Roberto Bolaño: Lumpenroman I

Leseeindrücke:  Einband, Titel, Aufmachung, Verlag, Motto und Widmung

lumpenroman     rb070704

Die neuste Veröffentlichung auf dem deutschen Buchmarkt von Roberto Bolaño “Lumpenroman” ist letzten Monat erschienen. Ich habe mich entschlossen, meine Eindrücke der zweiten Lektüre dieses schmalen Buches neben der von Cortàzars “Rayuela” hier zu schildern. Das wird sicher ein längerer Prozess, aber niemand ist ja gezwungen, dies zu lesen. Zwei Bücher gleichzeitig zu lesen ist für mich nichts Neues, außerdem habe ich die Vermutung, dass sich der einer jüngeren Generation angehörende Chilene (1953-2003) und der ältere Argentinier (1914-1984), beide sowieso Kosmopoliten, gut miteinander vertragen werden. Mögliche Parallelen oder Unterschiede lassen sich so auch leichter vergleichen. Rayuela hat Paris und Buenos Aires zum Schauplatz, dann bin ich ab sofort eben auch in Rom zu haus.
Ich erinnere mich an meine leichte Enttäuschung beim Auspacken des Lumpenromans. Auf dem Einband vorn stach mir zweimal das Wort “Roman” ins Auge, allein die Dicke des Buches ließ mich schon an der Richtigkeit dieser literarischen Gattungseinordnung zweifeln.  Der spanische Originaltitel “Una novelita lumpen” irritierte mich ein zweites Mal. Auch der Inhalt später überzeugte mich davon, dass wir es hier mit einer Novelle zu tun haben und keineswegs mit einem auch nur kleinen Roman, von der dürftigen Quantität einmal abgesehen. Das spanische “lumpen” beschreibt eine soziale Schicht: den Pöbel oder den Mob. So scheint mir auch Bolaño mit diesem Adjektiv eine soziologische Benennung vornehmen zu wollen, ohne damit vordergründige Sozialkritik zu verbinden. Ich vermute, dass der Titel “Lumpenroman” mehr vom Verlag als vom Übersetzer Christian Hansen gewählt wurde. Wahrscheinlich weniger verkaufsfördernd, aber dem Inhalt möglicherweise gerechter werdend, ist mir persönlich noch “Gossengeschichte” eingefallen, aber Titelfragen sind wohl eher Geschmacks- und Verkaufsfragen. Im Deutschen assoziieren wir das Wort natürlich simpel mit kriminellem, heruntergekommenen Milieu. Aber auch mit abgetragenen, zerschlissenen Kleidungsstücken. Da kam mir die Assoziation, dass man früher den Brei zum Erstellen von Papier und damit Büchern auch aus Lumpen, genauer Hadern, machte. Die etwas dickeren holzfarbig raueren Seiten im Innern könnten diesem Gedanken weiter Nahrung geben. Dann aber zählte ich 109 Seiten, wobei man von 100 ausgehen muss, der “Roman” beginnt erst auf S. 9. zwischen jedem Kapitel befindet sich noch einmal eine leere Seite, also eigentlich sind es nur 84 Seiten groß gedruckter Text. Kurz gesagt: was den Umfang und die Marketingstrategie angeht: eine Mogelpackung. Sicher verdient das Werk Bolaños vollständig auf Deutsch übersetzt zu werden, aber hier setzt man im Hanser Verlag ausdrücklich auf den Nachfolgereffekt wie in der Musikindustrie, man schießt nach dem Erfolg des Romans (!) “2666” noch etwas Neues des gleichen Autors hinterher. Was allerdings dieses Urteil mildert, ist die fast schon bibliophile Ausstattung. Einband und Typographie im gleichen Design wie “2666”. Ebenfalls bei beiden ist ein farbiger Buchschnitt vorhanden. Nur die Farbe selbst hat von Orange auf jetzt Grün gewechselt. Einband und Vorsatzpapier haben wasserzeichenartige mäandernde Fäden im dunklen Hintergrund. Ich werde trotz dieser sehr dünnen Ausgabe keinen Band dieser Reihe verpassen, nicht zuletzt auch, ich greife vor, weil der kurze Inhalt literarisch das liebevoll gestaltete Äußere noch um einiges übertrifft. Das für nächstes Jahr geplante “Dritte Reich” ist für mich ein Muss. Vielleicht erscheinen ja auch andere schon übersetzt vorliegende Werke noch einmal neu in dieser schönen Aufmachung.
Den Verlag Hanser muss ich des weiteren kritisieren, weil die Texte und Zitate auf dem hinteren Buchdeckel auf mich unpassend und dümmlich wirken. Sie führen, wie schon bei “2666” in die Irre, sind nur dazu angetan einen vordergründigen Kaufimpuls zu verstärken. Als ob man es hier mit Krimi- oder Horrorware zu tun hätte, wird fleißig mystifiziert und von einem “unauffindbaren Schatz” und einem “sagenhaften Tresor” geredet. Das ist einer eher peinlichen Verlagsstrategie geschuldet, ein billiger Plot mit Krimimasche. Vielleicht soll dies einer potentiellen Leserzielgruppe entsprechen, wird aber dem literarischen Inhalt wie schon bei “2666” nicht gerecht. Hoffentlich ändert der Verlag in Zukunft seine Marktzugeständnisse und  versucht wenigstens ansatzweise die Bücher Bolaños weniger reißerisch anzubieten.
Einige vorläufige Worte möchte ich noch über das Motto verlieren. Es ist von Antonin Artaud und lautet wie folgt:

