Nur eine Tasche. Noch diese. Keine andere. Diese Marke. Die besitzt sie. Noch nicht. Sie atmet. Tief. Tiefer. Sie saugt die Luft ein. Leder. Waren. Sie spürt sich nicht. Das Geschäft. Das schon. Ihre Hand fährt. Sanft wie über einen Männerrücken. Jörg. Manuel. Andreas. Hatte sie noch nicht. Sie erschreckt. Ein solcher Name. Den man häufig antrifft. Das Leder ist glatt. Gespannt. Poliert. Sie könnte sich darin spiegeln. Ein wenig. Licht. Die Hand verharrt. Andreas. Es muss einen gegeben haben. Kann ich Ihnen helfen? Sie blickt auf. Der Verkäufer. Sie will den Kopf schütteln. Nein. Mir ist nicht zu helfen. Das sagt sie nicht. Sie überlegt. Wirkt verwirrt. Reiß dich zusammen. Denkt sie. Die Hand noch auf der Tasche. Diese eine Tasche. Die müsste es schon noch sein. Dann ginge es besser. Eine Weile. Eine kleine Weile. Das Leben ist ein zerbrochener Spiegel. Sie will sich in den Einzelteilen sehen. Entdecken. Das Leben besteht aus kleinen Augenblicken. Eine kleine Weile. Noch eine kleine Weile. Jedes Stück will mit Leben gefüllt sein. Mit einer Bewegung. Mit einer Hand. Mit einem Fuß. Mit einem Blinzeln. Einer Träne. Einem Kuss. Sie will nicht. Jetzt nicht. Nicht an Küsse denken. Doch nicht hier. In einem Laden. Die Hand auf einer Tasche. Leder. Der Rücken eines Mannes. Kein Mann. Der Verkäufer ist ein Mann. Ohne Geld. Der kann die kleinen Augenblicke nicht füllen. Doch. Dummes Kind. Mit einem Kuss. Einer Schuppe, die aus dem Haar fällt. Und dann? Fällt das Haar. Haar für Haar. Kein Haar mehr. Ein Mann mit Glatze. Beate. Die findet das sexy. Bruce Willis. Sie nicht. Sie sieht sich keine Filme an. Keine Filme. Doch manchmal. Walt Disney. Eine Prinzessin. Das ist sie. Eine Prinzessin. Steht hier. Ist alles in Ordnung? War sie das? War das der Verkäufer? Sollte sie verwirrt sein? Aufblicken. Den Blick weg von der Tasche. Dem Verkäufer ins Gesicht blicken. Tief ins Gesicht. Nein. Das Gesicht kann nicht glatt sein. Nicht so glatt wie das Leder. Sie wird sich im Gesicht nicht spiegeln können. Das konnte sie noch nie. Darum geht es doch. Sich entdecken. Sich spiegeln können. Sich entdecken. Also bleibt sie stehen. Ruhig. Saugt die Luft ein. Leder. Gemischt nun mit einem Parfüm. Kenne ich doch! Habe ich Vater geschickt. Weihnachten. Letztes Jahr. Das Jahr davor. Sie weiß das Jahr nicht. Es ist von. Sie formt einen Namen. Klein. Nein. Der Verkäufer. Das war er. Warum? Wie kann er? Einfach so. Doch. Das Parfüm ist von Klein. Vater. Sie hat es nie an ihm gerochen. Nie. Nie. Wie Vater jetzt aussieht? Ob er eine Glatze hat? Ob die Haare gefallen sind? Sie atmet die Gedanken fort. Sie streicht die Gedanken aus ihrem Kopf. Sie streicht über das Leder. Diese eine noch. Keine andere mehr. Für die reicht mein Geld. Ohne die muss ich sterben. Der Preis. Sie sieht das Schild. Teuer. Zu teuer. Die Welt ist nicht für arme Teufel. Für die Reichen. Sie ist nicht reich. Sie ist hier, weil sie spürt, dass diese Tasche ihr zusteht. Die da. Sie möchten die Tasche kaufen? Ja. Sie hat es gesagt. Sie kann das Lächeln spüren. Diese Verzerrung im Gesicht des Verkäufers. Breit, breiter. Bald schon wird das Gesicht reißen. Die Haut wird fallen. Ein Totenkopf. Der ist es. Der lächelt sie an. Sie atmet schneller. Sie will sich nicht aufregen. Sie spürt das Zittern. Eine Welle. Sie rollt. Unaufhaltsam. Die Welle wird ihren Körper erfassen. Nicht hier. Nicht jetzt. Schweiß. Nicht schwitzen. Keinen Tropfen verlieren. Bleib stark. Raus. Sie muss raus. Kann sich die Tasche nicht leisten. Mir ist. Was ist mit Ihnen? Mir ist. