Daniel Mylow: Giraffe – Passagen (Kurzprosa)

Zwei Kurzprosa-Stücke von Daniel Mylow

Giraffe

Der vom Regen lasierte Himmel spiegelt den feuchten Glanz der Steppe.
Ein Junge mit schlafwirrem Haar sah ernst und unverwandt auf die Zirkuswagen, die den Ort verliessen. Gestern Nacht war dem Zirkus eine Giraffe abhanden gekommen, in der Nacht zuvor zwei bengalische Tiger. Man hatte die Gegend weiträumig gesperrt. Doch die Suche war erfolglos geblieben.
Der Blick des Jungen ging auf den morgenleeren Platz. Staubschlieren zerfielen in der blassen Regenluft. Die feuchte Erde war wie eine begehbare Schrift von Spuren zerfurcht. Der Junge kniff den Mund zusammen, bis er sich in einen wehmütigen Stolz fand. Die Giraffe war ein unwirklicher Schatten vor dem grossen Himmel. Wolkenfern stand die Silhouette der Berge. Gestern waren es noch Häuser.


Passagen

Das Wasser spiegelt das hohe Licht des Mittags, während ihre Hände für einen Augenblick wie weisse Falter ins Helle fliegen, bevor sie auf seiner Brust liegen bleiben. Er schliesst die Tür. Während sie sich ausziehen, fiebrig umfangen vom Licht, das durch die Holzritzen fällt, legt die Fähre ab. Sieben Minuten über die Elbe und zurück, wie jeden Mittwoch. Sie flüstern. Höfe aus hellen Schatten legen sich über ihre nackten Körper, die sich plötzlich in ihrer Versunkenheit wiederfinden. Eine leise Dünung bewegt das Wasser. Jeder Augenblick ist wie aus kleinen Funken geformt, jede Bewegung wie ein Tasten zwischen Grund und Himmel unter den dahin rinnenden Fahrgeräuschen. Ein Verschwinden und Festhalten. Er spürt ihre atmende Haut unter seinen Küssen.
Die Fähre legt an und wieder ab. Die schwindende Zeit liegt wie eine Hypothek auf ihren Gesichtern und verschliesst ihnen den Mund. Man darf nichts sagen. Auch sein Freund, der Fährschiffer, hatte ihm nach seiner ungewöhnlichen Bitte nur schweigend den Schlüssel für die kleine Bootskajüte in die Hand gedrückt. Er zahlte die Passage für einen Sommer im Voraus.
Und als Maren später beginnt zu sprechen, ihm erzählt, dass die Weibchen der in Amerika beheimateten Schaufelfusskröte immer mit Männchen einer anderen Art fremd gingen, wenn ihr Tümpel auszutrocknen drohte, da wusste er, dass sie zu ihrer Familie zurückkehren würde, und dass ihr Atem die Zeit verbraucht hatte. ♦


Daniel Mylow - Schriftsteller - Glarean MagazinDaniel Mylow

Geb. 1964 in Stuttgart, Studium der Germanistik, Medien, Psychologie und Philosophie in Bonn und Marburg, Tätigkeiten als freier Verlagslektor, Korrektor und Autor, zahlreiche Veröffentlichungen in Literatur-Zeitschriften und Anthologien

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