Alles Geschriebene ist Schweinerei.
Die Leute, die das Unbestimmte verlassen, um zu
versuchen, irgendetwas von dem, was in ihrem Geist
vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine.
Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und
besonders dasjenige dieser Zeit.

Ich glaube, dass dieses Motto etwas von dem Skeptizismus ausdrücken soll, den Bolaño gegenüber seinem eigenen Schreiben hatte. Ein Text kämpft immer damit, nicht so authentisch sein zu können wie die in ihm erzählte, dargestellte Realität. Mir kam die gesamte Novelle sprachlich und auch inhaltlich minimalistisch, fast nüchtern vor, als würde Bolaño versuchen, mit seiner Erzählweise dieses grundsätzliche Manko und die Unfähigkeit von Texten, mehr als nur abbildend zu sein, aufheben zu wollen.
Auch seine immer wieder fast plötzlich auftauchenden symbolistischen Metaphern sollen über das rein Deskriptive hinausweisen. Er schrieb und lebte von Literatur, hatte aber immer auch genug Selbstironie, Schreiben als Ganzes in Zweifel ziehen zu können. Für Antonin Artaud waren Texte nicht authentisch. Die gefrorene Buchstabensuppe war nicht in der Lage, Wirklichkeit mit ihrer ganzen Magie und Körperlichkeit, der Transzendenz jedes gelebten Augenblickes, darzustellen. Deshalb setzte er im Theater auf andere Ausdrucksmittel und suchte die Unmittelbarkeit mit dem Zuschauer. Die Zeit für Artaud ist aber in dem von Bolaño verwendeten Zitat noch die des um 1925 nachwirkenden Naturalismus und des bürgerlichen Dramas. Bolaño stellt nun aber durch sein Zitieren einen Bedeutungszusammenhang mit unserer heutigen Zeit her, mit seiner eigenen und unserer Zeit. Auch in ihr lebt eine bürgerliche, bildungsbürgerliche Verkrustung weiter, gegen die er sich implizit mit diesem Zitat ausspricht. Der apodiktische kurze erste Satz drückt seine eigene auch humorvolle Haltung gegenüber dem kommenden Text aus, obwohl die tief melancholische Stimmung darin dem zu widersprechen scheint. Aus drei Sätzen besteht das Zitat. Im ersten ist die Literatur, im zweiten die Schriftsteller gemeint und im dritten wird auch der Leser selbst mit dem Begriff “Literatenvolk” einbezogen. Auf die Detailfragen der Übersetzung werde ich später noch einmal zurückkommen. Da dieses Buch Bolaños noch nicht ins Englische übersetzt ist, haben wir bisher drei verschiedene Sprachvarianten dieses Mottos, Französisch, Spanisch und jetzt Deutsch. Ich werde alle drei Fassungen miteinander vergleichen, wenn mir das französische Original vorliegt.
Bolaño widmete seine letzte Novelle, wie schon seinen letzten Roman “2666”, seinen beiden Kindern Lautaro und Alexandra. In ihnen hat er wohl eine Zukunft gesehen, die es für ihn leider nicht mehr gab. Mit dem 1. Kapitel wird es demnächst hier weitergehen.