meinem Alter
schon der Tod blühen könnte, damit habe ich mich noch nie
auseinandergesetzt.[…]
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Medizin & Psychologie auch über Oruç Güvenç: Heilende Musik aus dem Orient
… und zum Thema Autobiographie über Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders
Gefährliche Körperverletzungen mit Computertomographien
Entstehung von Krebs:
Die Daten von 10,9 Millionen Menschen aus den Jahren 1985 und 2005 wurden retrospektiv untersucht und die Inzidenz von Krebserkrankungen mit der Anzahl der CT-Untersuchungen verglichen. Die Ergebnisse, kurz zusammengefasst:
• Menschen, die eine CT-Untersuchung über sich ergehen ließen, hatten knapp 10 Jahre nach der Strahlenexposition ein etwa 24% (Konfidenzintervall 20-29%)
höheres Risiko, eine Krebserkrankung zu entwickeln als Menschen, die keine CTUntersuchung hatten.
• Die durchschnittliche Strahlendosis einer CT-Untersuchung betrug bei den ausgewerteten Daten etwa 4,5 mSv.
• Alter, Geschlecht oder Geburtsjahr stellten dabei keine signifikanten Konfounder dar.
• Mit jeder weiteren CT-Untersuchung stieg das Risiko einer Krebserkrankung um etwa 16% (Konfidenzintervall 13-19%). Es gibt also eine nachvollziehbare Dosis-Wirkungs-Relation
• Vor allem Menschen, die in jungen Jahren Röntgenstrahlen ausgesetzt waren, hatten ein erhöhtes Krebsrisiko nach Strahlenexposition. Die nach Alter aufgeschlüsselten Risiken betrugen:
• CT Untersuchung im Alter von 1-4 Jahren: 35% höheres Krebsrisiko (Konfidenzintervall 25-45%)
• CT Untersuchung im Alter von 5-9 Jahren: 25% höheres Krebsrisiko (Konfidenzintervall 17-34%)
• CT Untersuchung im Alter von 10-14 Jahren: 14% höheres Krebsrisiko (Konfidenzintervall 6-22%)
• CT Untersuchung im Alter von mehr als 15 Jahren: 24% höheres Krebsrisiko (Konfidenzintervall 14-34%)
• Vor allem Leukämien, Myelodysplasien, Lymphome, solide Tumore des Magendarmtrakts, Melanome, Weichteilsarkome, Tumore des weiblichen Genitaltrakts, urologische Tumore, Hirntumore und Schilddrüsenkrebs zeigten einen signifikanten Anstieg in der strahlenexponierten Bevölkerung. Einige besonders eklatante Beispiele:
• Das Risiko, nach einer CT-Untersuchung des Schädels einen Hirntumor zu entwickeln, stieg in der untersuchten Population um 144% an
(Konfidenzintervall 112-181%)
• Das Risiko, nach einer CT-Untersuchung des Abdomens eine Leukämie zu entwickeln, stieg in der untersuchten Population um 224% an
(Konfidenzintervall 117-384%)
• Das Risiko, nach einer CT-Untersuchung des Brustkorbs einen Weichteiltumor zu entwickeln, stieg in der untersuchten Population um 364% an (Konfidenzintervall 74-1140%)
(Quelle: https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Krebs_nach_niedrigen_Strahlendosen.pdf)
Entstehung von Schlaganfällen und anderen Herz- Kreislauferkrankungen:
Zitat aus https://cordis.europa.eu/article/rcn/31402/de (mit dortiger Abbildung eines Computertomographen): „Das Forscherteam am Imperial College London, Vereinigtes Königreich, entwickelte ein Computermodell zur Vorhersage von Herz-Kreislauf-Risiken durch niedrig dosierte Strahlung. Herzerkrankungen und Schlaganfall, die beiden häufigsten Todesursachen in entwickelten Industrieländern, stehen, wie das Modell zeigte, in starkem Zusammenhang mit der empfangenen Strahlendosis.“
Entstehung von Alzheimer:
Zitat aus https://www.helmholtz-muenchen.de/aktuelles/uebersicht/pressemitteilungnews/article/36513/index.html: „Wissenschaftler des Helmholtz Zentrums München haben in Kooperation mit Kollegen aus Dänemark, Italien und Japan in der Fachzeitschrift Oncotarget beschrieben, dass Strahlung eine molekulare Änderung im Hypocampus auslöst.“
Bei Mäusen führten schon viel geringere Dosen zu Alzheimer-Symptomen,
Zitat aus: https://netzfrauen.org/2016/10/30/studie-universitaet-sued-daenemark-es-gibt-befuerchtungen-dass-radioaktive-bestrahlungen-zur-entwicklung-von-alzheimer-beitragen-koennen-concern-that-radiation-may-contribute-to-development-of-alzhe/:
„Bei einem Kopf-CT variieren die Dosen zwischen 20 und 100 mGy. Sie dauern ungefähr eine Minute an. Während eines Fluges ist ein Mensch Ionenstrahlung durch das Weltall ausgesetzt, aber diese Dosierung ist viel geringer als die eines CTs.
„Wenn man diese Zahlen miteinander vergleicht, stellt man fest, dass wir die Mäuse mit etwa einem Tausendstel der Dosis behandelten, die ein Patient bei einem einzigen CT bekommt – im selben Zeitintervall. Sogar unter diesen Umständen konnten wir Veränderungen in den Synapsen des Hippocampus sehen, wie es sie bei Alzheimer gibt“.“
Mein Kommentar: Falschangabe zu den Dosen! Laut mir vorliegenden CDs waren es nicht 20- 100 mGy, sondern um 1000 mGy pro Computertomographie!
Entstehung des Katarakts (Grauer Star):
Zitat aus https://www.unimedizin-mainz.de/fileadmin/kliniken/betriebsarzt/Dokumente/ssk0907.pdf:
„Bei Patienten nach computertomographischen Untersuchungen [Kle 93] wurde eine erhöhte Prävalenz an posterioren subkapsulären Katarakten beschrieben mit der Schlussfolgerung, dass bereits Dosen in der Größenordnung von 0,1 – 0,3 Gy kataraktogen sein könnten. Auch in der Untersuchung der radiologischen technischen Assistenten („radiation technologists“) [Cho 08] zeigte sich eine signifikant erhöhte Kataraktinzidenz mit einem Risikofaktor von 1,25 (95 %-KI: 1,06 – 1,47) bei Personen, die aus nicht-beruflichen Gründen > 3 Kopf-/Hals-Röntgenaufnahmen erhalten hatten, gegenüber Personen mit weniger oder keinen Aufnahmen im Schädelbereich.“
Neueren Forschungen zufolge soll immerhin die Strahlungsbelastung bei CT-Untersuchungen inzwischen massiv reduziert worden sein:
https://www.medinside.ch/de/post/spital-uster-gutes-zeugnis-fuer-die-radiologie
Das Problem der zu hohen Grenzwerte in der Schweiz, festgelegt durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist damit allerdings noch nicht gelöst…
Leider ist Eric Baumann am 21.08.2009 an einem Hirntumor-Rezidiv verstorben.
Es ist schön, dass er noch mehrere Sommer haben durfte! – A.H.
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Sicher im Namen der ganzen «Glarean»-Leserschaft entbiete ich
der Familie Eric Baumann meine besondere Anteilnahme! Und danke
für ein besonders gutes und besonders wichtiges Buch! – W.E.