Kaffee, Zigarette.
Es gab früher, sage ich zu dem Adler, unterbreche mich, petze die Lippen zusammen, lege den Kopf schief, der Adler folgt aufmerksam jeder Bewegung, siehst du, jetzt rede ich schon von früher, das ist ein untrügliches Zeichen des Alters, nur Leute, die in Richtung Tod spazieren, palavern von früher, der Adler wirkt erschrocken, er hebt den Kopf, schüttelt ihn dann aufgeregt, du hältst mich also nicht für zu alt, frage ich ihn, er schüttelt ihn wieder, ich danke dir, sage ich zu ihm, ich wusste, auf dich ist eben noch Verlass, wo war ich, hm, ach, ja, genau dort, es gab also früher, sage ich zu dem Adler, ein Kino in Fulda, unterhalb des Bahnhofs, du brauchst gar nicht erst darüber nachzudenken, ob du es kennst, denn das war lange vor deiner Zeit, lange, noch länger, das war irgendwann kurz nach dem Krieg, nach welchem Krieg, blöde Frage, nach dem Krieg, du weißt schon, es gab da also dieses Kino, da habe ich meine ersten Filme gesehen, Zeichentrickfilme, Superman, Sindbad, von dort aus ging es auf große Kopfreise, es herrschte immer eine ziemliche Aufregung wenn es dorthin ging, die Preise waren annehmbar, was wir damals bezahlt haben, ich glaube fünf Mark, an die Mark kannst du dich auch nicht mehr erinnern, Gott, Adler, dich haben sie wohl erst vor ein paar Wochen aus dem Ei gepellt, wir sind da also hin und ich sprang ganz aufgeregt stets in die erste Reihe, dachte, geschafft, hier kann sich keiner vor dich setzen, gut, ich erfasste zwar nicht die gesamte Leinwand, aber es war mein Platz, ach, tolle Nachmittage waren das, und dann kam die Alte mit dem Wagen, die Alte trug eine schäbige Perücke und zerrte einen Wagen voller Süßigkeiten hinter sich her, der, befand sie sich dann auf dem Weg nach unten ins Kino, sie stets zu überfahren drohte, sie schob und ächzte und konnte ihn gerade so zurück halten, verschwitzt und außer Atem kam sie unten an und fragte, wer Eis oder Popcorn wolle, manche holten sich etwas, dabei starrte man sie an, ist was, bellte sie manchmal, nein, nichts, aber diese Perücke, man musste einfach hin sehen, sie hustete zwischendurch, sehnte sich wahrscheinlich zu ihren Zigaretten, denn sie rauchte, oben im Aufenthaltsraum konnte man rauchen und dort stand sie und rauchte, das waren noch nicht solche Gesundheitsjahre, damals wurde noch überall geraucht, verflucht, Adler, das waren herrliche Zeiten, ach, willst du auch eine Kippe, nein, in Ordnung, also sie kämpfte sich wieder mit dem Wagen nach oben, es war ein Schauspiel der Sonderklasse, nach jedem Meter hatte man Angst um sie, wir saßen alle da und wussten, irgendwann wird es passieren, irgendwann wird sie von diesem Wagen überrollt, und dann war sie doch oben, sie schaffte es immer wieder, sie ließ sich einfach nicht unterkriegen, ich weiß nicht warum, aber ich musste heute Morgen an die Alte denken, es gibt sie schon lange nicht mehr, aber wir wussten nichts über sie, wir kannten sie nur mit diesem Wagen, so bleibt sie in meiner Erinnerung, vielleicht sollte ich ihre Geschichte aufschreiben, sage ich zum Adler, ich könnte sie beschreiben, wie sie einsam an ihrem Fenster steht und auf die Straße starrt, ich könnte von ihrem Mann erzählen, der drei Jahre zuvor an Krebs starb, Gott, wie sie ihn liebte, und nun steht sie an diesem Fenster, sie hasst das Leben und ihren Job, sie muss bald wieder dorthin, mit dem Wagen ins Kino runter, den Bälgern Eis anbieten, dabei könnte sie den ganzen Tag heulen, sie hatte auch Krebs, aber sie kam gegen den Krebs an, jetzt muss sie diese Perücke tragen, sie hasst die Perücke und ihr Leben, sie vermisst ihn, sie steht am Fenster und starrt auf die Straße und ist sich sicher, sie müsse ihn gleich um die Ecke kommen sehen, aber er kommt nie, ja, sage ich zum Adler, das könnte ich schreiben, aber es wäre nur eine Geschichte, denn die Alte mit dem Wagen gab es wirklich, aber ich habe keine Ahnung, wie sie lebte, was sie dachte, ich kann sie vor mir sehen, rauchend, die Einsamkeit hängt zwischen ihren Lippen, aber ihre wahre Geschichte kenne ich nicht, ich sollte es also lassen, sage ich zum Adler, ich zünde mir eine Zigarette an, der Adler sitzt da und sieht mich an, ich werde mir noch einen Kaffee holen und dann …
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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