Die Vergeblichkeit der Erinnerung III

Zeichnung_Proust_Guermantes

Als seine Füße auf dem glatten, frischen Laken versuchten, sich in die Bettdecke am unteren Ende einzurollen, war das Bett mal wieder eine Handbreit zu kurz. In diesem neuen, fremden Raum, unter dieser fremden Bettdecke, wurde ihm auch die Zeit selbst fremd. Denn obwohl es nur wie bei allen die Gegenwart war, die ihn wie eine Seifenblase umgab, fühlte er sich manchmal als ein Zeitreisender; als ein multiples Wesen, dass sich veranlasst sah, Bücher mit in die Krankenhausaufenthalte zu nehmen, wie jetzt den schmalen Rilke-Band, um der Monotonie dieser Bettenbuden zu entkommen. Bücher konnten Lehrmeister sein, sich ständig auf eine Gedankenreise zu begeben. Zumindest sie hoben seine Zeitzugehörigkeit für die Dauer des Lesens auf. Immer war der Kopf dabei ein ziemlich stürmisches Meer, in dem seine Gedanken nicht nur in dem jeweilig Gelesenen steckten, sondern sowohl in die eigene Vergangenheit, als auch in seine ersehnte oder befürchtete Zukunft schweifen konnten.

Vor drei oder vier Jahren hatte er ab und zu zwar in einem schmierigen Kino, aber an einem Abend auch im Staatstheater gesessen. Das war ein unerlaubter Ausbruch in die Nacht gewesen, eine für sich unglaubliche Geschichte. Neben dem Schwesternzimmer gab es den Lastenfahrstuhl, der für die beinahe mannshohen Essenscontainer und letzte Fahrten in den OP vorgesehen war. Er hatte sich mit seinem Bettnachbarn zusammen telefonisch Theaterkarten vorbestellt und als es auf dem Flur der Station ruhig geworden war, waren sie unbemerkt in Straßenkleidung in diesem Fahrstuhl drei Stockwerke bis hinunter in die Versorgungskeller gefahren. Die Aktion hatte etwas Unerlaubtes, denn am Tage durfte man wohl im Gartengelände spazieren gehen, aber das Areal zu verlassen und dann noch abends bis in die Nacht wegzubleiben, war allein aus versicherungsrechtlichen Gründen nicht statthaft. Einmal aber musste man der Eintönigkeit des Tagesablaufs in dieser Einrichtung entfliehen dürfen. Unten angekommen erschraken sie beide vor der monströsen Technik, den riesigen Versorgungsrohren, die an der Decke entlang liefen und fühlten sich wie flüchtende Kriminelle, die sich erst in Sicherheit wogen, als sie durch die beiden großen Klarsichtpendeltüren aus Kunststoff ins Freie geschlüpft waren.

