Hölderlins Worte mit Füßen getreten
Den letzten Vers des Gedichts “Andenken” von Friedrich Hölderlin kann man im schönen Landschaftsgarten Gräflicher Park in Bad Driburg auf Steinplatten abschreiten. Dieser begehbare Steinweg befindet sich im sogenannten Hölderlin-Hain, von dem aus man gegenüber auf eine Diotima-Büste blicken kann, die auf einer kleinen Insel in Form einer Stele inmitten eines Teiches steht. Die Diotima-Insel und der Hölderlin-Hain sollen an die glückliche Zeit im Jahr 1796 erinnern, die Friedrich Hölderlin mit der von ihm als Diotima in seinem Werk verewigten Susette Gontard in Bad Driburg verbrachte. Literarische und andere kulturelle Veranstaltungen organisiert die Diotima-Gesellschaft, die die historisch belegten Aufenthalte von Hölderlin oder auch Annette von Droste-Hülshoff zum Anlass nahm, dem Kurort Bad Driburg ein künstlerisches Flair zu verschaffen.
Natürlich habe ich Hölderlins Worte nicht mit Füßen ge-treten, ganz im Gegenteil habe ich sie eher andachtsvoll vorsichtig be-treten und dabei fotografiert. Das einzelne menschliche Gedächtnis mag brüchig und endlich sein, Hölderlins letzter Vers hat sich längst selbst bewiesen:
Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb‘ auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Lieber Bücherblogger,
da regt sich spontan Widerspruch in mir. Gegen das, was Hölderlin da gesagt hat. Hieße ja, es bliebe nur das Aufgeschriebene, in Stein Gemeißelte, jedenfalls für uns sichtbar Festgehaltene. Aber was davon? Die Buchstaben? Oder tatsächlich der Inhalt? Welcher, der vom Dichter gemeinte oder der vom Leser aufgefasste? Bleiben auch die sicher oder zitternd geführte Hand beim Schreiben, bleiben die Ausgangssituation, der zeitliche und räumliche Kontext, die erste Interpretation? Verändert sich das nicht alles? Und ist es nicht bei der Dichtung so wie bei der Welle, dass sie kommt und geht und die erste Begegnung einmalig bleibt, weil schon bei der zweiten und dann bei allen folgenden wir selbst mindestens minimal verändert sind? Ist nicht, was bleibt, vielmehr der Eindruck oder ein Abdruck? Einer, den alles, was uns begegnet und berührt, hinterlässt. Manchmal nur winzig und nicht bewusst abrufbar, aber dennoch prägend, irgendwo in uns gespeichert. Ich glaube ja, dass alles, was einmal war/ ist, auch bleibt, manches in einer winzigen Spur. Dem großen Ganzen auf immer eingeschrieben. Womit wir wieder bei der Schrift, beim Text wären.
Soweit mein spontaner Widerspruch. Wenn ich mir die Hymne „Andenken“ ganz durchlese, kann ich Hölderlins Schluss nachvollziehen, der – nach meiner Lesart – dem Wunsch entspringt, der Endlichkeit des Lebens etwas Unendliches entgegenzusetzen: Die Möglichkeit des immer wieder Zurückkehrens zum Gewesenen, geschaffen vom Dichter mittels Festhalten inneren und äußeren Erlebens.
Mir gefällt ja am besten diese Strophe:
„Es reiche aber,
Des dunkeln Lichtes voll,
Mir einer den duftenden Becher,
Damit ich ruhen möge; denn süß
Wär unter Schatten der Schlummer.
Nicht ist es gut,
Seellos von sterblichen
Gedanken zu sein. Doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu hören viel
Von Tagen der Lieb,
Und Taten, welche geschehen.“
Das spricht mich sehr an, das kann ich nachvollziehen. Es ist der Einfluss, den wir auf unsere Gedanken haben und ihre Neigung, sich zu verselbständigen und Nester zu bauen. Und wenn wir alleine nicht gegen das Triste ankomme und auch der Schlaf nichts nützt, dann tut es vielleicht ein Gespräch und ein gemeinsames Erinnern an gute Tage ganz bestimmt.
