Sherlock Holmes und das Geheimnis der Bayard-Papiere

Pierre Bayards kriminalkritischer »Freispruch für den Hund der Baskervilles«

Kürzlich erst weilte ich wieder einmal in der Baker Street, bei meinem alten Freund Holmes, der mich auf Tee und Kokain zu sich eingeladen hatte. Sie können sich sicherlich vorstellen, wie sehr es mich freute, dem berühmten Detektiv wieder einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu sitzen. Beide pressten wir uns eng in die Ohrensessel, entzündeten unsere Pfeifen und lauschten dem Prasseln des Kaminfeuers. Und es prasselte, obwohl es warm genug war. Wahrscheinlich prasselte es aus atmosphärischen Gründen.
»Mein lieber Holmes, was macht eigentlich Watson?«, unterbrach ich die brennenden Holzscheite.
Holmes grinste breiter als gewöhnlich. »Watson? Der gute alte Watson. Er hat sich zur Ruhe gesetzt. Endgültig, so will es mir scheinen. Hin und wieder besucht er mich. Wir schwatzen über die guten alten Zeiten, gehen gemeinsam zum Friedhof und gedenken dort der vergangenen Freunde.«
»Und Conan Doyle?«
»Auch seine Grabstätte beehren wir. Obwohl es mir schwer fällt. Zu sehr hasste er mich in seinen letzten Lebensjahren.«
»Haben Sie vom Buch dieses Pierre Bayard gehört?«
»Ach, mein lieber Rohm, natürlich habe ich das. Dort drüben liegt es.« Holmes zeigte mit seinen knöchernen Fingern hinüber zu einem wilden Stapel aus Zeitschriften, Zeitungen und Büchern.
»Und was halten Sie davon?«
»Nett, aber verdreht. Es mutet mir schon etwas seltsam an, dass man sich genötigt fühlt, meine Realität zu beweisen. Als müsse man mich aus einem wie auch immer gearteten Reich der Phantasie ans Licht zerren. Es gibt mich. Sie selbst können davon künden.« Holmes zog an seiner Pfeife und paffte den Rauch quer durch einen einfallenden Sonnenstrahl. Von Effekten hatte er schon immer etwas verstanden, dachte ich.
»Er nimmt Sie aber ziemlich auseinander.«
»Was erwarten Sie auch anderes von einem Literaturprofessor und Psychoanalytiker, mein lieber Rohm?« Holmes lachte auf.
»Sie werden wohl Recht haben. Obwohl? Ich bin nicht einmal sicher, ob es ihn überhaupt gibt.«
»Bayard? Glauben Sie mir, er ist so real wie Sie und ich es sind.«
»Aber welchen Beweis haben wir für seine Existenz?«
»Er lebt. Buchstäblich. Wir haben als Beweis seines Daseins sein Buch über mich.« Holmes lehnte sich ein wenig vor und badete sein Haupt für einen kurzen Augenblick im Sonnenlicht.
»Aber reicht ein Buch, um das Sein eines Menschen zu bestimmen?«
»Nichts anderes bestimmt über den Menschen, mein lieber Rohm, nichts anderes. Wir alle sind nur literarische Geburten. Wir leben in Geschichten, wir erfinden Geschichten, wir werden von Geschichten erfunden. Sie. Ich. Bayard. Die gesamte Menschheit. Wir werden aus der Familiengeschichte geschaffen, aus der Werbung, aus Zeitungsmeldungen, aus Fernsehbildern.« Holmes lachte glucksend auf.
»Bayard greift sie in dem Buch aber gewaltig an. Er nimmt Ihnen, wenn es mir erlaubt ist das zu sagen, die Feder aus der Hand. Er rollt die Geschehnisse rund um den Hund von Baskerville noch einmal auf, zerpflückt die Geschichte und findet einen ganz anderen Mörder. Seine Ausführungen, ich hoffe Sie nehmen mir das nicht übel, sind voller Esprit. Er sprüht nur so vor Gedankenschärfe.« Ich hatte mich während meiner letzten Worte ein wenig mehr im Sessel vergraben, befürchtete ich doch, dieses Mal zu weit gegangen zu sein. Holmes aber lächelte nur milde. Vielleicht hatte ihn der Tee besänftigt. Von dem Kokain sollte ich ihm heute lieber abraten.
