Dieter Forte: Auf der anderen Seite der Welt II
Leseeindrücke S. 40 – 115 der TB Ausgabe “Tetralogie der Erinnerung” Bd. 4.2010
“Tetralogie der Erinnerung” Alte Postkarte der Kurklinik auf der Nordseeinsel Föhr
Romane liest man auch auf dem Hintergrund der eigenen Erfahrung. Das Gelesene verschmilzt mit der persönlichen Erinnerung. Die ist natürlich nie deckungsgleich und wozu hat der Mensch seine Phantasie, wenn nicht dazu, sich durch das Lesen eben andere Erfahrungsbereiche zu erschließen. Diese vermischen sich im virtuellen Leseraum mit den eigenen empirischen. Das ist ein wenig so wie Realität sich im Netz abbildet und diese Folien auf dem Hintergrund unserer ganz subjektiven Lebensgeschichten erneut gespiegelt werden. Eigentlich sehen wir also immer nur in das Prisma unserer eigenen Fiktionen.
1975 lag ich ein halbes Jahr im Stadtkrankenhaus Kassel auf einer Spezialstation. Für einen Einundzwanzigjährigen eine sehr lange Zeit. Deshalb kenne ich das Paradies, von dem der alte, mit dem Tode ringende Lungenkranke erzählt, nur zu gut. Geschickt lässt Dieter Forte diese inhaltlich und sprachlich beeindruckende Figur von ihren Nachkriegserlebnissen und Lebenserfahrungen aus jüngeren Tagen erzählen. Wer hätte nicht von Personen aus dem eigenen Leben zu erzählen, bei Forte resümieren aber diese skurrilen, beispielhaften Insassen selbst ihr Leben. Das spaltet den erzählerischen Blick auf. Nicht das eindimensionale Ich des Hauptprotagonisten erzählt, sondern die von ihm erinnerten Personen, denen der Ich-Erzähler während seines Aufenthaltes begegnete. Eine doppelt in die (Kriegs)Vergangenheit und in die Wiederaufbauzeit der fünfziger Jahre gerichtete Perspektive. Diese Menschen können sogar noch als Tote aus einer mythischen Distanz heraus, die scheinbar über den Dingen steht von ihrem Leben erzählen. Anmaßend, hybrishaft erheben sie sich dabei jedoch nicht. Fatalistisch schicksalsschwer hadern sie mehr mit sich selbst und dem Zustand der Welt. Den jungen Mann, ebenfalls schwer lungenkrank, beeindrucken am stärksten die Schilderungen des todgeweihten Alten, dem er noch aus dem Grab heraus fasziniert zuhört. Sie reden über Gott und die Welt. Der Alte ist so etwas wie ein “gläubiger Atheist” und er korrigiert das erste Gebot folgendermaßen:
“Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Obwohl es besser wäre, es hieße: Ich bin dein Gott und nicht dein Herr, du sollst die Götter der anderen ebenso ehren wie mich.”
Dann fragt der Jüngere den im Sterben liegenden Alten nach dem Paradies:
“Das Paradies gibt es, antwortete der Alte und sah aus dem Fenster in den immer blauer werdenden Himmel. Auf dieser Insel frei atmend zu gehen wohin man will, die Erde und die Menschen zu sehen und zu hören. Das Tor zum Paradies öffnet sich, wenn man nach langer Zeit zum erstenmal auf wackligen Beinen in den Park geht. Die zweite Stufe ist erreicht, wenn man auf den Deich und an den Strand darf, ganz allein zwischen Himmel und Erde, Wind und Wolken, Sonne und Meer. Das goldene Paradies aber, das öffnet sich in dem Moment, da du ohne Aufsicht und Begleitung, ohne Vorschrift und Termin in die Hafenstadt fährst und dich in das Café setzt, das es da gibt. Blick auf den Hafen, das Meer und die kleine Promenade davor, die unwichtigen Gespräche der Menschen im Café, und du mittendrin, ganz normal, ohne Isolierung. Es ist unbeschreiblich, es ist das Schönste, was es auf Erden gibt, selbst Gott wird neidisch auf dich sein. Das ist das wirkliche Paradies, du atmest und gehst und bist frei unter Menschen, und die Erde ist dann wirklich sehr schön. Der Alte nickte versonnen und lächelte zum erstenmal: Natürlich ist das nur ein Paradies für die, die aus dem Nichts kommen, die wissen, daß sie im Nichts leben, vor diesem Hintergrund ist es schön. Für alle anderen ist es nur ein ödes Provinzcafé, in dem man sich langweilt. Das ist vertrackt. Aber je länger man hier liegt, desto klarer wird die Sache. Du wirst lernen zu sehen und zu hören und darüber zu lachen. Man kann nur über das Nichts lachen. Alles andere hat ja immer eine festgelegte Bedeutung, es ist wichtig und erhaben und ernst, niemals lächerlich, da werden sie böse in der Welt da draußen, dieser neuen, frisch aufgebauten, die so bedeutsam ist, daß kein Mensch dir diese Bedeutung erklären kann, weil sie nämlich nur eine Fassade ist, hinter der immer noch die alten Mauern stehen. Aber wehe du lachst darüber, sie werden dich steinigen.” TdE, 4, S. 49 Mitte
Vermutlich bewegt mich dieser Absatz nur deshalb so, weil ich die Erfahrung teilen kann. Mein Café lag 2009 auch auf dem Festland, die Insel von der ich mich erhob, war mein Krankenhausbett und der fünfhundert Meter lange Gang zum Bistro lag sogar noch in der Medizinischen Hochschule selbst. Eine Strecke, vor der ich mörderischen Respekt hatte. Dann saß ich das erste Mal dort mit einem Milchkaffee und sah dem Strom der fremden Menschen zu, jedes Gesicht erzählte mir eine Geschichte, so viele verschiedene Menschen unterschiedlichen Alters und Nationalität. Länger als zwanzig Minuten schaffte ich es noch nicht, dort sitzen zu bleiben, sonst hätte ich den Weg zurück neben dem Rollstuhl nicht mehr geschafft. Meine Wahrnehmung war geschärft und der Zeit enthoben. Mich durchfloß eine Empathie für jeden Fremden und Unbekannten, den ich hätte ansprechen können, aber doch nur schweigsam in seiner Schönheit betrachtete mit einem Blick, der das Nichts jetzt kannte.
