Lothar Becker: Der grüne Pullunder (Satire)

Der grüne Pullunder
oder
Wie mir meine Hemmungen einmal das Leben retteten

Lothar Becker

Bis zu dem Tag, an dem ich herausgefunden habe, dass ich Hemmungen habe, dachte ich doch tatsächlich, ich hätte keine Hemmungen. So eigenartig es sich auch anhört, ich habe mein äusserst seltsames Verhalten über Jahre hinweg für völlig normal gehalten. Ich wunderte mich nur, dass ich, wenn ich als Junge sonnabends zum Bäcker geschickt wurde, es nie fertig brachte, der Verkäuferin in die Augen zu sehen und die mir aufgetragene Anzahl an Brötchen zu verlangen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso, aber es war eine Tortur. Ich betrat das Geschäft, und wusste, dass es mir unter gar keinen Umständen möglich sein würde, in Gegenwart dieser jungen Dame so etwas Grobes und Gefühlloses wie „Brötchen“ zu sagen. Ich schwitzte, torkelte durch den Laden und hatte den Verdacht, mein Kopf würde jeden Moment platzen. Sobald ich an der Reihe war, starrte ich wie ein Geisteskranker an die Zimmerdecke, und kaufte irgendetwas anderes, Schmalzkringel oder Streuselschnecken, oder ich ging gleich in den Fahrradladen nebenan und holte eine Luftpumpe.
Darüber sind meine Eltern tief besorgt gewesen und haben immer wieder für mich extrem schmerzhafte Äusserungen wie „Mit dem Jungen ist doch was!“ oder „Von mir hat er das aber nicht“ gemacht. Natürlich habe auch ich geahnt, dass mit mir irgend etwas nicht stimmte, aber mir war nicht klar, dass es Hemmungen waren. Ich dachte eher an Blödheit oder so etwas.
Aber dann schickten mich meine Eltern zu einem Psychologen. Vermutlich, weil ich ihnen unheimlich wurde, oder weil sie es satt hatten, dass ich ihnen zum Frühstück eine Luftpumpe auf den Teller legte.

Der Psychologe war ein sehr einfühlsamer Mensch. Er sass auf einem Drehstuhl, hatte die Beine übereinander geschlagen und zupfte an der Bügelfalte seines linken Hosenbeines herum.
„Und?“, fragte er, „was fehlt dir denn?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Na, aber“, der Psychologe setzte ruckartig beide Füsse auf den Fussboden, damit er seine Hände auf seine Oberschenkel stützen und seinen Kopf weit vorstrecken konnte, „mir kannst du es doch sagen!“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nun komm schon! Wie soll ich dir denn helfen, wenn du nicht mit mir redest?“
Um meine Hilflosigkeit zu verdeutlichen, zuckte ich noch einmal mit den Schultern und verdrehte dabei die Augen. Der Psychologe kroch noch ein Stück näher an mich heran. So nah, dass er zu schielen begann, wenn er mich ansah.
„Was ist eigentlich dein Problem?“
„Ich weiss nicht. Dass ich so bin wie ich bin.“
Der Psychologe nickte verständnisvoll.
„Dass du so bist wie du bist. Soso, aber was stört dich denn an dir?“
Ich versuchte seinem Gesicht auszuweichen.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
Das Gesicht des Psychologen folgte mir unerbittlich.
„Oh doch, das kannst du!“
„Nein!“
„Aber warum denn nicht?“
Ich hielt mir die Ohren zu, und schrie so laut ich konnte:
„Weil ich mir fast in die Hose mache, wenn ich daran denke, dass ich mit ihnen darüber sprechen soll!“
Diesmal wich der Psychologe ein wenig zurück:
„Na, jetzt kommen wir der Sache schon näher! Du möchtest darüber sprechen, aber du kannst es nicht, stimmt’s?“
Ich konnte nicht mehr an mich halten, und schlug mit beiden Fäusten auf die Tischplatte.
„Na, das sage ich doch die ganze Zeit!“
Der Psychologe lehnte sich zurück und beobachtete mich wie eine Laborratte.
„Aber warum kannst du denn nicht darüber sprechen?“, fragte er, und liess seine Brille ein paar Zentimeter auf seiner Nase herunter rutschen.
„Es geht nicht“, sagte ich, und sah an ihm vorbei aus dem Fenster. Draussen trainierte ein Vogel Kamikaze.
„Warum geht es nicht?“ Der Psychologe stand auf und stellte sich vor das Fenster, und ich musste den Kopf sehr schief halten, um den Vogel noch sehen zu können.
„Wenn ich das wüsste! Wissen sie was? Ich habe das Gefühl, mir platzt der Kopf.“
Der Psychologe nahm einen Apfel aus einer Schale und liess ihn von einer Hand in die andere rollen.
„Weisst du, was ich denke?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäss.
„Du hast Hemmungen“, sagte er.
„Hemmungen?“
„Ja“, sagte er.
Seit diesem Tag war mir der Name meines Leidens bekannt.
Dadurch, dass ich nun wusste, was es war, wurde es aber auch nicht besser.

