Fünfundzwanzig Jahre sind seit Beginn des Balkankonflikts vergangen, der über Nacht aus Familien, Freunden und Nachbarn erbitterte Feinde machte. Der gebürtige Bosnier Saša Stanišić schreibt in seinem Debütroman „Wie der Soldat des Grammophon repariert“ über den Krieg aus der Sicht eines heranwachsenden Jungen.
Gänsehaut um Gänsehaut. Nicht, weil die Angst so groß ist, sondern weil die Wahrscheinlichkeit, dass man im Frieden einschläft und im Krieg aufwacht, so klein ist.
Višegrad heißt die Kleinstadt, in der Stanišićs Protagonist Aleksandar aufwächst. Es ist ein idyllisches Leben zwischen Angeln im Fluss Drina und feuchtfröhlichen Dorffesten, die wegen Ereignissen wie der Installation einer Toilette im Haus der Großeltern gefeiert werden. Der einzige Bruch, den Aleksandar in seiner Kindheit erlebt, ist der Tod (unter natürlichen Umständen) seines Opas – ein ganz gewöhnliches Leben also. Innerhalb des Romans allerdings markiert das Abbleben des Opas, einem leidenschaftlichen Kommunisten, zugleich den Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens. Nur Tito trifft es ärger, denn der stirbt sogar mehrfach; das Abhängen seines Konterfeis in den Schulen ist für Aleksandar der letzte Tod des kommunistischen Diktators.
Aleksandars Sicht ist die eines Jungen, der noch nicht in der Lage ist, alle Veränderungen um sich herum zu begreifen. Mit seiner naiven, teilweise auch altklugen Art, beschreibt er auf sehr subjektive Weise von seinem Leben und dem Krieg. Die elliptische Wahrnehmung Aleksandars führt den Leser hinters Licht; ganz unerwartet, wie aus dem Nichts, tauchen feindliche Soldaten in Višegrad auf. Und so dauert es, bis Aleksandar die Bedeutung des Kriegs versteht: „Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also.“
Sie alle sind Halbhalb. In diesem Krieg gibt es keine klare Trennung zwischen Feind und Freund. Wie auch? Eben waren sie doch noch Nachbarn. In einer längeren Episode, die von einem Fußballspiel zwischen Serben und den „Territorialen“ berichtet, stehen zwei alte Schulfreunde jetzt an verfeindeten Fronten. Das Spiel ist, je nach Kriegslage, ein schlichtes Fußballspiel oder ein Spiel um Leben und Tod. Dieses lange Fußballspiel, zeigt – kunstvoll komponiert von Stanišić – die Tragik des ganzen Krieges in einem einzigen Wettkampf (eine Szene übrigens, die an eine vergleichbare in Joan Sales‘ Bürgerkriegsroman „Flüchtiger Glanz“ erinnert).
Auch andere, in sich geschlossene Kurzgeschichten erzählen vom Leben vor, während und nach dem Bosnienkrieg. Stanišić ändert dabei leichtfüßig die Gattungen, von Brief zu Aufsatz zu Gedicht, reiht skurrile Kapitel aneinander (eins beispielsweise besteht ausschließlich aus ausgeschriebenen Zahlen) und wechselt die Erzählperspektive, kommt am Ende aber immer wieder zu Aleksander zurück. Die zehn Jahre, die dieser im Exil in Essen lebt, sein Alltag und die Assimilation, werden leider nur im Zeitraffer dargestellt: „Ich freue mich für fünf Nationalmannschaften. Wenn jemand sagt, ich sei ein gelungenes Beispiel für Integration, könnte ich ausflippen.“ Schließlich kehrt Aleksander in seine alte Heimat zurück, auf der Suche nach einem Mädchen, das mehr ein Geist der Vergangenheit zu sein scheint.
„Wie der Soldat das Grammophon repariert“ ist ein Roman, der aus vielen, unterschiedlich langen Fragmenten besteht. Ihnen übergeordnet ist die Rahmenhandlung, in der Aleksandar aus seinem Leben und dem seiner Familie und den Bewohnern seines Dorfs erzählt. Ein melancholischer Grundton schwingt immer mit, die Sehnsucht nach dem Vergangenen, nach der Kindheit und der Leichtigkeit des Lebens vor dem Krieg. Zugleich ist die Sprache oft heiter und plaudernd gehalten, weswegen sich das Debüt Stanišićs als leichten, mitunter sogar witzigen Roman liest, der die Tragweite der Ereignisse nur erahnen lässt: Wer sich mit dem Thema Balkankonflikt nicht auskennt, ist durch die fragmentierte Wahrnehmung Aleksandars schnell verloren. Nicht zuletzt die trockenen Kommentare des Protagonisten machen aus diesem Roman aber eine amüsante Leseerfahrung mit schmerzhaftem Beigeschmack: „Inkompetenz bedeutet: etwas machen, obwohl man keine Ahnung davon hat, Jugoslawien regieren zum Beispiel.“
Saša Stanišić – Wie der Soldat das Grammofon repariert
Deutsche Erstausgabe erschienen im Luchterhand Literaturverlag, 2006
btb Geschenkbuch, München
Oktober 2010, 443 Seiten
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