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Das Opern-Duett als revolutionäres Pulverfass
von Walter Eigenmann
Am 29. Februar 1828 führt das berühmte Ensemble der altehrwürdigen Opéra National de Paris ein Musik-Theater-Werk erstmals auf, das gleich bei der Premiere stilbildende Musik- und zwei Jahre später gar politische Welt-Geschichte schreibt: „Die Stumme von Portici“ („La Muette de Portici„) von Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871).
Die Faszination des zeitgenössischen Publikums ob dieser ersten wirklichen „Grand Opéra“ mit ihren vielhundert-köpfigen Massenszenen, mit ihrem melodisch und rhythmisch effektvoll auftrumpfenden, das französische Kolorit betonenden Orchesterapparat, mit ihrer alle damaligen Hilfsmittel ausschöpfenden Bühnen-Technik, ihren Lichter- und Bilder-Orgien, ihrer gewaltigen Kulissen-Staffage und mit ihrer schier „totalitär“ wirkenden, ganz auf dekorative Dramatik zielenden Regie-Führung muss eine ungeheure gewesen sein.
Neapolitanischer Fischer-Aufstand als Libretto-Vorlage

Librettist des zweieinhalbstündigen Fünf-Akters und dessen tragischer Dreiecks-Liebesgeschichte um den Revolutionär Masaniello, das stumme Fischermädchen Fenella und den Militär-Prinzen Alfonso ist Eugéne Scribe, der bis dato keine historischen, sondern ausschliesslich komische Opern-Texte (u.a. auch für die Komponisten Meyerbeer und Boïeldieu) verfasst hatte. Zur Grundlage seiner „Muette“-Handlung nimmt Scribe den von Tommaso Aniello angeführten neapolitanischen Fischer-Aufstand im Jahre 1647.
Ist also der revolutionäre Gedanke schon im Stoff selber explizit angelegt, so bedarf es im politisch angespannt-labilen Europa anfangs des 19. Jahrhunderts nur weniger, theatralisch wirkungsvoller massensuggestiver Funken, die Pulverfässer explodieren zu lassen.
Das Freiheits-Duett legt die revolutionäre Lunte

Einer dieser Funken zündet 1830 in Brüssel: Nach dem zweiten Akt einer Aufführung von Aubers „Stummen“, genaugenommen nach dem berühmten Freiheits-Duett zwischen Fischer-Führer Masaniello und seinem früheren Mit-Revoluzzer bzw. späteren Todfeind Pietro, lassen sich die aufgewühlten Opern-Besucher derart vom aufpeitschenden Bühnengeschehen mitreissen, dass sie aus dem Theater auf die Strasse strömen, vereint mit den Massen die Polizei-Direktion und den Justiz-Palast stürmen und schliesslich die Druckerei des Regierungsblattes verwüsten. Der belgische Revolutionskampf ist lanciert, er wird zur Unabhängigkeit des Landes von Holland führen.
Ein Opern-Stoff mit politischem Zündstoff

Einmal mehr ist also in der Opern-Geschichte eine rein fiktive musiktheatralische Figur (hier die Stumme Fenella) zum Massen-Symbolträger nationaler (ggf. auch nationalistischer) Strömungen geworden – nur diesmal mit noch nie dagewesener realpolitischer Konsequenz. (Übrigens sorgt „Die Stumme von Portici“ nicht nur in Brüssel für Aufruhr; auch nach Aufführungen dieser Oper in Mailand, Warschau und Kassel kommt es zu politischen Spannungen und Unruhen.)

Auber selbst ist dabei mitnichten ein Revolutionär. Der Sohn eines Offiziers Ludwigs XVI. und späteren Kunsthändlers schreibt an die fünfzig – heute allerdings kaum mehr gespielte – Opern, wovon die wichtigsten – u.a. „La bergére châtelaine“, „Die Gesandtin“, „Die Cirkassierin“, „Réves d’amour“ und v.a. „Fra Diavolo“ als sein unbestrittenes musikalisches Opus magnum – dem komischen Genre zuzurechnen sind.
Etwas Besonders, etwas Dämonisches im Spiel
Umso solitärer Gehalt und Wirkung seines Polit-Dramas „La Muette de Portici“, dessen gesellschaftliche Bedeutung von den politischeren Köpfen unter Aubers Komponisten-Kollegen schon bald gewürdigt wird. Beispielsweise von Richard Wagner, der später über die „Stumme“ schreibt: „Es muss etwas Besonderes, fast Dämonisches dabei im Spiele gewesen sein […] Diese stürmende Tatkraft, dieses Meer von Empfindungen und Leidenschaften, gemalt in den glühendsten Farben, durchdrungen von den eigensten Melodien, gemischt von Grazie und Gewalt… Anmut und Heroismus: Ist dies alles nicht die wahrhafte Verkörperung der letzten Geschichte der französischen Revolution?“ ♦
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