Meine Hemmungen erstreckten sich auf alle erdenklichen Bereiche. In der Schule hinderten mich meine Hemmungen massiv am Weiterkommen. Weil ich Hemmungen hatte, die richtigen Ergebnisse aufzuschreiben, gab ich bei Klassenarbeiten ausschliesslich leere Blätter ab. Ganz schlimm war der Musikunterricht. Natürlich war ich viel zu gehemmt, um zu singen. Ich war der festen Ansicht, dass, sobald ich den Mund öffnen würde, das Weltgefüge zusammenbräche. Ich stand vor der Klasse, der Boden schwankte unter meinen Füssen, meine Hände tasteten in der Luft nach einem Halt, mein Mund öffnete und schloss sich völlig geräuschlos. Nach drei Minuten taumelte ich zurück in meinen Stuhl.
„Was war denn das?“, fragte meine Musiklehrerin.
„Ein Lied“, sagte ich.
„Nein, eine sechs“, sagte meine Musiklehrerin.
„Interessant“, sagte ich.
Meine durchwegs auf diese mich stark behindernden Hemmungen zurückzuführenden schlechten Leistungen sanken auf ein derartig niederes Niveau, dass mein Klassenlehrer, Herr Hartleibl, behauptete, ich hätte seinen Vorrat an schlechten Zensuren aufgebraucht. Etwas Dümmeres als mich müsste man mit der Lupe suchen. Weil ich zu gehemmt war, zu widersprechen, gab ich ihm recht.
Ich erinnere mich voller Ekel an die furchtbaren Zeiten der Tanzstunde. Viel zu gehemmt, um ein Mädchen anzusprechen, tanzte ich ausschliesslich mit Jungen. Sogar zum Abschlussball. Immer, wenn Heiner und ich über das Parkett rauschten, bildete sich ein Spalier und ohrenbetäubender Beifall brandete auf. Ich kann nicht behaupten, dass mein Ruf davon auf irgendeine Weise profitiert hätte. Man hat es wirklich nicht leicht auf dieser Welt, wenn man Hemmungen hat, wirklich nicht.

