Er war zwar nicht im Krieg, ist aber trotzdem traumatisiert: Den Protagonisten in Isabelle Lehns Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ verfolgt der Schatten seiner falschen Identität.
„Binde zwei Vögel zusammen, sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben.“
Sechs Wochen, das sind zweiundvierzig Tage oder anderthalb Monate, ein solides Neuntel des Jahres. Je nachdem, wie man es dreht, können sechs Wochen nach einer langen oder einer überschaubaren Zeit klingen. Wer das aber mit einem echten Krieg vergleicht, für den sind sechs Wochen wahrlich ein Klacks. Dem Protagonisten in Isabelle Lehns Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ jedoch genügt diese Spanne, um vollends die Fähigkeit zu verlieren, in sein vorheriges Leben zurückzukehren. Für einen begrenzten Zeitraum spielte Albert Aladdin, einen gleichaltrigen Mann, verheiratet, drei Kinder, lebt im Krisengebiet. Und jetzt lässt Aladdin Albert, der eine ganz andere Biographie hat, Deutscher, freiberuflicher Journalist, Freundin, Mietwohnung in der Stadt, nicht mehr los. Albert ist Aladdin, Aladdin ist Albert, aber vor allem: Albert ist nicht mehr Albert.
Sechs Wochen lang übernahm Albert die Rolle des Afghanen Aladdins, mitten in Bayern, in einem Trainingscamp für Soldaten, die übrigens auch außerhalb des Romans existieren. Der Krieg, in dem Albert sich befand, war nur simuliert, auf den Befehl „Dorfleben!“ hin kehrte er Tag für Tag den Boden seines Cafés, das nie Besucher hatte. Erschossen wurde Albert in den sechs Wochen oft genug – ebenfalls gespielt, mittels eines Sensorgeschirrs, das er tragen musste. Er war in einem Krieg, der kein Krieg war, woran ihn auch seine Freundin nach seiner Rückkehr erinnert: „Du warst nie im Krieg! Du bist nicht mal im Ausland gewesen!“ Doch nach dieser Erfahrung leidet Albert an etwas, dass sich als Posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren lässt und ihn daran hindert, sein altes Leben wieder aufzunehmen. Dass er nicht wirklich im Krieg war, ist dabei gleichgültig, ein Kriegstrauma hat er trotzdem erlitten. Passend dazu setzt Isabelle Lehn ihrem Roman folgendes Motto voran: „Diese Geschichte ist wahr. Alle Namen und Orte sind austauschbar.“ Ob Afghanistan, Syrien, der Jemen oder ein bayrisches Trainingscamp mit simuliertem Krieg – der seelische Schock ist der gleiche.
Zurück in seiner Heimat verschwinden die Grenzen zwischen Albert und Aladdin immer stärker. Albert kann seine alte Rolle nicht vergessen und so übernimmt Aladdin immer größere Teile von Alberts Leben. Und der wehrt sich kaum dagegen, kann sich nicht von Aladdin lösen, bis Aladdin sich selbst löst und zu einer eigenständigen Figur wird, kaum greifbar für den Leser, wahrscheinlich gar nicht existent, für Albert allerdings, dem es immer schwerer fällt, zwischen Realität und Illusion zu unterschieden, sehr real.
Nach einer eindringlichen ersten Hälfte lässt Isabelle Lehn in der zweiten immer häufiger Headlines aus Zeitungen und Zitate aus anderen Romanen einfließen. Die vielen Schlagzeilen des Jahres 2014 sind erneut eine Bekräftigung des Mottos, denn die Namen der Katastrophen und Konfliktherde sind auch hier: größtenteils austauschbar. In dieser Hälfte nimmt die Kraft der Geschichte jedoch ab. Gleichzeitig mit Alberts Wahn wird auch „Binde zwei Vögel zusammen“ wirrer. Zum einen zeigt sich dadurch zwar Alberts Entgleiten der Wirklichkeit, aber mehrere Passagen, wie besagte Romanzitate, sind zu willkürlich eingefügt, um mit diesem Realitätsverlust plausibel zu harmonieren. Isabelle Lehn erreicht spielerisch, den Leser immer wieder auf Glatteis zu führen, sodass ein letzter Funken Zweifel bestehen bleibt: Ist Aladdin schlussendlich doch real? Was ihr allerdings nicht gelingt, ist, die Intensität ihres Romans durchgehend aufrechtzuerhalten.
Isabelle Lehn – Binde zwei Vögel zusammen
Eichborn, Köln
August 2016, 189 Seiten
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Danke für die Besprechung. Sie erinnert mich an Zeitungsanzeigen, in denen eine Agentur zivile Statisten suchte für die Trainings der US Army auf Truppenübungsplätzen in Bayern.
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Nach dieser Rezension bin ich umso gespannter auf das Buch. Auf der Lesung im Literaturhaus Köln wurde die Erzähl(er)krise in der zweiten Hälfte des Romans thematisiert, allerdings in einem komplett anderen Ton als in deiner Besprechung. Jetzt bin ich richtig neugierig, wie’s mir gefallen wird.
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