Es ist mir jetzt fast peinlich, wie lang dieser Kommentar geworden ist. Aber da sehen Sie mal, was sie mit einem vergleichsweise kurzen Artikel auslösen können. :-)
Herzliche Grüße,
Iris
Liebe Iris,
Auslöser war wohl weniger ich, als dieses Gedicht von Hölderlin und über lange Kommentare freue ich mich. Es ist schön, wenn sich jemand traut, seine eigenen, manchmal auch die vielen Gedanken zu teilen. Natürlich kommen bei einem so apodiktisch wirkenden Schlusssatz auch Zweifel und Widerspruch in einem hoch, aber der Schlüssel zu diesem letzten Vers liegt für mich auch in dem Wort „stiften“. Darin ist nach meiner Auffassung, alles was Sie oben über den eigentlichen Text hinausgehend ansprachen enthalten, unterschiedliche Rezeption, andere Zeiten, ja selbst dass dieses Gedicht oder der Dichter wieder vergessen werden. Der Mensch an sich sowieso, wenn niemand mehr lebt, der ihn oder sie gekannt hat. Das Gedächtnis des Einzelnen ist endlich, das Gedächtnis der Menschheit genetisch und durch Überlieferung wird bis zu dem Tag dauern, wo der letzte Mensch gestorben ist. Jemand, der etwas stiftet, setzt uneigennützig einen Prozess in Gang, im Falle von Worten einen Bedeutungsprozess. Hölderlins Aussage ist ein trotziger Anspruch, den er gegenüber der davor erwähnten und aller Vergänglichkeit erhebt. Im Kontext seiner Zeit meinte er damit natürlich nicht nur den reinen, strukturalistisch aufgefassten Text an sich, sondern bestenfalls alles, was von Worten in einer Zukunft ausgehen kann, Rezeption, sich wandelnde Interpretation des Inhalts. Mit der Bezeichnung Dichter verband man damals wohl noch mehr als heute einen einzigartig spezifischen Umgang mit Worten, den ein Gebrauchstext im Journalismus oder der Wissenschaft eben nicht leistet, etwas, das nur im Erzählten und der Poesie tradiert werden kann. Heute sehen wir einen Händler mit Worten sachlicher, analytischer, Pathos und Gefühl stehen unter Kitschverdacht. Zur Zeit Hölderlins glaubte man noch an diese Zauberkraft eines Dichters, heute nennen wir das Schriftsteller(in) oder Autor(in). Was mich an Hölderlins Gedichten anspricht, ist diese reimlose, aber einer inneren Stimme im Rhythmus angepasste Versstruktur. Ein Gedicht wächst mehr als jede andere Wortkunst mit seiner entschiedenen Form. Ob Steine und Gärten die richtige Form sind, an einen Dichter zu erinnern oder nur äußerliche, bürgerlich-ästhetische Form, dazu mehr in meiner Antwort zu Rainer Rabowskis Kommentar. Diese Art Kommunikation meinte Hölderlin mit dem Gespräch in Ihrer zitierten Strophe zwar nicht, aber ich habe den Eindruck, dass Sie auch in Ihrem Blog, „des Herzens Meinung“ zu sagen versuchen. Danke dafür und liebe Grüße.
Nur als Fußnote (die auch nichts weiter bedeuten will): Wegen meiner erneuten Beschäftigung mit Pier Paolo Pasolini erkundete ich gestern zufällig noch mal seinen Todesort, den Idroscalo, den Fußball-Platz, auf dem er am 1.11.1975 ermordet wurde.
Man hat den gröbsten Dreck weggeräumt, ihm dort ein kleines Denkmal gesetzt (irgendetwas „Angemessenes“ wäre wohl eh nicht möglich) und ein paar Steine als Texttafeln gesetzt. Das Gelände liegt am nördlichen Rand von Ostia, fast direkt an der Tibermündung, denkbar unscheinbar. Und wird trotzdem immer wieder vandalisiert, die Steine beschmiert, die Sonnenkollektoren für das nächtliche Anstrahlen werden geklaut usw. –
Meine Gedanke eben nur war, wie Dichter sich ihr Angedenken verdienen und ob sie es jeweils verdienen. Über die italische Verrohung kann man sich empören oder nicht (letztlich erscheint sie mir nicht unpassend, ignorant, aber vital, und der visionäre PPP gilt ja noch heute manchen als geistiger Brandsatz). Ich frage mich, ob nicht auch Hölderlin etwas anderes verdient hätte, etwas, wenn schon nicht Inspiriertes, dann Verwirrendes, Kühneres. Und ob, derart wohlfeil, wirklich mehr von ihm bleibt als eine Liebesgeschichte und ein Schulbuch-Ornament.