Einmal aber haben mir meine Hemmungen sogar das Leben gerettet. Man sollte es nicht glauben, doch es ist die Wahrheit, ohne meine Hemmungen stände ich jetzt vielleicht nicht hier. Es fing ja völlig harmlos an. Mit einem Pullunder. Mit einem neuen, extrem grobmaschig gestrickten, widerlich hässlichen, grünen Pullunder. Er lag auf meinem Bett und daneben stand meine Mutter.
„Ziehe ihn an!“, sagte meine Mutter.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte ich.
„Aber warum denn?“, fragte meine Mutter.
„Weil er hässlich ist“, sagte ich.
„Überhaupt nicht!“, meine Mutter strich mit ihrem Handrücken über das grüne, Fusselige Teil, „Pullunder sind jetzt der letzte Schrei!“
Ich sah sie vollkommen verständnislos an.
„Was? Das ist doch nicht dein Ernst! Mit dem Ding mache ich mich total lächerlich!“
„Unfug!“, sagte meine Mutter, “ na los, probiere ihn wenigstens mal an!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stülpte sie mir mit nicht zu überbietender Geschwindigkeit den Pullunder über den Kopf. Dann schubste sie mich vor den Spiegel.
„Na, was sagst du nun?“
Ich musste mehrmals schlucken, bevor ich antworten konnte.
„Ich sehe aus wie ein Frosch!“
„Na, jetzt übertreibst du aber!“
Meine Mutter begann, hinter mir am Saum des Pullunders herum zu zupfen.
„Ich gehe so nicht raus“, sagte ich.
„Das werden wir ja sehen!“, sagte meine Mutter um einiges lauter als nötig. Ihr Verhalten blieb nicht ohne Folgen. Noch während ich sie durch eine Vielzahl fantasievoller Gesten zu einer Dämpfung ihrer Stimme animieren wollte, kam plötzlich mein Vater herein. Sein Kopf war hochrot. Offensichtlich schienen wir ihn bei einer seiner Lieblingsbeschäftigungen wie auf dem Sofa liegen oder aus dem Fenster sehen gestört zu haben.
„Was ist denn hier schon wieder los?“
Meine Mutter eröffnete ihm, dass ich den neuen Pullunder nicht tragen wollte.
Meinem Vater war die Verständnislosigkeit ins Gesicht geschrieben.
„Was? Den neuen Pullunder! Das gibt´s doch gar nicht! Ich will dir mal was sagen, Junge. Wir arbeiten Tag und Nacht, um dir jeden erdenklichen Luxus zu bieten. Um dich zu ernähren, um dich zu kleiden, um dir alles kaufen zu können, was du brauchst. Damit du genau so chic wie die anderen aussiehst, und du? Wie dankst du es uns?“
Er sagte tatsächlich „chic“! Du lieber Himmel! Da hätte er ja gleich „dufte“ sagen können.
Mein Vater stützte seine Hände in die Hüften und betrachtete mich verständnislos.
„Was hast du denn an dem Pullunder auszusetzen?“
„Er entstellt mich“, sagte ich.
„Ich fasse es nicht!“, brüllte mein Vater.
„Vielleicht ist es wegen seiner Hemmungen“, sagte meine Mutter.
„Das ist mir egal!“, die Stimme meines Vaters überschlug sich, „der Pullunder wird nicht wieder ausgezogen!“
„Aber Günther!“, sagte meine Mutter. Mein Vater hiess Günther.
„Nichts da mit Günther!“, mein Vater genoss es, endlich wieder einmal autoritär sein zu dürfen, „wir nehmen schon genug Rücksicht! Aber alles hat seine Grenzen! Irgendwann reisst auch mir der Geduldsfaden! So, und jetzt höre mir mal genau zu: Wenn ich dich in den nächsten Tagen ohne Pullunder erwische, setzt es eine Tracht Prügel! Damit das klar ist! Und nun ab, Brötchen holen!“
Ich warf meiner Mutter einen flehentlichen Blick zu. Als Antwort verdrehte sie ihre Augen, was soviel bedeutete wie: Du weisst doch, wie dein Vater ist, wenn er sich aufregt.

Da nahm ich den Einkaufsbeutel und lief los. Kaum, dass ich das Haus verlassen hatte, überfielen mich die stärksten Hemmungen, meine durch den grünen Pullunder der Lächerlichkeit preisgegebene Gestalt den Blicken anderer Menschen auszusetzen. Am liebsten wäre ich die Treppe rückwärts wieder nach oben gegangen. Aber daran war natürlich nicht zu denken. Einfach weiter in Richtung Bäckerei zu laufen, erschien mir allerdings genau so unmöglich. Was um alles in der Welt sollte ich bloss tun? Ich konnte weder vor noch zurück. Während ich auf dem Bordstein von einem Bein auf das andere trat, begriff ich, dass ich mich in eine durch und durch ausweglose Situation hinein manövriert hatte. Ich war zu einem Gefangenen meiner Hemmungen geworden, zu einer Marionette meiner verkorksten Emotionen. Mein Gemüt begann sich zu verdunkeln. ´Ich halte das nicht mehr aus`, dachte ich, ´kein Mensch hält es aus, ein Freak wie ich zu sein, ein Freak in einem grünenPullunder !`