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser? Nein. Ich muss. Sie stürmt. Seltsam ausladende Schritte. Sie springt über einen Fluss. Von Stein zu Stein. Das sind die Scherben ihres Lebens. Teile davon. Sie muss vorsichtig sein. Sie darf nicht fallen. Nicht stürzen. Nicht hier. Nicht jetzt. Nie! Sie ist draußen. Steht in der Passage. Geschäft an Geschäft. Scherbe an Scherbe. Gesichter hetzen vorüber. Scherbengesichter. Zersplittert. Nasen. Ohren. Münder. Eine Durchsage. Oder die Stimme Gottes. Gott spricht. Von einem Sonderangebot im Untergeschoss. Gurken. Gott verstummt. Sie taumelt ans Geländer. Hält sich fest. Ganz fest. Nicht nachlassen. Umklammern. Das Metall spüren. Rund. Groß. Kalt. Ein Männerschwanz. Sie muss sich erinnern. Da gab es einen. Vater. Nein. Den sah sie nie. Auch nicht nackt. Ich habe meine Eltern nie nackt gesehen. Meine Eltern haben keine Haut. Ihre Haut besteht aus Kleidern. Aus Hosen und Socken und Pullovern und Jacken. Meine Eltern. Sie hält sich am Metallschwanz fest. Sie hängt mit der Hand an einem Schwanz. Denkt an ihre Eltern. Die Welle. Das Wasser in ihr hat sich beruhigt. Sie könnte lachen, weil das alles hier lächerlich ist. Ihr Leben. Sie lebt in einer Passage. Geschäft an Geschäft. Gesicht an Gesicht. Alle wollen verkaufen. Also könnte sie springen. Nein. Man stirbt nicht. Höher. Sie müsste höher steigen. Auf einen Wolkenkratzer. Gott ist zurück. Gott meldet sich. Wieder preist Gott ein Sonderangebot an. Gehet hin und kaufet. Frieden. Es gibt ihn. Sie hat ihn gespürt. Oft schon. An der Oberfläche einer Tasche. Im Glanz, den solche Taschen verströmen. Das Licht spiegelt sich darin. Weich. So weich. Man möchte mit einer solchen Tasche schlafen. Sie in sich spüren. Sie. Die Tasche. Das Geländer. Das Einkaufszentrum ist aufgeladen. Sexuelle Energien. Überall. Glück. So fühlt sich das Glück an. Sie schwitzt. Auf ihrer Oberlippe perlen Tropfen. Schweißtropfen. Sie wischt sich den Bart fort. Wie ein Kind. Ein Schokoladenbart. Wie ein kleines Kind, also kichert sie. Kichert. Hält den Schwanz des Obergeschosses. Atmet alles fort. Schließt die Augen. Konzentriert sich. Sieht sich. Am Tisch. An diesem Tisch im Wohnzimmer. Mutter und Vater sind nicht da. Sind im Schlafzimmer. Streiten. Sie kann sie hören. Schleicht sich nicht bis an die Tür. Bleibt sitzen. Ein gehorsames Kind. Sie öffnet die Augen. Besser. Es geht ihr besser. Ein kleiner Schwächeanfall. Sie geht. Schlendert. Spiegelt sich in den Scheiben. Sie spaziert durch die Auslagen. Sie ist eine Tote. Dort im Glas kann sie es sehen. Jetzt versteht sie. Jetzt begreift sie. Sie geht in den nächsten Laden. Taschen. Schon wieder Taschen. Leder. Sie atmet die Gerüche ein. Atmet das Leben ein. Sie hält die Luft an. Berührt eine Tasche. Eine nächste Tasche. Sie streicht über das Leder wie über einen Männerrücken. Sie spürt Hitze. Fieber. Sie lebt. Jetzt. Diesen einen kleinen Augenblick lang. Sie sitzt auf einer Scherbe. Niemand ist eine Insel. Jeder ist eine Scherbe. Nicht rühren. Nicht bewegen. Nicht fallen. Es kann funktionieren, wenn man das Gleichgewicht behält. Die Luft. Sie hält sie in ihren Backen. Sie dehnt die Zeit. Sie ist ganz bei sich. Hier. Jetzt. Diese eine Tasche. Nur diese. Keine andere. Diese Marke. Die besitzt sie. Noch nicht.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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