Der wie eine Schiffsfahrt auf eisiger See geschilderte Ausflug oder besser Ausbruch der lungenkranken Patienten in die Inselkneipe findet ebenfalls eine persönliche Entsprechung bei mir. Während des halben Jahres in Kassel floh ich mit einem Bettnachbarn durch die Katakomben der Pathologie des Krankenhauses ins dortige Staatstheater zu einer Ballettaufführung von Tschaikowskys “Schwanensee”. Erst um Mitternacht ging es im Lastenaufzug an der Nachtschwester vorbei zurück auf die Station. Dieser gefährliche Kulturausflug war zwar in meinem Fall alkoholfrei, aber das mulmige Gefühl der Entdeckung, ob es nun in die Inselkneipe oder ins Theater ging, ist für mich leicht nachvollziehbar. Die Orte des Romans, die Insel, das zauberberghafte Lungensanatorium erinnern mich an den Begriff der Heterotopien im klassischen Foucaultschen Sinne. Orte, die ein Gefühl des “Aus-der-Welt-Seins” verstärken und die eine eigene sozialpsychologische Struktur, z. B. der Patienten untereinander oder der Weiße-Kittel-Hierarchie kennzeichnet. Sie ähneln der Hierarchiestruktur eines Gefängnisses. Der Abstand zur Außenwelt und die potentielle Nähe zum Tod provozieren allein schon den Leuchtturmblick auf das normale Leben draußen. Wie der Patient vom Arzt, wird die Normalität des Außen von einem erinnernden Standpunkt aus diagnostiziert. Die Gesellschaft in ihrer Fortschrittsgläubigkeit, in ihrer Nachkriegsgier nach Wachstum und Wohlstand und ihrer Verweigerung einer Aufarbeitung der schrecklichen Vergangenheit, die Restaurationsphase des Nachkriegsjahrzehnts wird so in einer Kapitalismus- und Religionskritik gespiegelt, die beim heutigen Lesen den jetzigen Gesellschaftszustand immer mitdenken lässt. Andererseits verklärt das eigene Ausgeschlossensein die normale Welt, das soziale Miteinander der anderen zu einem wahrgenommenen Paradies, das aber für diese selbst nicht sichtbar wird. Der Erzählstandpunkt bei Forte ist sehr wichtig. Der junge Mann als Ich-Erzähler tritt oft in den Hintergrund und lässt einzelne seiner Mitinsassen, zu rollenhaften Prototypen werden. Ein Major a.D., ein Generaldirektor, ein Börsianer, ein Schachspieler und ein Revolutionär oder ein Handelsvertreter bilden ein Panoptikum aus charakteristischen Personen, die aus ihrem Leben vor dem Krieg, im Zweiten Weltkrieg und danach ihre Erlebnisse berichten. Damit entgeht der Autor der Falle, nur das eigene Ich erinnernd erzählen zu lassen, nur eine Erlebnisschilderung eines früheren authentisch eigenen Sanatoriumsaufenthaltes im Rückblick aus einer eindimensionalen Perspektive abzugeben.
Aus den Figuren herausragend, die stärkste Erinnerung des Ich-Erzählers und damit in einem Übertragungsvorgang auch für den Leser, bleibt jedoch sein sterbender Bettnachbar, der lebenskluge Alte, der von sich als Lebensretter, als Karussellbesitzer, als Kriegsopfer im Lazarett erzählt. Die Eingangssequenz jedes Kapitels und auch der Anfangssatz jedes Absatzes seiner Schilderungen, “Da wartet man nun auf den Tod”, findet einen Höhepunkt, als sich sein junger, am Leben bleibender Bettnachbar auf den Friedhof der Insel begibt. Dort hört er dessen Stimme und stellvertretend die Stimmen aller Toten. Diese Stimmen stehen nicht nur für die verstorbenen Kranken der Insel, sondern rückblickend für die Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges, für den Mythos des Menschen, trotz des großen Nichts, trotz berechtigtem gesellschaftlichen Skeptizismus, sich nur in der gemeinsamen Erinnerung wieder neu finden zu können.
Artikel zum Roman:
Volker Hage: Als die D-Mark jung war. Spiegel 2004
Alexandra Pontzen: … wähle ich den Schmerz. Literaturkritik.de 2005
Matthias Kußmann: Dieter Forte zum 70. Geburtstag Dradio 2005
Michaela Schmitz: Sprachbilder, die kein Leser vergisst. Dradio.de 2010
Werner Jung: Aufsteiger, Spinner. Frankfurter Rundschau 2004