Und dann passierte es. Irgendetwas in meinem Gehirn schaltete sich um, ich verlor jedes Interesse an meiner Person und fasste den Entschluss, meinem Dasein mit einer Überdosis Schlaftabletten ein rasches Ende zu bereiten. Natürlich mit Schlaftabletten. Es mit Schlaftabletten zu tun hielt ich für die einzige mir zumutbare Methode, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Menschen mit Hemmungen nehmen für so etwas Schlaftabletten, dachte ich, und rannte, ohne nach links und rechts zu sehen, zur nächsten Apotheke, riss deren Tür auf und ging hinein. Das erste, was ich nach meinem Eintreten sah, war die Apothekerin. Eine Apothekerin mit den äusserlichen Attributen eines Filmstars. Manchmal schüttelte sie ihren Kopf. Dann wehte ihr Haar in einer Art Zeitlupe. Es war unglaublich. Natürlich begriff ich sofort, dass ich in ihrer Gegenwart keinesfalls so etwas Anzügliches, Zweideutiges, Missverständliches wie „Schlaftabletten“ sagen konnte. Es ging nicht. Ich schwitzte, vermochte mich kaum auf den Beinen zu halten, mein Kopf fühlte sich an wie ein aufgeblähter Heissluftballon. Als ich an der Reihe war, starrte ich wie ein Geisteskranker an die Decke und sagte:
„Schl…“
Weiter kam ich nicht.
„Schl..?“, fragte die Apothekerin.
Ich nickte.
„Was meinst du mit Schl…?“, fragte sie.
„Na eben Schl….“, sagte ich, stürmte zur Tür hinaus und ging in den Fahrradladen nebenan, um eine Luftpumpe zu kaufen.

Natürlich hat sich diese Anschaffung für mein Vorhaben in keiner Weise als nützlich erwiesen. Deswegen bin ich ja auch noch am Leben. Später habe ich oft über diesen denkwürdigen Tag nachgedacht und bin zu der bemerkenswerten Erkenntnis gelangt, dass Hemmungen vermutlich die einzigen Gefühlsregungen sind, die den Entschluss, freiwillig aus dem Leben zu gehen, zuerst veranlassen und dann doch wieder verhindern. Ist das nicht seltsam?
Mittlerweile besuche ich eine Selbsthilfegruppe, die anonymen Gehemmten. Ich kann nicht behaupten, dass es mir dort übermässig gefallen würde. Wir bekommen Lockerungsübungen gezeigt, und versuchen, mit Rollenspielen schwierige Situationen zu bewältigen. Manchmal werden wir auch zu extrem peinlichen Handlungen gezwungen. Wir müssen dann Strickmützen tragen oder wildfremde Personen nach dem Weg fragen, was häufig die Grenzen des Erträglichen sprengt.
Bedauerlicherweise haben sich trotz meiner regelmässigen Teilnahme bis zum heutigen Tag noch keine Anzeichen einer raschen Genesung eingestellt. Das mag zu einem nicht zu unterschätzenden Teil daran liegen, dass sämtliche der Gruppe zugehörigen Betroffenen grosse Hemmungen haben, über ihre Hemmungen zu sprechen. Aber einige kleine Erfolge zeigen sich allmählich doch. So habe ich zum Beispiel keine Hemmungen mehr, Geld zu nehmen, und einmal abgesehen von diesen subtilen Lichtblicken, konnte ich etwas sehr Wichtiges lernen, denn, wie Frau Kleinhempel, unsere Therapeutin ganz richtig bemerkt hat, kann es ohne Hemmungen keine funktionierende Gemeinschaft geben. Ausgelebte Hemmungslosigkeit würde unsere Gesellschaft in kürzester Zeit zerstören. Nur durch Hemmungen kann das Chaos, die blanke Anarchie verhindert werden. Da kann man einmal sehen! Ich würde ihr zu gern einmal sagen, dass sie damit vollkommen recht hat. Aber dafür bin ich bedauerlicherweise noch viel zu gehemmt. ♦