Sie nahmen sich eins der Taxis, die ständig am Straßenrand der Krankenhauseinfahrt für gerade entlassene Patienten und eilige Besucher bereit standen. Die Lichter der Straßenlaternen hatten die Stadt schon in ein samtweiches Abendlicht gehüllt. Bereits zehn Minuten später standen sie vor dem langestreckten Gebäude des Staatstheaters, in dem Tschaikowskys “Schwanensee” für 20 Uhr auf dem Programm stand. Er ging nicht oft zu einer Tanz- oder Ballettaufführung und als sie ganz ungewohnt nebeneinander in einer der vorderen Zuschauerreihen saßen, hatte er das Gefühl, auch wegen des verwegenen Umstands der Klinik entflohen zu sein, etwas Einmaliges und ganz Besonderes zu erleben. Als das Hauptthema leise und langsam von einer Oboe gespielt begann, sich allmählich mit den Streichern unwiderstehlich steigerte, schmolzen seine Gefühle dahin, weiteten sich, als läge eine Wiesen- und Waldlandschaft vor ihm, Gärten, die am Horizont nicht aufhören wollten. Die als weiße Schwäne verkleideten Tänzerinnen glitten über die Bühne und jedes Gesicht, jedes tänzelnde Bein unter den kurzen Röcken ließ ihn an Marie und Annette denken. Einmal waren sie bei ihm vorbei gekommen, als er nach sechs Wochen Quarantäne wegen einer ansteckenden Gelbsucht das erste Mal wieder Besuch empfangen durfte. Einen Blumenstrauß hatten sie ihm bei ihrem gemeinsamen Besuch mitgebracht, zu dem er, als sie wieder gegangen waren, das Buch, das er damals las legte, und eine Kerze darauf stellte. Seine magere Vorstellung von Romantik in der ansonsten tristen Umgebung des Krankenhauszimmers. Dieses Buch war der dritte von sieben  Bänden aus der Kreisbücherei, die ihn sein Großvater nach und nach in einer Plastiktüte bei seinen Krankenbesuchen mitgebracht hatte, “Die Welt der Guermantes”, aus dem gerade damals von ihm neu entdeckten Romanzyklus “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”. Nachdem sie gegangen waren, hatte er begonnen dieses stillebenartige Ensemble vom Bett aus zu zeichnen. Eine unscheinbare Bleistiftzeichnung, die er aber wie einen Schatz hütete. Nicht um ihrer selbst willen, sondern weil in ihr die Erinnerungen verborgen und für immer eingeschlossen bleiben würden, wie in Bernstein gegossene Insekten der Eiszeit. Damals versuchte er ständig, aus den Mädchen, in die er verliebt war, auch so etwas wie unerreichbare Herzoginnen zu machen. Edle Frauen, die auf einen Sockel gehoben wurden, vor Schönheit strahlten und deren Anwesenheit ihn verzauberten. Meist war seine Phantasie dabei nicht besonders konkret, denn die Mädchengestalten glichen eher Wunschvorstellungen aus einem Lewis-Caroll-Reich oder schlimmer noch, den weichgezeichneten Fotografien eines David Hamilton. Er brachte es sogar fertig, eine lautmalerische Zeile über ihrer beider Nachnamen zu verfassen wie: Es hollert der Bach im tiefen Tal, in dem sich ihre Nachnamen Hollenbach und Diefenthal verbargen. Seine Schwärmereien hatten in der Wirklichkeit oft nicht die geringste Entsprechung, was ziemlich charakteristisch für die  Gefühlsduseleien eines Träumers war. Bei der Ballettaufführung hatte ihn die Musik auch auf weißen Wolken davongetragen. Vom schwarzen Schwan und seiner Symbolik bekam er nicht das Geringste mit. Es gab nur weiße Schwäne, alle Mädchen und Frauen sollten weiße Schwäne sein. Diesem Ideal mussten sie einfach entsprechen, um anbetungswürdig genug zu sein. Marie zum Beispiel war zwar klein, ihr Gesicht aber war so schön und voller Zartheit, dass er sich einfach nicht vorstellen konnte, es könne sich irgendwann einmal zu einer bösen, wütenden Grimasse verzerren. Annette als ihre Freundin strahlte in ihrer Größe dagegen eine exotische Erhabenheit aus. Tief in seinem spätpubertären Innern schämte er sich damals für seine eigenen kitschigen Vorstellungen. Brach sein Kartenhaus im normalen Alltag zusammen, wurde er melancholisch und schien von einer Art Weltschmerz ergriffen.

Als die Vorstellung beendet war, entschlossen sie sich, den Rückweg zu Fuß zu gehen und nach einer knappen halben Stunde fuhren sie vom Versorgungskeller aus mit dem gleichen Fahrstuhl und einem mulmigen Gefühl wieder hoch auf die Station. Oben erwartete sie die Nachtschwester mit dem grellen Strahl ihrer Taschenlampe und einem vorwurfsvollen Blick, den sie aber zu recht nicht besonders ernst nahmen. Der Streifzug durch die Nacht war beendet, ihr Zwangsaufenthalt aber noch lange nicht. Jetzt, wo er sich wieder in der gleichen Stadt und im gleichen Krankenhaus, ja auf der gleichen Station befand (bei dem Zimmer war er sich nicht sicher) und in einem ähnlichen Bett lag, kam ihm das Gedächtnis wie eine der schwach beleuchteten Straßen vor, durch die sie vom Theater zurück gegangen waren. Immer nur wenige Straßenlaternen warfen ein punktuelles Licht ins Dunkel und auf die nur schwer lesbaren Straßenschilder. So war das mit der Erinnerung, wenn man sie nicht auf irgendeine Art festhielt, wurde sie zu einem verwelkten Blumenstrauß oder dem Schatten einer verloschenen Kerze auf einer vergilbten Zeichnung.

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