26. September 2010, Reisen nach Jerusalem und Fulda, 8.42 Uhr

Kaffee, Zigarette.
Ich las laut, mit kräftiger Stimme, ganz so als würde ich an einer Sonntagspredigt sitzen, ich saß am Küchentisch, sah die Seraphe an, die Seraphe spielte das vielköpfige Publikum, du musst das mal lesen, sagte sie, die nächsten Lesungen stehen an, also las ich laut, obwohl ich es hasse, vor allem hasse ich es, meine eigenen Texte zu lesen. Ich las trotzdem.

Am Abend ging es dann nach Fulda rein.
Es fällt mir mit jedem Mal schwerer in diese verlauste Affenstadt hinein zu fahren.
Wir parkten, eilten hin zur Galerie, da wurde eine Ausstellung eröffnet. Die Anzahl der Leute die sich dorthin verirrt hatten, war erschreckend, da war kaum jemand, wahrscheinlich weil die alle vor ihren Fernsehern hockten und sich den Bohlen in die Köpfe schraubten, also tranken wir unseren Wein, rasch, weil wir schon zur nächsten Veranstaltung mussten, wir tranken und sahen uns die Bilder an, sprachen kurz mit Leszek Skurski, auch mit seiner Frau, schon rückte diese Journalistin an, der würde ich gerne mal auf den Buckel springen, sagte ich, und ließ sie dann unbeachtet, denn von einer echten Journalistin kann man hier nicht reden. (Irgendwann springe ich ihr trotzdem auf den Buckel.)

Es ging hin zum Peter Härtling, hin in die Buchhandlung Uptmoor, die hatten sich auf über 100 Leute eingerichtet, die Gläser mit Wasser und Orangensaft standen bereit, wir legten ab, griffen uns ein Glas, setzten uns und warteten.
Der Eigentümer begrüßte die Gäste, die wenigen zumindest, die sich hierher verirrt hatten, er beschwor die üble Parkplatzsituation in Fulda, war sich sicher, denn die Karten waren doch alle geholt worden, die Leute kämen schon noch. Aber da kam niemand mehr. Man hätte zehn Euro für die Karten verlangen sollen, so aber waren sie verschenkt worden und man sieht doch, wie die Leute mit einem solchen Geschenk umgehen. Wenn etwas nichts kostet, dann scheint es den Leuten nichts wert zu sein.

Da saßen die Seraphe und ich dann, verloren in einem Meer aus Stühlen, zur Linken eine Frau, die sich bei all den freien Stühlen nicht entscheiden konnte, sie setzte sich um, wippte vor und zurück, auch der Stuhl schien ihr nicht recht zu sein, also stand sie auf, setzte sich auf den nächsten Stuhl, es war eine Stuhlprobe der besonderen Art, denn die Dame spielte, sah ich mir meine Seraphe an, mit ihrem Leben. Was soll das nur, sagte Seraphe, wie oft will sie sich denn noch umsetzen, lass sie doch, antwortete ich, Stühle hat sie ja nun wahrlich genug, und vielleicht spielt sie eine Singleausgabe der „Reise nach Jerusalem“.

Das Literaturquiz mit Härtling begann, sehr pünktlich sogar, wurde es doch im Hessischen Rundfunk übertragen. Es wurden Texte vorgetragen, sehr gekonnt und sehr gut, dann durfte man raten. Und Schande über mich, ich kannte nicht einmal alle Autoren, saß da, runzelte die Stirn, hm, den Namen muss ich mir merken, den auch, ich sah auf, die Dame setzte sich selbst während der Sendung noch um. Die war schuld. Da konnte man sich ja nicht konzentrieren.

Also raus, heim in die Trutzburg, der Adler erwachte, sah uns mit seinen Perlaugen erschrocken an, fragte, ist es schon wieder Zeit …?
Nein, beruhigte ich ihn.

Die Seraphe liegt krank im Bett, sie fühlte sich schon gestern nicht besonders gut, vielleicht lag es aber auch an der Trostlosigkeit dieser Stadt, die nichts mit sich und der Kultur anzufangen weiß. Hoffen wir also auf eine einfache Erkältung, die sich mit Tee und Liebe vertreiben lässt. Die Kälte der allgemeinen Gegenwart ist da schon schwerer auszuhalten.

„Man sollte ein Selbstmord ankündigen. Dann kämen vielleicht mehr Leute.“
„Wer bringt sich um?“
„Ein junger Autor.“
„Vergiss es. Da kommt keiner.“
„Und wenn wir den Selbstmord eines Fußballers ankündigen?“
„Dann bekommst du die Bude voll.“
„Hm.“

Wenn Sie Kultur suchen, dann machen Sie einen großen Bogen um Fulda, wenn Sie aber einen guten Kaffee wollen, dann sind Sie bei mir genau richtig. (Die Leser der Pathologie können jederzeit bei uns klingeln.)

Ich werde jetzt noch einen Kaffee trinken, eine Zigarette rauchen und dann …

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10 Antworten zu 26. September 2010, Reisen nach Jerusalem und Fulda, 8.42 Uhr

  1. Meister schreibt:

    es waren doch viele Leute da. Wir haben bis 12 Uhr noch gefeiert! 😉
    Eine der besten Vernissagen die wir erlebt haben.

  2. guidorohm schreibt:

    Freut mich, denn die müssen alle nach uns gekommen sein. Dann war es ja doch noch ein schöner Abend.

  3. Meister schreibt:

    Es war auch mit euch ein schöner Abend 🙂
    http://redcorridor.com/aktuelle-ausstellung/aktuelle-ausstellung.html

  4. Melusine Barby schreibt:

    Gute Besserung an Seraphe! (Sie bestätigen alle meine Vorurteile über Fulda, leider!)

  5. guidorohm schreibt:

    Seraphe lässt Sie auch grüßen. Inzwischen hat es uns beide „erwischt“.

  6. Melusine Barby schreibt:

    Ich empfehle Tee mit Whiskey oder Rum. Mindestens 50:50. Es tötet die Viren. Oder zumindest die Viren-Fühligkeit. Und lässt in tiefen, erholsamen Schlaf sinken. Gute Besserung Ihnen beiden.

  7. guidorohm schreibt:

    Besten Dank! Das mit dem „Schlaf“ kann ich mir bei der Mischung gut vorstellen.

  8. irisnebel schreibt:

    ich hab mich trotz dieser kulturbanausen koestlich ueber den text amuesiert. solche stuhlsucherinnen kenne ich. sind die vielleicht wuschig. aber dann auch noch waehrend der veranstaltung!
    auch das einflechten des adlers in die tasgesgeschichten amuesiert mich immer sehr.

    merkwuerdig, breitet sich die grippe ueber das internet aus?… erst bei tainted talents, dann bei mir, dann bei Melusine und jetzt im fuldaer voroertchen? ich wuensche allseits gute besserung und empfehle meinerseits rotwein und viel schlaf. ich hoffe, den adler verschonts wenigstes und die kinder…

  9. irisnebel schreibt:

    und ja, auch Aléa Torik hat es erwischt…

  10. guidorohm schreibt:

    Liebe Iris Nebel, der Adler scheint mir gesund, außerdem bat er mich noch, Sie zu grüßen. Der Seraphe geht es schon besser, auch ich fühle mich gut, wollen wir hoffen, dass es so bleibt.

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