Lothar Becker - Schriftsteller Publizist - Glarean MagazinLothar Becker

Geb 1959, Studium der Sozialpädagogik,  schreibt hauptsächlich Belletristik, letzte Roman-Veröffentlichung „Bubble Gum 69“ im Berliner Eulenspiegel Verlag, Texte und Vertonung für/von Musicals, lebt in Limbach-Oberfrohna/D

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Satire von
Lothar Becker: Hitler in der U-Bahn

… sowie die Satire von
Rainer Wedler: Die Weihnachtsaktion

3 Gedanken zu “Lothar Becker: Der grüne Pullunder (Satire)

  1. Ich freue mich, dass es dir verwehrt war, die Tabletten zu kaufen. Sonst hättest du ja diese herrliche Geschichte nicht schreiben können, die mich an meine eigene Hemmung erinnert. Mein Pullunder war ein Blumenkohl oder besser zwei. Aber das ist eine andere Geschichte.

    LG Florence

    • Vielen Dank für das Lob. Aber die Sache mit dem Blumenkohl interessiert mich nun doch. Darf ich erfahren, was da passiert ist?

      • Hallo an den Mann mit dem grünen Pullunder, lieber Lothar.
        Da brauchst du zwei, drei Minuten Zeit, um das Elend zu erfassen.
        Was bei dir dieser Pullunder war, war bei mir ein Blumenkohl – oder besser mehrere Blumenkohls oder Köhle oder was auch immer. Die Mehrzahl kannte ich damals – mit 5 Jahren – noch nicht. Es war in der Nachbarschaft üblich, die greifbaren Klnder hinaus ins feindliche Leben zum Einkaufen zu schicken; zum Krämer, zum Gemüsehändler, zum Bäcker. Ja, sowas gab es damals – kurz vor deinen Geburtsjahr – noch. Ich erhielt also den Auftrag von meiner Oma, 2 Stück dieser schwierigen Sorte Gemüse zu kaufen. Ich liebte diese Aufträge, konnte ich doch schon ohne Zettel einkaufen gehen. Nicht, dass ich ihn nicht hätte lesen können, das konnte ich bereits mit gut 4 Jahren, aber alle Erwachsenen waren einhellig der Meinung, ich sei ein besonders schlaues, pfiffiges Ding und so schwebte, hüpfte ich eigentlich immer zu diesen neuen Beweisen meiner Schlauheit. Ich muss eine echte Kotzpille gewesen sein. Verwöhnt, maßlos überschätzt, was ich schließlich erfahren musste. Im Laden angekommen überfiel mich dann plötzlich die Pullunder-Lähmung: Ich begann zu stottern und mir fiel nur ein, einfach einen Blumenkohl zu kaufen. Viele Nachbarinnen standen herum und tratschten, vor allem Nachbar-Omas mit weniger pfiffigen Enkelinnen. Welche Blamage – obwohl ich das Wort damals noch nicht kannte.
        Ich presste „1 Blumenkohl bitte“ heraus, schnappte ihn und rannte raus, nachdem ich noch an die 30 Pfennig erinnert werden musste. Alle starrten sie mir hinterher – dachte ich zumindest.
        Ich wartete mindestens 10 Minuten. (Eine Uhr hatte ich nicht, konnte sie aber natürlich schon lesen), weil ich doch noch einen zweiten Blumenkohl kaufen wollte. Aber die Kundinnen standen und quatschten, so dass ich langsam nach Hause schlich.
        „Was, hast du vergessen???“ – meine Oma. „Das gibt es doch nicht!“ – Mama.
        „Lass das Kind in Ruhe“ brummte mein Stiefvater. „Dann geht sie eben noch mal, ist doch nicht schlimm. Jeder vergisst mal was!“