Jung, bin ich in Köln, obwohl ich es selber albern fand, mal zu dem Haus gegangen, in dem Rolf-Dieter Brinkmann lebte. (Den verwaltet heute auch eine nach ihm benannte „Gesellschaft“.) Die wild beschmierte Hauswand damals war der Punk – sicher nicht nach jedermanns Blick darauf, aber für mich seinerzeit unbedingt poetisch.
Jahre später am Rudolfplatz fiel mir das wieder ein, und ich bin rasch in die Engelbertstraße 65. (Ich konnte mir das immer gut merken, weil ich in meinen Brinkmann-Lesejahren selber in einer Hausnummer 65 gewohnt hatte.) Das Haus hatte den Besitzer gewechselt und die Fassade war gereinigt. (Dafür kam mir die Straße noch verstellter vor mit Geschäften und wild geparkten Autos und dem verklüngelten Alltagsdreck, die Brinkmann sämtlich so inbrünstig gehasst hatte, dass sein Hass als poetische Vitalität überliefert ist – bis heute lebendiger als die ganze Blümchen- und Bauchnabelpoetisiererei.)
Vielleicht sollte man die Dichter selber über ihr Nachleben entscheiden lassen? Aber womöglich gehört ja auch jegliche Enteignung, so oder so, immer zum Werk, und man muss sie als Fortsetzung von dessen Wirkungskräften begreifen.
Jede Art „Andenken“, zumal etwas Monumentales wie ein Denkmal, ist unvollkommen und wird jedweder Lebendigkeit des Künstlers selbst oder der in seinem Werk vorhandenen nicht gerecht werden. Schon gar nicht solchen wie Brinkmann und Pasolini mit ihrer kritischen Aufmüpfigkeit und Anti-Haltung. Das kann man nicht in Stein hauen und man vereinnahmt sie damit in das, wogegen sie antraten. Brinkmann und Pasolini fühlen sich für mich persönlich schon einer fernen Epoche der siebziger Jahre zugehörig, allerdings war ich da auch noch wesentlich revoluzzerhafter als heute. Gerade las ich im alten „Tintenfisch 19.1980“ einen Briefauszug von Brinkmann „Der unbescheidene Einzelne und das solide Mittelmaß„, ein Plädoyer für den Einzelnen gegen die verrohte Masse.
Ich stelle mir gerade vor, man hätte Roberto Bolano ein Denkmal gesetzt, er würde es in die Luft sprengen, wenn nicht wirklich, dann mit Worten.
Ich sehe manch ästhetische Bemühung, auch die in Bad Driburg durchaus kritisch, aber die Einbettung in einen Landschaftsgarten muss ich nicht unbedingt als bürgerlich idyllisch empfinden, vielleicht lese ich daraus nur eine allgemeine Naturverbundenheit oder etwas von der luftigen Schönheit, die auch in den Gedichten Hölderlins selbst zu finden ist. Begehbare Dichterworte fand ich gar keine so schlechte Idee, literarische Stolpersteine. Sicher ist der kurze Kuraufenthalt Hölderlins mit seiner Susette zunächst nur willkommenes Promotionmittel dieser Kurkleinstadt, aber ich will dem Bemühen dort auch etwas Kulturelles auf die Beine zu stellen nicht jedwede gute Absicht aberkennen. Inwieweit sie auch eingelöst wird ist eine andere Frage, immerhin hat man dort 2012 schon ein überregional beachtetes Read-Festival veranstaltet. Ich war nicht dort, aber zwei Videos geben einen Geschmack davon, irgendwie abgefahren und dunkel romantisch, hier und hier. Am Schluss des ersten Films noch so ein kryptischer Satz von Hölderlin aus dem Gedicht „Der Ister„:
Was aber jener tuet, der Strom,
weiß niemand.