»Sie irren, Rohm. Sie irren wie immer. Verzeihen Sie mir meine Zurechtweisung. Sie mögen ein ganz passabler Schreiberling sein. Eher passabel denn wirklich gut. Ihr Hochmut kommt Ihnen immer wieder in die Quere. Sie vergessen das wichtigste Instrumentarium im Falle Bayard wie auch in meinem Fall. Die Sprache. Beide arbeiten wir mit dem Instrumentarium der Sprache. Ein Instrumentarium, das schnell zur Bestie werden kann, zu einem Höllenhund, der sich in uns verbeißt. Ich kann mich natürlich schnell hinter Conan Doyle verstecken, kann sagen, halt, halt, das war ja alles gar nicht meine Idee. Der dort, Conan Doyle, er schuf mich. Und als er mich nicht mehr los wurde, da wollte er mich Wasserfälle hinabstürzen, und als auch dies nicht gelang, verfiel er auf die Idee mich in einen mehr als löchrigen Fall zu verwickeln. Natürlich ist der Hund von Baskerville misslungen. Ein unlogischer Fall par excellence. Bayard hat das bewiesen. Keine Frage. Aber die Atmosphäre. Die Stimmung. Alles ist perfekt. Alles versteckt sich im Moor. Alles versteckt sich im Nebel. Auch die wahren Mörder. Ich beließ sie dort. Sie oder ihn. Wen auch immer man ausmachen will. Ich beließ sie dort der Geschichte willen. Ich ging den Weg der größtmöglichen Atmosphäre. Das ist natürlich nicht immer der logischste Weg.«
»Also, also hat Bayard Recht?« Ich starrte Holmes mit offenem Mund an.
»Recht, mein lieber Rohm, was ist das schon. Das Recht sollten wir den Juristen überlassen. Die Atmosphäre aber den Könnern der Sprache. Conan Doyle war vielleicht nicht einmal der größte Könner dieses Fachs. Aber er schuf mich. Und er machte mich unsterblich. Und nur deshalb mein lieber Rohm können wir heute hier in der Baker Street sitzen und unsere Pfeifen rauchen.«
»Und Bayard?«
»Bayard hat Recht. Vielleicht. Interpretationen haben den Vorteil, viele Wege zu offenbaren. Bayard hat Recht. Aber er ist sterblich.« Holmes zog abermals genüsslich an seiner Pfeife. »Obwohl«, fuhr er fort, » er arbeitet mit beträchtlichem Fleiß an der eigenen Unsterblichkeit. Nicht das schlechteste. Nicht das schlechteste.« Holmes versank in seine Gedanken und schwieg. Ich hing auch meinen Gedanken nach, spann an Geschichten, die es wert sein könnten, erzählt zu werden. Aber sie müssten mich zur Hauptperson haben. Ich will doch noch in einigen hundert Jahren hier hocken können und grübeln, mit Holmes oder Bayard, oder einem der anderen Unsterblichen. Falls es sie denn wirklich gab. Was für ein Unsinn. Ich konnte nach Holmes fassen. Es gab ihn. Ja, es gab ihn. Aber wenn er beschriebenes Personal war, wer beschrieb mich dann gerade? Erschrocken fuhr ich auf und spähte ins Dunkel des Zimmers. War da nicht eine Hand, die sich nach mir streckte? Oder war es der Schatten der Hand von Holmes? Ich konnte es kaum sagen. Beide Möglichkeiten schienen mir real und wahr.
Als ich mich dann am Abend von Holmes verabschiedete, kam mir sein Blick trüber als sonst vor. Ich glaube, sollte er dereinst doch sterben, werde ich ihn sehr vermissen. Ach, mein lieber Holmes, bleiben sie uns noch lange erhalten.

Pierre Bayard: Freispruch für den Hund der Baskervilles. Hier irrte Sherlock Holmes. Eine Kriminalkritik. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Kunstmann, München 2008. 208 Seiten. ISBN 978-3-88897-529-5. 16,90 Euro.

(Erschienen bei Kritische Ausgabe)

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