        „Aber doch nicht F…., das hat sie doch schon vor zwei Jahren gestemmt“.
        Sie waren fassungslos. Ich biss die Zähne zusammen und ging noch mal los, einen zweiten Kopf zu kaufen. Gottlob war der Laden leer.
        Ich hätte auch zur Konkurrenz, 5 Minuten weiter, gehen können, aber dann hätte ich über eine der vielen Eisenbahnbrücken gehen müssen. Weißt du, über eine dieser Brücken aus Holz mit breiten Lücken zwischen den Bohlen, so dass man die Schienen sehen konnte. Ich wusste genau, dass ich irgendwann durch eine dieser Lücken rutschen würde, also ließ ich das bleiben und biss in den sauren Apfel oder in den weißen Blumenkohl.
        Als ich nach Hause kam, wurde ich verstohlen beäugt. „Sie sieht richtig elend aus…“ – meine Oma. „Wie eingeschrumpft…“ meine Mutter. “Quatsch“, – mein Stiefvater.
        Krank, ja, ich war krank, dachte ich. Vielleicht war mein Gehirn geschrumpft. Das beste wäre, ich würde sterben. Dann würden mich alle bedauern und gut über mich reden. Aber wie? Schlaftabletten kannte ich noch nicht, brauchte bei uns auch keiner; alle schliefen eher zu viel. Ich lege mich einfach ins Bett, dachte ich, und werde immer kleiner, bis ich weg bin. Und das tat ich auch.
        „Hirnhautentzündung“ beschloss meine Mutter. „Sie hat bestimmt Hirnhautentzündung, da setzt es zuerst da oben aus“, meinte sie und zeigte auf ihren Kopf.
        Dann folgte das übliche Ritual. Fiebermessen, kalte Kompressen, bis mir die Zähne klapperten und als ich kleine Bröckchen herausgewürgt hatte, wurde der Arzt gerufen. Die Bröckchen waren ein cleverer Einfall. Brotkrumen mit Spucke zusammen gepresst und dekorativ aufs Kopfkissen gelegt, demonstrierten meine Krankheit. Der Arzt, Dr. B. wohnte gleich nebenan im Haus und kannte uns wie seine zerknautschte, brüchige braune Tasche.
        „Nanu“, polterte er und hockte sich auf die Couchkante. Ich durfte im Wohnzimmer auf dem Sofa residieren und versuchte, blass und schmächtig auszusehen.
        „Nanu, dann kannst du ja am Sonnabend gar nicht zu Sabines Geburtstag kommen, du krankes Hühnchen. Hast du Fieber?“ Er legte mir seine Riesenhand auf die Stirn, hinter der sich zwar kein richtiges Gehirn mehr befand, aber immerhin auch kein Fieber.
        Da fiel mir ein, meine Freundin Sabine, Dr. B.s jüngste Tochter wurde in zwei Tagen 6. Ich liebte sie heiß und innig. Sie liebte mich nämlich auch und sie war gar nicht darauf aus, schlauer zu sein als ich. Eine tolle Freundin also.
        Ich schaffte es sogar, mich wieder aufzurichten und hatte das Gefühl, den Blumenkohl wenigstens für kurze Zeit vergessen zu können.
        So kam es auch, aber ganz habe ich dieses überschätzte Gemüse nie aus meinem Hirn bekommen. Du würdest das nicht gerade als Hemmung bezeichnen, aber ich war seitdem viel weniger enthemmt. Vielleicht ganz gut so, aber noch heute bekomme ich manchmal Hitzeschübe, wenn ich an blamable Momente in meinem Leben denke. Und immer steht der Blumenkohl an erster Stelle der Verursacher; schließlich war er der erste richtige Stolperstein auf meinem Weg.

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)